Ein neuer EU-Vorschlag zur Chat-Überwachung sorgt für heftige Kritik: Trotz abgeschaffter Scan-Pflicht sollen private Nachrichten künftig wieder automatisch überprüft werden. Datenschützerinnen und ‑schützer warnen vor Massenüberwachung, Fehlalarmen und dem Ende der Online-Anonymität.
Die Debatte um Chat Control, die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verordnung zur systematischen Überwachung privater Kommunikation, erlebt eine überraschende Wendung. Was viele Datenschützerinnen und Datenschützer bereits als politisch gescheitert betrachteten, ist in einer neuen Fassung unter dänischer Ratspräsidentschaft mit noch weitergehenden Eingriffsmöglichkeiten zurückgekehrt.
Kern des Vorschlags ist die automatische Analyse sämtlicher privater Nachrichteninhalte – nicht mehr nur Anhänge wie Fotos, Videos und Links, sondern auch geschriebene Texte. Betroffen wären alle 450 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger.
Kinderschutz als Begründung
Offiziell soll die Verordnung namens Child Sexual Abuse Regulation (CSAR) den Kampf gegen die rapide steigende Online-Pädophilie verstärken, doch Kritikerinnen und Kritiker halten den Preis dafür für zu hoch: Das EU-Parlament spricht von „Massenüberwachung“ und dem drohenden Ende digitaler Privatsphäre, während Jurist und Ex-Europaabgeordneter Patrick Breyer vor dramatischen Fehlinterpretationen warnt, da Algorithmen nicht zuverlässig zwischen normalen Unterhaltungen, Ironie oder kriminellem „Grooming“ unterscheiden können. Breyer und der Abgeordnete Gaetano Pedullà (Fünf-Sterne-Bewegung) rechnen zudem mit einer Welle falscher Verdächtigungen und massiven Eingriffen in die private Kommunikation unschuldiger Menschen.
Ein reales Beispiel verdeutlicht das Problem: 2022 löste in den USA eine harmlos gemeinte medizinische Rückfrage eines Vaters – ein Foto der Genitalien seines Sohnes an den Kinderarzt – eine polizeiliche Untersuchung aus. Es handelte sich um ein gesundheitliches Problem, doch der Algorithmus wertete das Bild falsch. Breyer verweist zudem auf Daten der deutschen Polizei: Rund 50 Prozent der Meldungen sind strafrechtlich irrelevant.
Der dänische Kompromiss: Abschaffung der Scan-Pflicht – und ihre Rückkehr durch die Hintertür
Schon heute können Plattformen wie Facebook freiwillig Chats nach Hinweisen auf Kindesmissbrauch durchsuchen, basierend auf einer EU-Ausnahmeregelung von 2021, die jährlich verlängert wird – derzeit bis April 2026.
Der neue dänische Vorschlag schien zunächst zu beruhigen: Er sah keine verpflichtende automatische Scannung für Dienste wie WhatsApp, Google, Meta, Signal, Telegram oder Proton vor. Doch laut Breyer handelt es sich um ein „politisches Täuschungsmanöver“.
Grund ist Artikel 4 des neuen Textes: Anbieter müssen „alle geeigneten Maßnahmen zur Risikominderung“ ergreifen – was faktisch wieder die Pflicht zum Nachrichtenscannen bedeutet.
Hinzu kommt:
- Eine verpflichtende Altersverifizierung würde künftig vor der Nutzung jeder Chat- oder E‑Mail-Plattform stehen.
- Nutzerinnen und Nutzer müssten ihren Ausweis vorlegen oder entsprechende Scans akzeptieren.
Pedullà spricht deshalb von der „Abschaffung der Online-Anonymität“, Breyer von einem „Desaster“ für Aktivisten, Journalisten, Dissidenten und Menschen, die auf Anonymität angewiesen sind.
Politische Mehrheiten rücken in Reichweite
Die neue Version der Verordnung wurde am 12. November in der Law Enforcement Working Party beraten und soll am 19. November den EU-Botschaftern im Coreper vorgelegt werden. Nach drei Jahren gescheiterter Verhandlungen könnte nun eine Entscheidung fallen.
Laut Informationen des Magazins Politico signalisiert sogar die BRD Zustimmung zum dänischen Kompromisstext. Damit wäre die erforderliche qualifizierte Mehrheit möglich – die bisherige Sperrminorität könnte fallen.
Quelle: IlFattoQuotidiano

















































































