Eine neue Studie der OECD bestätigt, was viele längst spüren: In den reichen Industrieländern breitet sich Einsamkeit wie eine soziale Epidemie aus. Besonders betroffen sind Jugendliche und alte Menschen. Unter den 16- bis 24-Jährigen sank der Anteil jener, die täglich mit Freunden in Kontakt stehen, zwischen 2015 und 2022 von 44 auf 36 Prozent. Bei den über 65-Jährigen stieg der Anteil, die angaben, sich nie mit Freunden zu treffen, auf über elf Prozent. Die Pandemie habe diesen Trend beschleunigt, sagt die OECD – doch sie hat ihn nicht verursacht. Die Ursachen liegen in der kapitalistischen Gesellschaft selbst.
Vereinzelung als Strukturprinzip
Der Kapitalismus beruht auf Konkurrenz und Vereinzelung. Der Mensch wird zur Ware, seine Zeit wird in Arbeit und Freizeit zerlegt, seine sozialen Beziehungen werden der Logik der Verwertbarkeit untergeordnet. Wer keine „Leistung“ erbringt, wird schnell als „unnütz“ aussortiert – ob Jugendlicher ohne Job oder Pensionistin ohne Kaufkraft.
In dieser Ordnung ist Gemeinschaft kein Zweck, sondern Mittel. Freundschaften und Familienbande stehen unter dem Druck der Arbeitszeiten, der räumlichen Mobilität, der Prekarität. Menschen ziehen der Arbeit hinterher, leben in Einzimmerwohnungen, wechseln den Wohnort oder das Beschäftigungsverhältnis.
Die OECD-Zahlen zeigen, dass besonders junge Menschen ihre sozialen Bindungen verlieren. Sie wachsen in einer Welt auf, in der jeder gegen jeden um Studienplätze, Praktika und Jobs kämpft. Freizeit wird zur Selbstoptimierung, nicht zur Begegnung. Selbst Freundschaft wird zur Konkurrenz – wer erfolgreicher, schöner, produktiver ist, gilt als „wertvoller“. Die permanente Erreichbarkeit über soziale Medien ersetzt keine Nähe, sie produziert im Gegenteil das Gefühl, ständig allein zu sein, während man sich vergleicht und misst. Auch die Alten erleben, was kapitalistische Rationalisierung bedeutet: Wer nicht mehr „produktiv“ ist, wird sozial unsichtbar. Pflege, Betreuung und soziale Teilhabe sind privatisiert oder unterfinanziert.
Pandemie als Brennglas
Die Pandemie hat diesen Trend nicht geschaffen, sondern sichtbar gemacht und verschärft. Sie hat gezeigt, wie dünn das soziale Gewebe geworden ist. Wer keine ökonomische oder familiäre Absicherung hatte, fiel in die Isolation. Der Rückzug ins Private wurde zur „Verantwortung“, während Pflegekräfte überlastet und Jugendliche weggesperrt wurden.
Wider die kapitalistische Kälte
Einsamkeit ist kein individuelles Versagen, keine „psychische Schwäche“, sondern ein kollektives Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse in denen wir leben. Sie zeigt, dass eine Gesellschaft, die alles zur Ware macht – Arbeit, Wohnen, Bildung, Zeit, Beziehungen – ihre menschliche, ihre soziale Grundlage zerstört.
Quelle: ORF