Kurt Tucholsky (1890–1935) schrieb den untenstehenden Text im Jahr 1930 für die Berliner „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“, der damals unter dem Pseudonym Theobald Tiger erschien (AIZ, Ausgabe 17/1930).
„Weißt du noch, Alter, vor dem Kriege?
Wir haben manchen Mai erlebt.
Wir glaubten an die schnellen Siege –
du hast das Streikplakat geklebt…“
– „Ja, Alte, das waren schöne Zeiten…
Wir waren allemal dabei –
Ich seh’ uns noch im Zuge schreiten
am 1. Mai.“
– „Und unser Jüngster war noch klein. Den ließ ich
zu Haus … wir gingen los mit Hans.
Mitunter war’s ja etwas spießig –
so … Kriegerverein mit Kaffeekranz.“
– „Na, lass man – du warst doch die Nettste!
Mir war’s bloß zu viel Dudelei…
Und anno 14 war’s denn auch der letzte –
der 1. Mai.“
– „Kein Wunder. Musst’ mal denken, Alter:
Wer ist uns da voraufmarschiert!
Der Wels als roter Fahnenhalter,
der Löbe, prächtig ausstaffiert…“
– „Ja solche haben glatte Hände…
Für die ist frisch, fromm, frech und frei
der Klassenkampf schon längst zu Ende –
Die und der 1. Mai!
Was wissen die vom Klassenkrieg…!
Die schützen sich vor ihrer eigenen Republik!“
– „Na, lass man, Alter, die Beschwerde.
Ich weiß, dass etwas in uns singt:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!“
– „Wir wissen, Alte, was wir lieben:
den Klassenkampf und die Partei!
Wir sind ja doch die Alten geblieben
am 1. Mai! Am 1. Mai!“
Quelle: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in zehn Bänden, Reinbek bei Hamburg 1975, Bd. 8, S. 125–126