Graz. Der Amoklauf an einer Grazer Schule am 11. Juni hat Wunden hinterlassen – in Familien, in Klassenzimmern, in einem ganzen Land. Elf Menschen verloren ihr Leben, viele weitere wurden schwer verletzt. Die Betroffenheit ist verständlicherweise groß. Doch während Angehörige trauern, Kinder mit dem Erlebten ringen und andere versuchen, das Unfassbare greifbar zu machen, läuft die profitgetriebene Maschinerie des Boulevardjournalismus sofort heiß – wie immer, wenn Blut fließt. Denn im Kapitalismus zählt nicht, was berichtet wird, sondern wie gut es sich verkauft.
Noch während Blaulichter die Szenerie dominierten, Leichen abtransportiert wurden und das Motiv unklar war, tauchten die ersten Videos online auf – begleitet von reißerischen Titeln. Medienportale wie Krone.at, Oe24.at, exxpress.at und die rechtsextreme Plattform Auf1 veröffentlichten Aufnahmen, die mutmaßlich von Schülerinnen und Schülern selbst stammen sollen. Die Szenen zeigen panische Flucht, Einsatzkräfte, möglicherweise sogar Verletzte. Unterlegt mit dramatischer Musik, versehen mit Schlagwörtern wie „Horror“, „Terror“, „Schrecken“.
Das ist keine journalistische Aufklärung. Das ist kapitalistischer Clickbait.
Denn jeder Klick bringt Werbeeinnahmen. Jede aufgewühlte Emotion treibt den Traffic nach oben. Jede Panikminute vor dem Screen lässt sich monetarisieren. Boulevardjournalismus im Spätkapitalismus ist nicht dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern der Reichweite, den Zugriffszahlen und Werbeeinnahmen. Kurzum: dem Profit. Und in dieser Logik ist ein Amoklauf vor einer Kamera eine Goldgrube – so widerwärtig das klingt.
Der Markt verlangt Aufmerksamkeit – und das möglichst schnell, möglichst intensiv, möglichst „emotionalisiert“. Dass Kinder, Jugendliche oder betroffene Eltern durch die ungeschützte Veröffentlichung der Videos retraumatisiert werden können? Ein bedauerlicher Nebeneffekt, ein Kollateralschaden. Das ist „Marktlogik“, wie sie im Lehrbuch steht.
Die Medien verkaufen damit keine Aufklärung, sondern einen Nervenkitzel, der an die Stelle des echten Verstehens tritt. Die Angst der Betroffenen wird zur Ware. Die Traumatisierung von Jugendlichen – ein Eyecatcher. Die Tränen von Eltern – nicht mehr als ein Futter für den Algorithmus.
Es geht längst nicht mehr um Aufklärung oder Wahrheit. Es geht um Reichweite. Medienethik? Wird zur Marketingphrase. Journalistische Verantwortung? Nur so lange sie nicht den Traffic hemmt. Doch eine solche Berichterstattung ist kein Versagen – sie ist Symptom. Symptom einer Medienwelt, in der alles der Logik des Profits unterworfen wird. All das ist nicht nur ein ethisches Problem, sondern eine systemische Perversion.
Die Frage ist, wie lange wir noch zuschauen wollen, wie der Journalismus unter dem Preisschild der Verwertbarkeit zerrieben wird. In diesem System ist kein Platz für Menschlichkeit – es sei denn, sie verkauft sich gut. Und dabei zeigt sich einmal mehr: Der Kapitalismus ist nicht neutral. Die Medien erst recht nicht.
Quelle: Der Standard