Während seiner Teilnahme an einer antifaschistischen Protestdemonstration am 31. März 1965 wurde der 67-jährige Kommunist Ernst Kirchweger von einem bereits amtsbekannten Neonazi niedergeschlagen. Er starb zwei Tage später, am 2. April 1965 an seinen schweren Verletzungen. Kirchweger war das erste Opfer eines politischen Mordes in der zweiten Republik.
Was war vor dem 31. März 1965 passiert? An der Hochschule für Welthandel (der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) trieb ein Professor namens Taras Borodajkewycz sein Unwesen. Er war in der NS-Zeit ein glühender Nazi-Anhänger und lehrte erst als Dozent an der Universität Wien und später als Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der (deutschen) Universität Prag. Nach 1945 wurde Borodajkewycz als „minderbelasteter“ Altnazi eingestuft, was ihm später ermöglichte als Professor an einer Wiener Hochschule tätig zu sein. Er machte in seinen Vorlesungen aus seiner faschistischen und antisemitischen Gesinnung kein Hehl, was ab 1962 immer wieder zu Protesten sozialistischer und kommunistischer Antifaschist:innen führte.
Am 23. März 1965 hielt der umstrittene Professor im Auditorium Maximum der Hochschule eine Pressekonferenz ab, wo er von seinen grölenden Nazi-Anhängern unter den Student:innen gefeiert wurde. Da der ORF die neuerlichen antisemitischen Ausfälle von Borodajkewycz im Fernsehen dokumentierte, erreichte die Protestwelle gegen den alten Nazi ihren Höhepunkt. Nach einer ersten studentischen Protesten am 29. März fand am 31. März eine Kundgebung statt, an der 5.000 Menschen teilnahmen.
Als der Demonstrationszug an der Kreuzung von Philharmonikerstraße und Kärntnerstraße von den rechtsradikalen „Gegendemonstranten“ angegriffen wurde, rief Ernst Kirchweger – laut Berichten von Augenzeugen – „Man muss doch mit diesen jungen Menschen diskutieren“ und ging auf eine Gruppe von Gegendemonstranten zu. Er kam nicht weit: Der stadtbekannte Rechtsextreme Günther Kümel (Mitglied einer „schlagenden“ Studentenverbindung) stürzte sich auf ihn und schlug ihn nieder. Kirchweger schlug mit dem Kopf auf dem Pflaster auf. Es dauerte lange, bis die Rettung zu ihm
vordringen konnte.
Kirchweger brach auf Stelle zusammen. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.
Sein Sarg wurde am 8. April 1965 in einem großen Schweigemarsch über die Ringstraße gefahren. An der Spitze des Trauermarsches nahmen neben der Parteiführung der KPÖ auch sämtliche Regierungsmitglieder der SPÖ, die Mitglieder des Wiener Stadtsenats und des ÖGB-Präsidiums mit Anton Benya an der Spitze, einige Vertreter der ÖVP und der damalige Wiener Bürgermeister, Präsidentschaftskandidat der SPÖ und spätere Bundespräsident Franz Jonas teil.
Wer war Ernst Kirchweger?
Er wurde am 12. Jänner 1898 in Wien in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren. Nach einer Drogistenlehre und Mitgliedschaft bei den Kinderfreunden trat er im Jahr 1916 – inmitten des ersten Weltkrieges – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei. Im selben Jahr landete er im Kriegsdienst bei der Marine und erlebte 1918 den Aufstand der Matrosen von Cattaro mit. 1918 kehrte er aus italienischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Wien. Als im März 1919 in Budapest die Ungarische Räterepublik ausgerufen wurde schloss sich Ernst Kirchweger den Freiwilligen an, die nach Ungarn aufbrachen um als Internationalist in der neugeschaffenen Roten Armee mitzukämpfen. 1919 kehrte er nach der Niederschlagung der Räterepublik abermals zurück nach Wien. Er hatte in der Folge Anstellungen in der Konsumgenossenschaft und im österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen. von 1925 bis 1937 war Kirchweger als Schaffner bei den Wiener Straßenbahnen tätig. Bis zur Machtergreifung der Austrofaschisten im Jahr 1934 und darüber hinaus in der illegalen Arbeit war er gewerkschaftlich sehr aktiv. Poliitisch betätigte er sich unter anderem auch im republikanischen Schutzbund. Nach der Niederlage der österreichischen Sozialdemokratie im Februar 1934 schloss sich Kirchweger – wie viele junge Sozialisten und Schutzbündler – der illegalen Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) an, deren Mitglied er bis zu seinem Tod blieb.
Von 1937 bis 1963 war Ernst Kirchweger Angestellter des Compass-Verlages. Dort war er ab 1938 als Prokurist tätig. Die Gestapo hatte ihn unter Beobachtung, er wurde jedoch nicht verhaftet. Kirchweger gehörte Wiener Strukturen des kommunistischen Widerstands gegen die NS-Herrschaft an und war sofort nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee in den Neuaufbau einer antifaschistischen Stadtverwaltung integriert. Er unterstützte gemeinsam mit seiner Frau Anna, die auch der KPÖ angehörte, das von von kommunistischen Schauspielern im Jahr 1948 gegründete Neue Theater in der Scala. Er war zweiter Vizepräsident der Theaterfreunde, einer Publikumsorganisation, deren Ziel die Gewinnung neuer Besucher:innen für das fortschrittliche Theater war.
Im Oktober 1965 wurde Günther Kümel wegen Notwehrüberschreitung zu nur zehn Monaten Arrest verurteilt. Taras Borodajkewycz wurde im Mai 1966 vom Senat der Hochschule zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević (ÖVP), ebenso wie Bundeskanzler Julius Raab, ein Duz-Freund von Borodajkewycz, hatte zuvor dessen Abberufung mit Hinweis auf die Hochschulautonomie verweigert. In ein ähnliches Horn hatte bereits der damalige ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm unmittelbar nach Kirchwegers Tod gestoßen, als er forderte, dass die „traurigen Vorfälle“ nicht „zur Munition für die KP-Propaganda gegen die Demokratie inÖsterreich“ werden dürften. Der Totschläger Kümel lebt heute nach Recherchen antifaschistisch gesinnter Journalisten unbehelligt als Pensionist im Rhein-Main-Gebiet und betätigt sich in der rechtsextremen Szene als eifriger Autor, Leserbriefschreiber und Vortragender. Er nennt sich seit geraumer Zeit Gunther statt Günther.
Kirchweger, nach dem seit 1989 ein Gemeindebau im zehnten Wiener Gemeindebezirk benannt ist, war Zeit seines Lebens ein überzeugter Sozialist und Kommunist. Er war ein zuverlässiger Kampfgenosse, der an vielen Knotenpunkten der Geschichte immer auf der richtigen Seite, der der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei stand. Ehre seinem Angedenken!
Quellen: Alfred Klahr Gesellschaft/lotta-Magazin/DÖW