Gaza/Tel Aviv. In einem beispiellosen Ausmaß der Zerstörung und des Leidens hat der Krieg gegen Gaza eine Welle der Empörung und des Entsetzens weltweit ausgelöst. Das Ausmaß des Konflikts, mit einer Bilanz von mindestens 32.000 Toten, überwiegend Frauen und Kinder, unterstreicht nicht nur das tragische Leid der betroffenen unschuldigen Zivilbevölkerung, sondern auch die brutale Effizienz einer Kriegsmaschinerie, die offenkundig keine Rücksicht auf das Völkerrecht nimmt.
Berichte und Analysen, insbesondere die jüngste Untersuchung der Investigativeinheit von Al-Dschasira, enthüllen schockierende Details, die Ereignisse und die Rolle Israels kritisch zu hinterfragen. Die Untersuchung der Investigativeinheit von Al-Dschasira zum 7. Oktober zeigt nun ein erschütterndes Bild von Manipulation, Fehlinformation und einer erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid.
Die Tatsache, dass hochrangige Regierungs- und Militärvertreter Israels sowie Verbündete im Westen, einschließlich des US-Präsidenten, sich auf unbestätigte und später widerlegte Berichte stützten, um ihre Maßnahmen zu rechtfertigen, zeigt die Bereitschaft, sich an Narrativen festzuhalten, die die Spirale der Gewalt weiter befeuern.
Zuerst hat die Untersuchung die Gräueltaten beleuchtet, die der Hamas zugeschrieben werden. Richard Sanders, einer der an der Dokumentation beteiligten Filmemacher, teilte der Tageszeitung junge Welt mit, dass sie eine umfangreiche Sammlung an Daten über die Opfer des 7. Oktobers angelegt haben. Gemäß dieser Sammlung kamen an diesem Tag 1.154 Personen ums Leben, darunter Israelis und Bürger anderer Staaten. Unter den Opfern befanden sich 372 Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte und 782 Zivilpersonen. Offiziellen israelischen Angaben zufolge liegt die Anzahl der zivilen Todesopfer bei 695.
Durch die Analyse ihrer Daten konnte die Investigativeinheit von Al-Dschasira mehrere verbreitete Mythen über die Ereignisse am 7. Oktober aufklären. Eine besonders grausige Geschichte, die von Jossi Landau, dem Leiter der religiösen Rettungsorganisation Zaka, verbreitet wurde, betraf eine schwangere Frau im Kibbuz Beeri, deren Bauch aufgeschnitten und deren Baby angeblich erstochen worden sein soll. Landau berichtete dies unter Tränen bei einer Pressekonferenz. Obwohl der Kibbuz diese Darstellung bestritt, hielt Landau gegenüber der Investigativeinheit an seiner Aussage fest. Doch auf dem von Landau präsentierten Foto vom Tatort war kein getötetes Baby zu erkennen, und auch die gesammelten Daten stützten seine Behauptung nicht.
Kurz nach den Anschlägen machte ein Bericht von Nicole Zedeck, einer Reporterin des israelischen Senders I 24 News, international Schlagzeilen. Sie berichtete aus Kfar Aza, wo angeblich „etwa 40 Babys, einige mit abgetrennten Köpfen“, auf Tragen aus dem Gebiet gebracht worden seien – Informationen, die ihr von israelischen Soldaten zugespielt wurden. Diese Berichte verdichteten sich in den Medien schnell zu Geschichten von „40 enthaupteten Babys“, eine Darstellung, die auch von der israelischen Regierung und US-Präsident Joseph Biden übernommen wurde. Biden behauptete sogar, er habe „bestätigte Bilder“ von der Tat gesehen, eine Aussage, die später sowohl vom Weißen Haus als auch von der israelischen Regierung korrigiert wurde; es gab keine solchen Fotos, und die Behauptungen konnten nicht bestätigt werden. Untersuchungen der Investigativeinheit von Al-Dschasira ergaben, dass in Kfar Aza tatsächlich kein Kleinkind zu Tode kam.
In einem weiteren Bericht behauptete Oberst Golan Wach, dass in einem Wohnhaus im Kibbuz Beeri durch Hamas-Kämpfer 15 Menschen, darunter acht Babys, „getötet und verbrannt“ worden seien. Jossi Landau von Zaka beschrieb gegenüber Sky News eine ähnliche Szene, bei der „zwei Gruppen von jeweils zehn Kindern, Rücken an Rücken gefesselt, verbrannt“ wurden, eine Geschichte, die auch von Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Unterredung mit Biden erwähnt wurde. Jedoch offenbarten die Daten von Al-Dschasiras Investigativeinheit, dass bei diesem Vorfall in Beeri keine Kleinkinder ums Leben kamen. Berichte der israelischen Zeitung Haaretz zufolge wurden die Zivilisten, die in dem Haus als Geiseln gehalten wurden, nicht durch Handlungen der Hamas, sondern durch israelische Angriffe getötet, angeordnet von Kommandeur Barak Hiram, der trotz der Gefahr ziviler Opfer den Beschuss des Hauses mit Panzern befahl. Dadurch kamen zwölf der vierzehn Geiseln ums Leben.
Die Zeitung Jediot Acharonot enthüllte im Jänner, dass die israelischen Streitkräfte eine spezielle Ausführung der sogenannten Hannibal-Direktive angewandt haben könnten. Diese inoffizielle Richtlinie, erläutert von dem israelischen Historiker Uri Bar-Joseph gegenüber Al-Dschasira, bevorzugt den Tod eines israelischen Soldaten über dessen Gefangennahme. Berichte deuten darauf hin, dass am 7. Oktober dieses Vorgehen möglicherweise auch auf Zivilistinnen und Zivilisten ausgeweitet wurde. Israelische Drohnen und Kampfhubschrauber sollen auf etwa 70 Fahrzeuge gefeuert haben, die sich auf dem Rückweg nach Gaza befanden und in denen sich ebenfalls Gefangene befanden, mit dem Ergebnis, dass mindestens 27 Geiseln unter nicht näher erläuterten Umständen ums Leben kamen.
Weiterhin berichteten Überlebende im israelischen Fernsehen, dass sie Zielangriffe israelischer Einheiten erlebt hätten. Berichte über Angriffe auf Zivilisten beim „Nova“-Musikfestival durch israelische Kampfhubschrauber wurden ebenfalls bekannt, obwohl die Polizei diese später dementierte. Laut dem Filmemacher Sanders, der mit der Tageszeitung junge Welt sprach, wird die Zahl der Zivilisten, die am 7. Oktober mutmaßlich durch israelische Aktionen getötet wurden, auf „Dutzende“ geschätzt. Die Frage, ob die Hannibal-Direktive in diesen Fällen angewandt wurde, muss Eingang in die öffentliche Debatte finden.
Quelle: junge Welt