Aktau. Der Wasserrückgang des Kaspischen Meeres ist längst keine theoretische Zukunftsprognose mehr. Für Bewohnerinnen und Bewohner der westkasachischen Stadt Aktau ist er sichtbare Realität. Was sich dort abzeichnet, ist nicht nur eine ökologische Krise, sondern auch ein Lehrstück über die Wechselwirkungen von globalen Umweltveränderungen und begrenzter demokratischer Kontrolle.
Jüngste Studien, darunter eine im renommierten Fachjournal Nature publizierte Modellierung, prognostizieren bis zum Ende des Jahrhunderts einen Rückgang des Wasserspiegels um bis zu 18 Meter – ein Verlust von rund einem Drittel der Meeresfläche. Bereits ein Rückgang um fünf bis zehn Meter würde bedeutende Ökosysteme wie jene des endemischen Kaspischen Seehunds oder der Störpopulation massiv beeinträchtigen.
Der Ökologe und Umweltaktivist Adilbek Kozybakov, der in Aktau lebt und im beratenden Umweltausschuss des kasachischen Ministeriums für Ökologie tätig ist, formuliert es schlicht: „Wir brauchen keine Studien, um zu wissen, dass das Meer verschwindet. Wir sehen es mit eigenen Augen.“
Umweltveränderung als Symptom struktureller Ungleichgewichte
Die Ursachen für das Schrumpfen des Kaspischen Meeres sind vielfältig, doch nicht allein klimatisch bedingt. Die hydrologische Hauptzufuhr, die Wolga, entspringt in Russland und liefert traditionell über 80 Prozent des Wasservolumens. Ihr Lauf ist durch zahlreiche Staudämme, Industrieentnahmen und landwirtschaftliche Nutzung reguliert. Der Wasserzufluss aus Russland ist damit ein geopolitisches Nadelöhr – ein Umstand, der ökologische Zusammemhänge sichtbar macht, die oft übersehen werden.
Zugleich spielt die industrielle Nutzung des kaspischen Raumes eine zentrale Rolle. Bereits zu Sowjetzeiten wurden entlang der kasachischen Küste Öl- und Gasfelder erschlossen, die heute von transnationalen Konzernen betrieben werden. Der postsozialistische Staat Kasachstan öffnete sich in den 1990er-Jahren, nach der Konterrevolution, gezielt ausländischen Investoren. Die Verträge, oft unter internationalem Privatrecht abgeschlossen, sind bis heute nicht öffentlich einsehbar.
Genau daran setzt die Kritik des Umweltjuristen Vadim Ni an, der im Frühjahr 2025 Klage gegen die kasachische Regierung eingereicht hat. Er beruft sich auf die Aarhus-Konvention, die Informationszugang und Beteiligung der Öffentlichkeit an Umweltfragen garantiert. Ni fordert Transparenz, die Bevölkerung habe ein Recht zu wissen, welche ökologischen Verpflichtungen im Zusammenhang mit diesen Verträgen eingegangen wurden. Seine Klage wurde zwar abgewiesen – mangels formaler Zuständigkeit –, doch er kündigte an, den Fall vor internationale Instanzen zu bringen.
Extraktivismus und Umweltgerechtigkeit
Das Beispiel des Kaspischen Meeres verdeutlicht einmal mehr die strukturelle Spannung zwischen extraktivistischer Wirtschaftsweise und ökologischer Nachhaltigkeit. Die Gewinnung fossiler Rohstoffe – kasachisches Erdöl fließt unter anderem nach Europa – hat massive Folgen für lokale Ökosysteme. Der Stör, einst ein Symbol für den ökologischen Reichtum der Region, ist heute fast vollständig verschwunden.
Hinzu kommt ein neues Kapitel ressourcenpolitischer Interessen: Wasserstoff. Derzeit verhandelt Kasachstan über grenzüberschreitende Projekte zur Erzeugung von grünem Wasserstoff – vor allem für den Export nach Europa. Doch auch hier mehren sich kritische Stimmen, zwar würden Emissionen sinken in Europa, aber die Bevölkerung vor Ort trage die ökologischen Kosten. Die Herstellung von Wasserstoff erfordert große Mengen erneuerbarer Energie und birgt Risiken für Wasserressourcen und regionale Umweltbelastungen.
Widerstand von unten
Trotz dieser Entwicklungen formiert sich Widerstand auf lokaler Ebene. Was sich am Kaspischen Meer abspielt, ist mehr als eine ökologische Tragödie. Es ist ein Brennglas auf die Widersprüche globaler Umweltpolitik, die sich lokal materialisieren – und auf die politische Herausforderung, ökologische Gerechtigkeit nicht nur zu fordern, sondern auch durchzusetzen.
QUelle: Al Jazeera