Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Die 25-jährige Wiener Textilarbeiterin Anna Strömer (geb. 13. Mai 1890 in Wien, gest. 8. März 1966 in Wien) organisierte sich im Dezember 1915 mit Franz Koritschoner (1892–1942) und mit wenigen anderen revolutionär denkenden Menschen als Mitglied eines von der „Zimmerwalder Linken“ beeinflussten „Aktionskomitees der Linksradikalen“. Es war das die Reaktion in Wien auf das von Wladimir I. Lenin (1870–1924) angeprangerte völlige Versagen der sozialdemokratischen Kader im Kampf gegen den für den kriegerischen Massenmord verantwortlichen Imperialismus. Ihre emotionale Ablehnung der Tötung von Leben war literarisch, wissenschaftlich begleitet von Selbststudium im Rahmen des Wiener Vereins „Karl Marx“, zu dessen prominenten Mitglieder Friedrich Adler (1879–1969) gehört hat. Aus Protest gegen die Vorfälle bei der Ausrufung der Republik (12. November 1918) und die Verhaftungen der Kommunisten erklärten am 7. Dezember 1918 die Mitglieder dieses Aktionskomitees unter Führung von Franz Koritschoner, der Lenin persönlich kennengelernt hat, und von Anna Strömer ihren Beitritt zu der am 3. November 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschösterreichs.[1]
Von Beginn an kämpfte Anna Strömer mit und in der Kommunistischen Bewegung für die allseitige Befreiung der Frau aus den überlieferten feudalen, kapitalistischen und religiösen Ketten.
Die erste Internationale Frauenkonferenz
Auf der ersten internationalen Konferenz kommunistischer Frauen in Moskau vom 30. Juli bis 1. August 1920 war Anna Strömer österreichische Delegierte und hielt als solche bei deren Eröffnung eine Rede. Teilgenommen haben Frauendelegierte aus 16 Ländern, zur Leiterin des internationalen Frauensekretariats war Clara Zetkin (1857–1930) gewählt worden. Clara Zetkin hat sich mit Lenin, für den der Grundsatz der Gleichberechtigung der Frauen ein außerhalb der Diskussion stehender kommunistischer Grundsatz war, wiederholt über die Frauenfrage ausgetauscht.[2] Anna Strömer erstattete auf der ersten Frauenreichskonferenz der KPÖ am 22. Jänner 1921 Bericht über die erste Moskauer Frauenkonferenz und war für die Herausgabe eines vierseitigen Werbeheftes „Was wir den arbeitenden Frauen zu sagen haben“ mit verantwortlich.[3]
Anna Strömer, die 1922 den gleichgesinnten kämpferischen Kommunisten Leopold Hornik (1900–1976) ehelichte, redigierte seit 1923 „Die Arbeiterin. Organ für die Interessen der werktätigen Frauen in Oesterreich“. 1938 musste sie vor der politischen Verfolgung nach England flüchten.[4] In London war Anna Strömer im Young Austria für die Vorbereitung der Befreiung Österreichs von den deutschen Besatzern tätig und hat 1942 für die britischen Freunde Österreichs die Geschichte dieses „wunderschönen Landes“ 1942 eine kleine Broschüre verfasst.[5]
Zweite Internationale Frauenkonferenz
Am 7. Mai 1921 wurde Anna Strömer von der österreichischen Frauenkonferenz zur Frauendelegierten für die 2. Internationale Frauenkonferenz in Moskau gewählt, die am 6. Juni 1921 mit Alexandra Kollontai (1872–1952) als Vorsitzende eröffnet wurde. Ihre dabei gewonnenen Eindrücke von den Frauen aus den zentralasiatischen Ländern der Sowjetunion haben Anna Strömer darin bestärkt, dass ihr Weg, der der Weg der Kommunistischen Frauen war, der richtige ist. Die konkreten Probleme der Frauen in der kleinen Republik Österreich waren andere als jene der Frauen in Kirgisien oder Kasachstan, aber gemeinsam war ihnen der Kampf um die Gleichberechtigung in der Gesellschaft.
Natürlich konnten nicht alle Frauen in der riesigen Sowjetunion per Sowjetdekret von den patriarchalischen Traditionen der Nomadenvölker befreit werden. Der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow (1928–2008) erzählt wunderschöne Geschichten von der zur Zukunft sich wendenden Tradition seiner kirgisischen Heimat. Für Louis Aragon (1897–1982) hat Tschingis Aitmatow mit „Dshamilja“ einer der weltweit schönsten Liebesgeschichten geschrieben, „in der Mann und Frau sich erkennen und das Kind dunkel das Licht ahnt“.[6]
Jahrzehnte nach Anna Strömer sind in der Mitte der 1970er Jahre der aus Harlem stammenden afroamerikanischen Aktivistin Audre Lorde (1934–1992) auf ihrer Reise in der Sowjetunion Frauen aus dem usbekischen Samarkand und anderen zentralasiatischen Städten und Gebieten begegnet. Viele von diesen waren ohne Männer, weil das Blutopfer der Roten Armee zur Befreiung von den deutschen Mordbrigaden noch nicht Geschichte war. Audre Lorde schreibt: „Alle Frauen, denen ich auf meiner Reise begegnet bin, haben eine große Sicherheit ausgestrahlt, sie waren sich ihrer weiblichen Macht bewusst, ihres Einflusses als Produzentinnen und Menschen – eine sehr ermutigende Eigenschaft“.[7]
Anhang:
Der Weg zur Höhe
Anna Hornik in Stimme der Frau, November 1953
Es war zur Zeit der zweiten internationalen Frauenkonferenz in Moskau im Jahre 1921. Der große, helle Saal war dichtbesetzt: neben Frauen aus allen Ländern saßen russische Arbeiterinnen, Bäuerinnen, Intellektuelle. Auch Männer nahmen an der Konferenz teil.
Plötzlich entstand eine Bewegung am Eingang des Saales. Die Vorsitzende, Alexandra Kollontai, die spätere sowjetische Gesandte in Schweden, erhob sich und verkündete stolz lächelnd: „Die Frauen aus dem Osten sind gekommen.“
Wir alle standen von den Sitzen auf und sahen den Frauen entgegen. Und da kamen sie aus dem dunklen Hintergrund in das helle Licht des Saales: ein Zug langsam dahinschreitender Gestalten, die sich unbeholfen fortbewegten. Fast alle waren in dunkle, sackartige Kleider gehüllt und ein langer, schwarzer, dichter Rosshaarschleier hing ihnen vom Kopf bis zu den Füssen herunter und hinderte sie am Gehen und Sehen. Und wie dieser Zug so langsam einherschritt, aus dem Dunkel in die Helle des Saales, war es, als ob alle diese Frauen aus einer Gruft kämen, als ob sie dem Grabe entstiegen wären und nun langsam den Weg ins Leben zurückfänden. Der Eindruck dieses Zuges verhüllter Gestalten war erschütternd. Alle Anwesenden waren tief aufgewühlt. Einige Frauen bekamen Weinkrämpfe, einige schrien laut und entsetzt auf. Mir selbst rannen unaufhaltsam die Tränen herunter. Waren diese Geschöpfe, die man so entwürdigend hinter den Schleier zwang, Frauen wie wir, mit einem eigenen Willen, einem eigenen Leben?
Sie hatten alle eine weite Reise hinter sich, die Frauen aus Usbekistan, Kasachstan, aus dem märchenhaften Samarkand, aus Buchara und all den anderen Oststaaten der großen Sowjetrepublik. Sie wurden zur Tribüne geleitet, auf der sie Aufstellung nahmen. Und nun sahen wir den Unterschied zwischen den Frauen des Ostens und den Frauen des Westens in seiner ganzen Grausamkeit: Unbeweglich wie eine schwarze Mauer standen diese Frauen oben, die Vertreterinnen von Frauen aus einer anderen, einer unterdrückten Welt. Eine der Frauen trat ans Rednerpult, um in ihrer Sprache ein paar Begrüßungsworte an die Versammelten zu richten. Sie schlug auch jetzt nicht den Schleier zurück, waren doch Männer im Saale. Und hinter dem dichten Schleier kamen die gutturalen Laute der fremden Sprache wie das verzweifelte Weinen eines Tieres an unser Ohr. …
Später hörten wir, dass es einigen dieser Frauen bei ihrer Rückkehr sehr schlimm ergangen ist. Die Ehemänner haben sie, aufgestachelt von den Mullas (den Geistlichen) ermordet und ihre Köpfe zum abschreckenden Beispiel auf die Gartenzäune gesteckt.
Trotz dieser Grausamkeiten nahmen die Frauen des Ostens den Kampf um ihre Befreiung auf. Und die Sowjetmacht unterstützte sie dabei. Sie half ihnen nicht nur in ihrem Kampf gegen die verhetzten Männer, sie half ihnen auch wirtschaftlich, um sie so vom Manne unabhängig zu machen. Sie gab ihnen Wolle zur Gründung von Teppichknüpferei-Genossenschaften und so – einmal wirtschaftlich unabhängig – fanden die Frauen sehr bald den Weg zu ihrer vollständigen Befreiung. Sie legten den Schleier ab, besuchten Versammlungen, Kurse, Schulen und heute sind die Frauen des Ostens in der Sowjetunion wirklich frei und die treuesten Anhänger der Sowjetmacht. Denn diese hat sie herausgeführt aus ihrer Versklavung und sie zu Menschen gemacht, die sich ihrer Kraft und ihres Wertes bewusst sind.
[Zu diesem Text separat in kursiv die Sätze]:
Hätte Großmutter, die noch als kirgisische Nomadenfrau im Zelt hause, sich jemals gedacht, daß Tochter und Enkelkind gebildete Menschen sein werden, denen alle Wege offenstehen?
In Kasachstan wurden mehr als 20 000 Frauen in die Ortssowjets (Gemeinderäte) gewählt. 149 Frauen sind Abgeordnete des Obersten Sowjets der Republik und 13 Abgeordnete de Obersten Sowjets der UdSSR.
In Tadshikistan, wo früher von 1000 Einwohnern nur fünf lesen und schreiben konnten, sind jetzt über 4000 Frauen als Lehrerinnen, 1140 als Ärztinnen und zirka 800 als Ingenieure und Techniker tätig.
[1] Vgl. Hans Hautmann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. Europaverlag Wien / Zürich 1987, bes. S. 140 (Ströhmer).
[2] Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Ausgewählte Schriften. Band III. Dietz Verlag Berlin 1960, S. 129–159.
[3] Herausgegeben von der Zentralstelle für Frauenpropaganda der K. P. Ö. Verlag der Arbeiter-Buchhandlung Wien, 8. Bezirk, Alserstraße Nr. 69.
[4] Irma Schwager: Anna Hornik-Ströhmer: AKG 4_06.qxd (klahrgesellschaft.at); Hornik Anna – biografiA (sabiado.at)
[5] Anna Hornik. Translated by W. J. Piotrowsky: This is Austria. The Story of a Beautiful Country. London Austria Center 1942. 26 S. (Sammlung Josefsplatz der ÖNB).
[6] Tschingis Aitmatow; Dshamilja. Erzählung. Mit einem Vorwort von Louis Aragon. Hier zitiert nach Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1975, S. 20.
[7] Audre Lorde: Sister Outsider. Essays. Aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft. Mit Nachworten von Marion Kraft und Nikita Dhawan. btb Taschenbuch München 2023, S. 226 f.