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Sozialistische Arbeiterbewegungsgeschichte in Arnold Zweigs Romanen über den Imperialistischen Krieg – Erster Teil

Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck

Arnold Zweigs Romanzyklus über den Imperialistischen Weltkrieg (1914–1918) entstand über einen Zeitraum von 30 Jahren, beginnend unter den Bedingungen der Weimarer Republik nach der Niederlage der deutschen sozialistischen Revolution im Oktober 1923, über die Flucht vor dem Nazismus 1933, bis hin zum Exil in Palästina und der Rückkehr nach Deutschland, in die Deutsche Demokratische Republik 1948.

In zeitgeschichtlicher Chronologie geordnet behandelt Arnold Zweig in 

  • „Die Zeit ist reif“ (Erstausgabe 1957) die Entwicklung der nachdenklichen Intelligenz bis hin zum Krieg 1914, die ersten Kontakte der Hauptfigur Werner Bertin, eines jungen aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Referendars und Schriftstellers, zur Arbeiterbewegung beschreibend.
  • Daran schließt der 1931 erschienene Roman „Junge Frau von 1914“ an, der die Monate der Kriegseuphorie und der Ernüchterung angesichts des brutalen Kriegsalltags schildert,
  • gefolgt vom heute wohl bekanntesten Zyklus-Teil, der 1935 bereits im Exil in Amsterdam erschienenen „Erziehung vor Verdun“, der den Schippersoldaten Werner Bertin in Kontakt zu Arbeitersoldaten und deren sozialistischer Kriegsopposition zeigt.
  • Hieran schließt in der geschichtlichen Chronologie der eigentliche Erfolgsroman an, der in der Antikriegsliteratur im Hinblick auf das Echo an Remarques „Im Westen nichts Neues“ heranreichende „Streit um den Sergeanten Grischa“, vom Erscheinungszeitpunkt 1927 der erste Teil – unter anderem auch die russische Revolution vom Feber/März 1917 aus dem Blick der jungen jüdischen Intelligenz in ostpolnischen und litauischen Städten darstellend.
  • „Die Feuerpause“ [Berlin 1954] zeigt die Friedenshoffnung seit dem Sommer 1917, die russische Revolution, die sich 1917 abzeichnenden sozialrevolutionären Unruhen, so den Marineaufstand in Kiel und Wilhelmshaven im August 1917 angeführt von den dann hingerichteten Matrosen Albin Köbis oder Max Reichpietsch.
  • Der 1936/37 beendete Roman „Einsetzung eines Königs“ zeigt den Imperialismus der Deutschen im Osten im Frühjahr 1918 zwischen grotesker Posse um die Beförderung eines lächerlichen deutschen Winkel-Adeligen auf einen litauischen Königsthron und brutaler Ausbeutung, im Hintergrund stets die Hoffnung auf einen sowjetischen Frieden, auf die inhaftierten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Die Folgen des imperialistischen Kriegs, Revolution, NS-Faschismus und Widerstand gestaltete Arnold Zweig gesondert in

  • „Das Beil von Wandsbek“ (1943/1947), einem Roman, der an den „Blutsonntag von Altona“ 1932 anknüpft, um von dort aus nicht nur die politische Welt des Hamburger Bürgertums, sondern auch den sozialistischen und kommunistischen Kampf gegen den NS-Faschismus darzustellen,

und in

  • „Traum ist teuer“ (Berlin 1962), einem Spätwerk, das an den Widerstand der jüdischen Linken gegen den Nazismus im Nahen Osten, sowie an jenen der griechischen Partisanenkommunisten erinnert.

Georg Lukács billigte 1939 Arnold Zweigs Romanen enorme „Bedeutung für die Literatur der Volksfront“ zu. Sie entsprachen auch Lukács‘ Vorstellungen vom sozialistisch realistischen Paradigma. Zweig stellt – so Lukács – „eine wirkliche Totalität vom Hinterland bis zu den Schützengräben, von den Stäben des Oberkommandos bis zur Mannschaft und zur Zivilbevölkerung“ dar: „Arnold Zweigs Romane schaffen ein solches Gesamtbild. Wir erleben mit den Gestalten dieser Romane die ursprüngliche Begeisterung der deutschen Volksmassen für den Krieg, wir erleben aber auch – und zwar mit wachsender Intensität – die Kehrseite, die notwendige Enttäuschung, die auf sie folgte.“

Zweig reicht nach Lukács an Maxim Gorki heran: „Lenin verlangt vom propagandistischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg die Schilderung und Analyse dessen, was während des Krieges wirklich geschehen ist, die Entlarvung jener, die behaupten, das zu wissen oder die sich so stellen, als ob sie es wüssten. Das Geheimnis des Kriegsausbruchs, die Hilflosigkeit der Arbeiterorganisationen gegenüber seinem Ausbruch, die Unfähigkeit der Mehrzahl der Einberufenen, die Fragen des Krieges unvoreingenommen, mit klarem Kopf zu beurteilen, verlangt eine klare, konkrete und nüchterne Aufrollung dessen, was die Wirklichkeit der Kriege ausgemacht hat.“ (Lukács 1939, 278, 281f.)

Zweig zeigt, dass die Kriegsverhältnisse nichts anderes sind als die verschärfte Reproduktion der wilhelminischen Klassenverhältnisse: „Es entsteht dabei oben eine Gesamtheit aus Brutalität, Verbrechen, Leichtsinn, Strebertum, Hochnäsigkeit, Schlauheit, Korruption und Kompromissen, deren Grundlinie dahin zusammengefasst werden kann, dass sie die Potenz aller volksfeindlichen Gebrechen des Wilhelminischen Friedensregimes ist.“ (Lukács 1939, 288)

In seinem Aufsatz „Es geht um den Realismus“ präzisiert Lukács 1938 seine Einschätzung dahin, dass Zweig „den Zusammenhang von Krieg und Hinterland, die soziale und individuelle Fortsetzung und Steigerung der ’normalen’ kapitalistischen Bestialität im Kriege so gestaltet, dass er dadurch eine ganze Reihe der wesentlichen Momente des neuen Krieges vorwegnahm“. (Lukács 1938, 216)

Zweig, der den Krieg also im Clausewitz’schen Sinn als Fortsetzung von Politik und Zivilleben darstellt, zeichnet „die Perspektive des Übergangs in den Frieden, die Auflehnung des deutschen Volkes gegen seine imperialistischen Tyrannen“. Der Krieg ist nur die Fortsetzung der preußischen Repression: „Oben soll eine Schicht von großen und kleinen Tyrannen entstehen: Selbstherrscher nach unten, Speichellecker nach oben …“ Die Kriegsverhältnisse spiegeln die Verhältnisse der kapitalistischen Lohnarbeit, der Fabrikschinderei, wider.

Zweigs Realismus zeigt nach Lukács, dass „innerhalb der strammstehenden Fronten ein ununterbrochener Guerillakrieg zwischen Oben und Unten vor sich“ geht: „Denn solange der Militärapparat trotz seiner klassenmäßig notwendigen Widermenschlichkeit das ausführende Organ der irregeführten und irregegangenen Volksbegeisterung des Kriegsanfangs war, ist der Inhalt dieses Guerillakampfes nur die Erleichterung des alltäglichen Lebens (Kost, Urlaub usw.). Die Enttäuschungen des Volkes im Laufe des Kriegs bringen rings um den Apparat eine immer stärker fühlbare Atmosphäre der Isolierung hervor. Die Verteidigung der menschlichen Existenz und der Menschenwürde gegen die Vorgesetzten erhält immer deutlicher einen Antikriegsakzent.“ (Lukács 1939, 291)

Die Formen des Widerstands sind teils verdeckt, teils widersprüchlich (etwa in Richtung Herstellung einer so genannten „ehrlich reinen“ Kriegsgesinnung), also teils sogar rückschrittlich, und teils ganz offen, so bei den linken Arbeiter-„Nebenfiguren“. Zweig zeigt für Lukács die zahllos nuancierten Übergänge von reaktionären zu skeptischen, zynischen Offizieren, zu sich partiell fortschrittlich, pazifistisch entwickelnden Militärangehörigen, also den Weg der langsamen „Erziehung“: „Hier hat Zweig einen schweren Kampf gegen seine eigenen Wünsche und Träume führen müssen, und dass er in sich die verständliche Sehnsucht, den Widerstand gegen den Krieg beschleunigt zu sehen, so erfolgreich bekämpft hat und nur die Wirklichkeit selbst in ihrer harten und oft desillusionierenden Sprache zu Wort kommen ließ, ist in dieser Art auch ein ‚Sieg des Realismus’.“ Es zeichnet Zweigs Darstellung aus, dass er sich nicht zu einem plakativen Optimismus hinreißen lässt: „Die Langsamkeit der Entwicklung bezieht sich auf den Widerstand. Die Enttäuschung am Krieg, das Verflattern der Kriegsbegeisterung erfolgt mitunter sehr rasch. Aber von hier bis zu einer einigermaßen deutlichen Bewusstheit ist ein langer und schwerer Weg.“ (Lukács 1939, 292f.)

Bertolt Brecht, im „Realismus“-Streit Ende der 1930er Jahre Gegner von Georg Lukács, hatte Ende der 1920er Jahre Arnold Zweigs Darstellung des „rührenden Schicksals des in den Apparat geratenen russischen Sergeanten Grischa“ abgelehnt: „Ich halte es nicht für der Mühe wert, die Gefühle und Stimmungen eines zum Tod Verurteilten kennenzulernen.“ Zweig gerät nach Brecht hierdurch in die Falle bürgerlichen „Mitgefühls“ und auf das Niveau bürgerlicher „Gerechtigkeit“: „Dieses Buch beweist, dass beinahe nichts der Zertrümmerung des bourgeoisen Staatsapparats mehr im Wege steht als die bourgeoise Gerechtigkeit. Siehe Fall Sacco-Vanzetti. Gerade diese bourgeoise ‚Menschlichkeit’ ermöglicht jene Zustände, in denen wir leben.“ So ist es nach Brecht kein Zufall, dass bei Zweig nur die Figuren der offenen militaristischen Reaktion, wie jene des Generals Schieffenzahn (=Ludendorff) stark gezeichnet sind.

In „Erziehung von Verdun“ hingegen sah Brecht, der Zweig trotz unterschiedlicher Poetik-Auffassungen verbunden war, aber gleich Lukács den gelungenen Versuch, den Krieg als Klassenkrieg, als inneren Klassenkampf darzustellen. So merkt Brecht 1952 mit Blick auf „Erziehung vor Verdun“ an, dass Zweig „den Klassenkampf im Schützengraben des ersten Weltkriegs schildert“.

Ein Ensemble reaktionär korrupter Militärfiguren

Auf allen Ebenen des Offizierkorps tauchen unzählige brutale Kriegshetzer auf, die „Schieffenzahns“, die „Janschs“, die „Niggls“. Viele von ihnen sind als räuberische Kriegsgewinnler zugleich „Drückeberger“. Die zivile Klassenspaltung durchzieht auch das Heer in allen Bereichen von der Versorgung über Urlaubsgenehmigungen bis hin zur Lazarettversorgung. Die Arbeitersoldaten schuften und hungern so wie ihre Frauen und Kinder im Hinterland.

Da gibt es auf der obersten Ebene die Ludendorff-Figur des Generalquartiermeister Albert Schieffenzahn, der die Macht des deutschen Imperialismus (im Osten) nachhaltig sichern will. Er verfolgt nicht nur die Interessen der feudalen Junker, der adeligen Großgrundbesitzer, der preußischen Aristokratie. Er ist auch mit dem rheinischen Großkapital verbunden. So empfängt er den Ruhr-Industriekapitän Albin Schilles, eine Figur nach Krupp. Schilles will die französischen Rohstoffzentren an sich reißen: „Danach, zwölf Uhr, empfing Schieffenzahn zu langer Unterredung den Abgeordneten Schilles, Ruhrrevier. Dieser Politiker (…) war freilich zu gleicher Zeit der größte Industrielle des Kontinents, Kohlenherr, Erzherr, Schiffsherr, Führer im Kampfe um die Annexion lothringischer Erze und nordfranzösischer Hütten.“

Der reaktionäre Magnat der Schwerindustrie Albin Schilles, der auf eine vom Kapital gestützte militärdiktatorische Monarchie orientiert, sieht den Krieg nur vom Profitstandpunkt, vom „Währungsfall“ der deutschen Mark, wo jede Friedenshoffnung auf den Börsen neutraler Länder – etwa in Zürich – die Kurse nach oben schießen ließ, deutsche Siege, „Siege wohlgemerkt“, die Kurse und den Währungswert sinken ließen. Mit jüdischen, polnischen litauischen Zwangsarbeitern „sparte er außerdem noch gut ein Drittel der Löhne“ ein, während „Kanonen, Granaten, Schienen, Ausrüstungsgegenstände, Waggons, in Gold oder Schweizer Franken veranschlagt, hundertachtzig Prozent über den normalen und zugegebenen Gewinn abwarfen“. (Grischa 209f.)

Schieffenzahn vertritt die Kriegsmaschinerie auf der Höhe des kapitalistischen Zeitalters. Er hält nichts von jenen aristokratischen Generälen, die, wie der 70jährige Divisionskommandant Otto von Lychow, den Krieg im aristokratischen Stil der idealisiert antinapoleonischen „Befreiungskriege“ führen und damit in sentimental überholter Weise so etwas wie „Preußens Glorie“ sichern wollen. Lychow – von Kurt Tucholsky in einer Grischa-Rezension als „geborener Fontane“ charakterisiert – wird von Schieffenzahn als „Soldatenpapa“, als alter preußischer Adel, der sich nicht zufällig vor 1866/70 gegen Bismarck auf die falsche Seite gestellt hatte, belächelt. (Grischa 324, 331)

Dabei steht Schieffenzahn selbst völlig in preußischer Kastentradition. Er weiß aber, dass alle diese Lychows mit ihren Illusionen vom friderizianischen Preußen von der Geschichte überholt sind, da man die Interessen der ostelbischen Junker nur mehr im Verbund mit den kapitalistischen Profitmachern sichern kann.

Schieffenzahn plant mit seinem Stab ab 1915/16 die brachiale Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem von den Deutschen unterdrückten Osten Europas. Schieffenzahn informiert hierüber eine Delegation um den nationalliberal kriegspatriotischen, jüdischen Bankier Hugo Wahl, der bei Kriegsbeginn wegen profitabler Geschäfte stolz auf den Kontakt zu höchsten Generalstabskreisen war, nun aber schockiert von dieser Brutalisierung der Kriegsführung erfährt. Die Ostjuden – soweit sie sich nicht zur Zwangsarbeit eignen – sollten als eine Masse zur Last fallender Esser in erbeuteten Schiffskähnen in das – so zynisch und barbarisch – „freie Amerika“ zu ihren dortigen „Glaubensgenossen“ abgeschoben werden. Hugo Wahl und andere Verhandlungspartner erblassen: „ … ob nicht jetzt Wintersende, Frühlingsanfang, die Seefahrt für Frauen, Greise, Kinder bedenklich sei. (…) Lagen nicht in der Bucht von Libau und anderswo Minensperren?“ (Junge Frau 185–188)

Der Offizierskaste, die den deutschen Imperialismus nach außen, den Militarismus nach innen verkörpert, gehören zumeist korrupt „alldeutsche“ Annexionisten, Schwätzer vom „Siegfrieden“ an, so die Figur des Major Jansch oder jene des Hauptmanns Niggl. Das ganze Offizierskorps, welcher Ranghöhe immer, profitiert unmittelbar vom Krieg: „An Einkünften bezogen sie im Frieden ein Monatsgehalt von etwa dreihundert Mark. Jetzt aber legte ihnen, solange der Krieg auch dauerte, der Zahlmeister jeden Ersten das Dreifache auf den Tisch, abgesehen davon, dass sie Essen, Trinken und Rauchen herzlich wenig, das Wohnen und Briefschreiben gar nichts kostete. Dabei kann man bestehen, nicht wahr? Und genau so geht es Hunderten von Herren in Crépion, Vavrille, Romagne, Chaumont, in Jamez und Vitarville, überall, wo die Welt besetzt ist. Infolgedessen kann ihnen der Krieg nicht lange genug dauern, trotz häufigen Gähnens, Leerlaufs, ermüdender Kleinarbeit.“

Die gemeinen Soldaten, zuvor im Zivil die Lohnsklaven der Fabriken, müssen hingegen als knapp gehaltene „Heloten“, als „Fabrikarbeiter der Zerstörung“ für „53 Pfennig täglich“ die Erzlager von Briey und Longwy erobern. (EV 51f., 129, 162)

Der antisemitische, die sozialistische Arbeiterbewegung hassende Etappenoffizier Jansch, Kommandant eines Armierungsbataillons vor Verdun, phantasiert ein „deutsches Europa“ herbei. Jansch arbeitet schon an der Umbenennung französischer Ortnamen, aus „Nancy“ soll „Nanzig“ werden. Jansch, der Schriften über Dante, Raffael oder Michelangelo als „Germanen“, über „Jesus als Arier“ liest, fordert „Nordfrankreich bis an den Kanal“ für Deutschland, spintisiert vom „Recht des Siegerschwertes“, von „großen Taten“, von „Treitschke und Wotan“ oder vom „Germanentum“. (Feuerpause 318 und Junge Frau 126)

Schon im Zivil hatte Jansch als Redakteur eines völkischen Blattes, einer „Wochenschrift für Heer und Flotte“, Soldat gespielt. Im Offizierskasino nahe Verdun schwadroniert Jansch von einer jüdisch freimaurerischen Weltverschwörung gegen Deutschland: „Und die Rolle der jüdischen Presse im Dienst der feindlichen Verhetzung, he? All die schreibenden Juden vergiften täglich ihre Federn gegen den deutschen Michel, (…). Überall sind sie zu finden, diese semitischen Tintenferkel, selbst er hat in seiner Kompanie einen solchen.“ Diese Leute dürfen keine „Gleichberechtigung mit Besserrassigen“ fordern, auch wenn sie im Heer loyal dienen. (EV 180f.)

Der „gemütlich“ korrupte, „bierselig“ bayerische Hauptmann Niggl, im Zivil Rentamtmeister in Weilheim, bedauert bei den Raubzügen in Belgien 1914 nicht dabei gewesen zu sein. Niggl, der in der Offiziersmesse gerne seine schlichten Vorurteile über „Sozialdemokraten und Pazifisten – Schwabinger mit langen Haaren“ ausbreitet, muss sich mit lohnender Kleinkorruption, mit unterschlagenen Nahrungsmittellieferungen zufriedengeben: „Schlecht getroffen hatte er’s bei diesem Truppenteil ja nicht, aber gar nichts wollte das bedeuten im Vergleich mit der Infanterie und den Reitern, die bei Kriegsbeginn ins reiche Belgien einmarschiert waren, in Luxemburg, Nordfrankreich. Die hatten Beute dir gemacht – heiliger Emmeran. Die Uhrenläden in Lüttich, die Goldwarenhändler in Namur und gar in den kleinen Städten, der Provinz!“ Der „bieder bayrische“, brutale Niggl schickt den Unteroffizier Christoph Kroysing, der seine Diebstähle am Gut der Soldaten aufdecken will, an die vorderste Front, um ihn durch den Kriegstod zum Schweigen zu bringen. (EV 54, 106)

„Liberale“, „ehrliche“, in adelig-bürgerlichem Irrationalismus gefangene, „nachdenkliche“ Offiziere

Neben den vielen „widerwärtigen, zugleich sklavischen und unfehlbaren kleinen Despoten“ treten in Arnold Zweigs Romanen die „klügeren ‚liberaleren’ Kommandeure“ auf: Offiziere also, die sich zu „fortschrittlicher Bürgerlichkeit“ hin entwickeln, dabei aber oft in irrationalen Mythologien, in „kosmischem Pessimismus“ und in dumpfen Klassenvorurteilen gefangen bleiben.

Da will der im Osten eingesetzte Kriegsgerichtsrat Posnanski den russischen Gefangenen Grischa vor der Hinrichtung retten. Der jüdisch orthodoxe Posnanski, vor 1914 Rechtsanwalt reicher Berliner Wirtschaftsklienten, tut aber zugleich alles für das Funktionieren der repressiven Militärjustiz. Dabei ist er im brüchig bürgerlichen Sinn kultiviert, bibliophil, und im Einzelfall – wie eben jenem von Grischa – human. Die so genannten Auswüchse der deutschen Kriegsbarbarei will er mildern. Posnanski lässt Teile seiner Bibliothek nachkommen. Er liest in „Ober-Ost“ Swifts „Gullivers Reisen“ in englischer Sprache. Er hat stets ein Hebbel-Zitat auf den Lippen. (Grischa 112, 241)

Posnanski ähnlich ist der im Westen eingesetzte Militärjustitiar Carl Georg Mertens, der als Kriegsgerichtsrat den Fall Christoph Kroysing aufklären, dabei dem gefallenen Kroysing nachträglich „Gerechtigkeit“ widerfahren lassen will. Mertens ist ebenfalls bürgerlich feinsinnig geprägt. Er flüchtet in die „isolierte selige Insel“ von klassischer Musik und Malerei. Er erkennt die Bestialität des deutschen Kriegsregimes gegenüber der französischen Zivilbevölkerung. Für Mertens verallgemeinert sich aber „die militaristische Bestialität zu einem Menschenhass“ an sich. Er flüchtet sich konsequent aus der Gedanken-Welt seines „kosmischen Nihilismus“ in den Freitod durch Gift, so Georg Lukács: „Dass Mertens gedanklich und gefühlsmäßig zu diesen Folgerungen getrieben wurde, zeigt die Klassenschranken auf, vor denen seine Ehrlichkeit machtlos bleibt.“ (Lukács 1939, 296)

Mertens war als Sohn eines Zivilrechtsprofessors „im Schatten der väterlichen Würden“ aufgewachsen: „Er wurde ein ausgezeichneter Gelehrter und ziemlich früh Professor für Rechtsgeschichte; seine Leidenschaft galt mehr der Kulturgeschichte als dem Recht.“

Obwohl er eine „Friedensnatur“ war, nahm Mertens die Versetzung als Kriegsgerichtsrat an. Um seine kulturellen Vorlieben zu befriedigen, trat Mertens aber auch als dubioser Militärbesatzer und Profiteur der deutschen Kriegsmaschinerie auf: „Er liebte Bücher, er litt sehr unter dem Mangel an guter Musik. Um mit ihm vierhändig zu spielen, machte er einen klavierbegabten jüdischen Rechtsanwalt zu seinem Hilfsarbeiter; als er das Museum der kleinen Stadt Montmédy mit seine Pastellen und Gemälden des lothringischen Malers Bastien-Lepage entdeckt hatte, fühlte er sich für vieles entschädigt.“ In seiner Besatzungsvilla las Mertens viel, „vervollkommnete sein Französisch an Stendhals Romanen“. (EV 56f.)

Der Pionierleutnant Eberhard Kroysing, der den Tod seines jüngeren Bruders rächen will, steht für den Typ des „gerechten“, pflichtbewussten Frontoffiziers. Er stammt aus einer bayerischen Beamtendynastie, „unbestechlich auf Ordnung haltend“, folglich keine Korruption im Offizierskorps duldend. Kroysing, im Zivilberuf Maschinenbauingenieur, flüchtet in nietzscheanischer Manier in ein „neues Heidentum“, das die Lügen der christlichen Moral entlarven soll. Er führt seinen Kampf gegen die Korrumpierung des deutschen Militärs nur als Privatkrieg. (Lukács 1939, 285f.)

Scheinbar paradox ist Eberhard Kroysing als Offizier demokratischer denn als führender Industrieingenieur, der er geworden wäre, hätte er den Krieg überlebt. Als Soldat ist er „frei von Kastenhochmut“, sucht er den kameradschaftlichen Kontakt zu den einfachen Soldaten, für ein künftiges Zivilleben hält er an elitären Gesellschaftsvorstellungen, „Wirtschaftsführer“ hier, Lohnsklaven dort, fest: „Welche allgemeinen Folgerungen zieht Kroysing aus diesen Erlebnissen? Man könnte sagen: gar keine. Sein nihilistisches ‚Heidentum’ ist für das herrschende System völlig ungefährlich, ja trägt noch dazu bei, aus ihm einen hervorragenden Frontoffizier zu machen. Es ist gar nicht unmöglich, dass er sich, hätte er den Frieden erlebt, zu einem scharfmacherischen Betriebsingenieur (sogar zu einem militanten Reaktionär) entwickelt hätte, der sein ‚Heidentum’ nunmehr nicht an den Franzosen, sondern an den Arbeitern austoben ließe.“

Kroysing deutet gegenüber dem spartakistischen Soldaten Wilhelm Pahl – beide liegen im Lazarett – an, dass er nach dem Krieg ein Herr auf Seite des Kapitals sein will: Sie „würden nach dem Krieg ihre Unterhaltung fortsetzen, Pahl an der Spitze machtlüsterner Sklavenhorden, Kroysing als Satrap beutegieriger Hüttenkapitäne. (…) Pahl sah, am Horizont die ganze darbende Menschheit auf Befreiung harren, und ihm schwindelte, da er ja noch so schwach war, vor der ungeheuren Aufgabe, die daheim auf ihn wartete. Denn das Existenzminimum: zu enges Wohnen, zu ödes und zu teures Essen, zu wenig Zeit, zu schlechte Fortbildung, zu kurzer Schulbesuch, zu gleichförmige Arbeit, zu aussichtsloses Leben, zu heftige Sehnsucht nach den Bequemlichkeiten der Bürgerklasse – dieses Existenzminimum lähmte alles oder schob auf falsche Geleise, was an Einfällen, Begabung und Besonderheit im ungeheuren Heer der Ausgebeuteten schlummerte.“ (EV 314f.)

Leutnant Kroysing bleibt in der Welt des deutschen Militarismus gefangen, obwohl er dessen verbrecherische „Schweinereien“ etwa in Belgien 1914 erkennt: „Was ich gesehen habe, was unsere Leute stolz verrichteten als Dienst und Pflichterfüllung war hundertfacher Mord, Raub, Vergewaltigung, Brandstiftung, Kirchenschändung, jegliches Laster der menschlichen Seele.“ (EV 138)

Kroysing gelangt aber zu keiner gesellschaftlichen Einsicht, wie Lukács anmerkt: „Vermochte er an diesem einen Fall [seines in den Tod getriebenen Bruders Christoph – Anm.] die Struktur der Gesellschaft abzulesen, der er diente? Nicht die Bohne! Er beehrte mit seiner Feindschaft, kräftig und gut gewachsen und wahrhaft zu was Besserem brauchbar, einen kümmerlichen bayerischen Rentamtmann, ein paar seiner Untergebenen.“ (Lukács 1939, 293f.)

Auch Paul Winfried, Stabsoffizier im besetzten Baltikum, ehemaliger Tübinger Kunstgeschichtestudent, zählt zu jenen in „vergeistigten“ „Weltgrund“-Begriffen moralisierenden Offizieren, die sich für die Aufrechterhaltung eines bürgerlichen Rechts, das meist nur Rechtsschein ist, einsetzen. Schwankend zwischen preußischem Militarismus und bürgerlichem Pazifismus, zwischen „Siegfrieden“ und „Verständigungsfrieden“ gerät Winfried in die von ihm lange ignorierte Unterdrückungsmaschine – die Arbeits- und Todeslager – des deutschen Militarismus. Wie Kroysing in einen Privatkrieg flüchtet, so will sich Winfried 1918 an die Westfront melden, um dort den Tod zu finden. Winfried ist nicht nur über deutsche Kriegsverbrechen im Osten informiert. Über familiäre Kontakte erfährt er auch von der Kriegsmüdigkeit, von der Hungerkrise, von der Friedenssehnsucht in der Heimat.

Obwohl er gleich Kroysing mit niederen militärischen Chargen freundschaftlich verkehrt, obwohl er Arbeitersoldaten kennen lernt, kann er deren sozialistische Friedenssehnsucht nicht verstehen. Wie von fern studiert Winfried in einer Bibliothek die russische revolutionäre Tradition, wie von fern sieht er sich mit der russischen Revolution konfrontiert. Er ist verwundert, dass all die Herzen, Bakunin, Narodniki, Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Bolschewiki mit dem Erbe des deutschen Idealismus, mit Hegel, verbunden sind. Er studiert deren Geschichte auch aus militärpolitischen Gründen: „Wie dem auch war: Ein politischer Offizier von Ober-Ost durfte auf diesem schwierigen Gebiete keine groben Fehler machen, nicht behaupten, Herr Martow sei ein führender Bolschewik; er musste Troduwiki von Narodniki, die polnische Sozialdemokratie (PPS) vom litauisch-jüdischen ‚Bund’ wohl unterscheiden lernen.“

Auf die revolutionären Adeligen des Dekabristen-Aufstands von 1825, viele hingerichtet, die meisten nach Sibirien deportiert, folgen dreißig Jahre Unterdrückung, während im Geheimen „die französischen Ideen Saint-Simons und Fouriers weiterwirken; und der nächtliche Leser, verwundernd den Kopf schüttelnd, merkt sie sich an, um im Wörterbuch der Staatswissenschaften nach ihnen zu suchen. Dann tritt ein Herr mit Vollbart auf, Alexander Herzen, und seine Zeitung heißt ‚Die Glocke’. Mit ihr verlagert sich der Hebelpunkt der Anstrengungen von Petersburg nach London, und es beginnt der Kreislauf der Unterströme, die nicht aufhören, die Selbstherrschaft des Zaren zu unterspülen, (…). Auf Alexander Herzen folgt der Name Bakunin, den Winfried schon einmal gehört hat eines europäischen Unruhestifters und Aufwieglers Namen. Das sind die Früchte jenes Professors Hegel, den der Schwiegervater in Tübingen so stolz mit seinem Stift verband, und auf den sich seltsamerweise auch das preußische konservative Staatsrecht gründet. Tschernyschewski und Dobroljubow, leere schwierige Schälle; geheime Gesellschaften unter den Studenten, Literarkritik und Romanschriftstellerei als Grund zu Zuchthausurteilen.“

Alle sibirische Zwangsarbeit kann die revolutionären Kräfte nicht mehr liquidieren, sieht Winfried verwundert: „Aber die Antwort bleibt nicht aus, die Sozialrevolutionäre geben sie, die Narodniki. Alexander II. fliegt in die Luft, Attentate rechts und links. Winfried findet Attentate scheußlich (der arme Graf Mirbach!), aber er kann nicht umhin, die Männer und Frauen achtenswert und mutig zu nennen und ihre Verzweiflung echt und gerecht. Drang und Qual, Blut und Zuchthaus haben den Terrorismus heraufbeschworen, er ist physikalisch gerechtfertigt – ja, denkt Winfried, es gibt eine politische Physik, und hier beuge ich mich über ihren Experimentiertisch, der ‚Russland im 19. Jahrhundert’ heißt. (…) Die neueste Zeit, die mit Herrn Dr. Karl Marx aus Trier beginnt, lässt er für die nächsten Abende, all diese schwierigen Unterscheidungen von Mehrheitsblock und Minderheitengruppe innerhalb der russischen Sozialdemokratie.“ (EKön 285–286)

Auch unter den Zivilisten, bürgerlichen Intellektuellen, vermögenden Bankiers und Ministerialbeamten finden sich ähnliche „Zwischenfiguren“, so der Schriftsteller Hermann Lorcher, der sich mit dem Pazifismus von Leo Tolstoi und Romain Rolland beschäftigt, nichtsdestotrotz aber doch vor dem Belagerungszustand des Krieges – denn „man ist kein kranker Tollkopf wie dieser Liebknecht“ – in die Beschäftigung mit dem klassischen Griechentum, zu Homer, flüchtet.

Der Kunsthistoriker Theodor Lederer, Nachfahre ostgalizischer Rabbiner, „Erforscher der Mosaiken von Ravenna“, 1916 schwer verwundet auf Heimaturlaub, einst schriftstellerischer Opponent der wilhelminischen und habsburgischen Herrschaftskasten, sieht in den deutschen Teilerfolgen vor Verdun schon die kommende Niederlage verborgen. Dem verhassten Krieg vermag aber auch er nichts entgegenzusetzen. (Junge Frau 165–170)

Der alte Markus Wahl und sein Sohn Hugo, beide Vertreter der Finanzbourgeoisie, haben schon vor 1914 Respekt vor der Bebelschen Sozialdemokratie, allerdings nur soweit sie sich von ihrem proletarischen Internationalismus entfernt als „vaterlandstreu“ erweist. Das Zeitalter der Revolutionen wird im Wahl’schen Bürgerhaus für beendet erklärt: „Aber das Zeitalter der Reformen brach ja schon an, als Graf Witte vom Zaren berufen wurde und die Duma eingesetzt. Der Zusammenbruch von 1905 beendete mit Schluss und Punktum das Zeitalter dieser Revolutionen. Lange genug haben wir uns schließlich daran abgearbeitet seit den Dekabristen, wir Freunde des russischen Menschen.“ – so die Prognose des selbstzufriedenen wilhelminischen Bürgers Markus Wahl knapp vor 1914. (Zeit ist reif 15)

Die beiden Bankiers interessieren sich gemeinsam mit dem Generalstabsoffizier Clauß für die militärwissenschaftlichen Schriften des ihnen völlig fremden „Sozi“ Friedrich Engels, der es mit den Militärhistorikern der preußischen Kriegsakademie wie Hans Delbrück mehr als nur leicht aufnehmen könne, dessen Schrift „Po und Rhein“ aus dem Jahr 1859 ihnen zufällig in die Hand fällt: „In einer Arbeiterbibliothek waren kleine graue Broschüren erschienen, für billiges Geld in der Vorwärts-Druckerei hergestellt und verfasst von den Klassikern des so genannten Marxismus, dieses roten Evangeliums. Und eine davon hieß, wie erwähnt, nach den beiden Flüssen Rhein und Po, und der Verfasser, ein gewisser Engel oder Engels, hatte darin behauptet, in kommenden Kriegen müssten die Deutschen durch Belgien nach Frankreich einbrechen, würden aber an der Marne stocken.“

Major Clauß, „der Lieblingsschüler des Grafen Schlieffen“, ist erstaunt, dass die „Grundzüge des Schlieffen-Planes aus reiner Überlegung und Überlegenheit“ schon vor einem halben Jahrhundert, „von einem Sozialisten noch dazu“, zu Papier gebracht wurden. Man hätte die Sozialisten vorab in die deutsche Großmachtpolitik einbinden müssen und sie nicht wie den jungen Bebel in das Gefängnis sperren und mit dem „dämlichen Sozialistengesetz“ von 1878 unterdrücken sollen, so Clauß kurz vor 1914 räsonierend. Im bürgerlichen Salon sieht man das Stocken an der Marne als frühe Warnung. (Zeit ist reif 118–122, 128 – vgl. MEW 13, 260–262)

In der Bankiersfamilie wird die deutsche Kriegspolitik geradezu materialistisch jenseits der alldeutschen Propagandaphrasen analysiert. Im Sommer 1915 weiß der alte Markus Wahl, dass der „revisionistische“ Sozialdemokrat Eduard Bernstein mit seiner „Letzten Warnung“ vom 30. Juli 1914 „prophetisch“ recht behalten wird: kein neutrales England, Zerfall des Dreibunds, kein rascher deutscher „Siegfrieden“, vielmehr die deutsche Niederlage. (Junge Frau 52f.)

„Die Erziehung“ Werner Bertins: Vom Kriegsfreiwilligen zum distanzierten Sympathisanten des Sozialismus

Der universitär gebildete, nichtsdestotrotz prekär abhängige Intellektuelle, der kleinbürgerliche Schriftsteller und Journalist Werner Bertin war 1914 sechsundzwanzig Jahre alt. „Er hatte eine ärmliche Jugend hinter sich, langsam Zutrauen zu seinen Gaben gefasst, sie in leidenschaftlichen Kämpfen treu ausgebildet: die Rechte studiert, menschliches Denken, neuere Sprachen, nach dem Referendarexamen weitergesucht, zu schreiben begonnen, Novellen, einen Roman, Dramen.“ (Junge Frau 7)

Bertin wird als Kriegsfreiwilliger nur Schipper, Armierungssoldat, „ein Soldat ohne Ausbildung mit der Waffe, ohne Hoffnung auf Beförderung“. So wie im Heer stand er auch im bürgerlichen Leben „unten“, in bürgerlichen Kreisen unwillkommen, der Arbeiterklasse fremd, sich vor ihr fürchtend. Als Abkömmling des verarmten jüdischen Kleinbürgertums ist er nicht „gesellschaftsfähig“. Der jüdische Bankier Hugo Wahl wollte Bertin, diesen „Mitgiftjäger“, deshalb von seiner Tochter Lenore fernhalten: „Das waren die elenden Schreihälse, die jedem vaterländisch denkenden Israeliten das Leben verleideten – durch ihre zersetzende Kritik, ihre ewig offene Schnauze, den mangelnden Willen zur bürgerlichen Einordnung.“ (Junge Frau 22f.)

Bertin, als „Assimilierter“ dem Judentum fernstehend, völlig der so genannten „deutschen Kulturwelt“ verpflichtet, in einem Quartett klassische Musik spielend, verehrt seit Gymnasiastentagen Voltaire, Nietzsche. Er liest Nietzsche, soweit er als Kritiker des dumpfen wilhelminischen Bismarck-Deutschland von 1871 gesehen werden kann: Nietzsche, „der angebetete Denker seiner Jugendjahre“, der „die Helligkeit des Westens feiert, seine Heiterkeit, Freiheit des Geistes und die Vormacht seiner Kultur der dumpfen Gläubigkeit des Ostens gegenüber“. Dieses Bild von der westlichen Aufklärung führt 1914 immer noch dazu, dass Bertin und seine im Heer weiterhin diskriminierten jüdischen Mitsoldaten sich als Kenner der französischen Sprache und Kultur lieber an die gefährliche Westfront als etwa in sichere Etappen-Stellen nach Warschau, diese „Lausegegend“ versetzen lassen. (Junge Frau 87)

Einberufen in ein Ausbildungslager bei Küstrin packt Bertin 1914 folgende Bücher ein: „Lexika, englisch, französisch und lateinisch, in grauen Schutzhülsen, und die wichtigsten Briefwechsel Goethes, Handbücher der Rechtswissenschaft, zwei Bände Geschichte der Philosophie, moderne Gedichte und die hebräisch-deutsche Bibel. In die Lücken rücksichtslos gepresst die gelbroten Bändchen der Reclambibliothek, berühmte russische und skandinavische Novellen und Theaterstücke enthaltend, jede Nummer zwanzig Pfennig. Noten für Geige und Klavier, Romane zeitgenössischer Erzähler, drei abgegriffene Bändchen Friedrich Nietzsche, zwei Meisterromane Stendhals und drei Novellenbände Gottfried Keller.“ (Junge Frau 10)

In Küstrin sehr lange in einer Kompaniereihe stehend und auf die Front-Zuteilung wartend fällt Bertin – in einer grotesken Szene – nicht die miese Kasernen-Welt auf, nein, er denkt an Max Schelers „reine“ Werte-Phänomenologie, die Rangordnung der Werte: „Es ist Krieg, Erdreich, Sprache, Geist und Menschen sind zur großen Einheit Vaterland zusammengeronnen. So bemerkt Bertin nicht Hauptmann Laabs vorgewölbten Bauch noch die feuerrote Schmalzfalte über seinem Kragen, noch stört ihn das anteillose Rassegesicht des Leutnants Wolkwitz: ihm schreitet vorüber die Idee des Stufenbaus von Werten und Pflichten, der Eingliederung ins große Ganze, der deutsche Geist, der durch die Stoßkraft seiner Heere dartut, wie sehr er in diesen Läuften der Weltabsicht nähersteht und besser entspricht als der Genius Frankreichs, Englands oder Russlands.“ Arnold Zweigs eigene frühe Nietzsche- und Scheler-Verehrung, auch Zweigs anfängliche Begeisterung für den „deutschen Krieg“ von 1914 spiegelt sich in der Figur Bertins. (Junge Frau 84f. – vgl. Hermand 1990, 25–29)

In einer herabgekommenen Mannschaftsbude in „Ober-Ost“ soll Bertin dann 1917 von der Rückkehr nach Berlin zu seiner Verlobten träumen. Er stellt sich dabei vor, wieder einmal Bergson oder Husserls „Logische Untersuchungen“ lesen zu können. (Grischa 148)

Bertin berichtet später im Krieg befreundeten sozialistischen Soldaten und anderen offen gesinnten Offizieren, dass er als Gymnasiast in Hippolyte Taines Geschichte Frankreichs von den Bauernaufständen im Umfeld der französischen Revolution von 1789 gelesen hat, von Bauern, „die wie Tiere entkräftet auf allen vieren durch die Felder krochen, die sie selber bebaut und abgeerntet – für den Herrn notabene! -, und Rüben suchten, die etwa übersehen worden waren“. (Feuerpause 167f.)

Sozialistische Klassiker – Marx, Engels, Bebel, usw. – fehlten auf Bertins Vorkriegs-Leseliste völlig. Sein Bildungshorizont reichte allenfalls bis zu der einen oder anderen Gelegenheitsschrift eines der vielen nationalliberalen, später oft pro kolonialistisch agitierenden Kathedersozialisten, so Werner Sombart. Einer seiner sozialistischen Kameraden ist deshalb 1916 vor Verdun verwundert: „Was der alles glaubt! Und was der gelesen hat und nicht gelesen – du kriegst die Motten! Den Marxismus lehnt er ab, der gute Mann. Und als ich ihn fragte, was er denn schon von Marx zur Kenntnis genommen – gar nichts. Auch von Engels nicht, keine Zeile. Seine Professoren hätten ihm … na und so weiter. Lauter Kathedersozialisten, besonders der Sombart. Das Büchlein ‚Händler und Helden’ habe ihm freilich gezeigt, was solch ein Herr wert sei. Gott strafe England, selbstverständlich.“ (Feuerpause 204)

Bertin trifft als junger bürgerlicher Intellektueller erstmals ein Jahr vor Beginn des imperialistischen Kriegs in Breslau, seiner schlesischen Heimat, persönlich auf die Arbeiterbewegung. Er begegnet in den Sommertagen 1913 nach dem Tod von August Bebel, jener zuletzt traditionalistisch erstarrten Parteiikone, einer bereits reformistisch dominierten Sozialdemokratie.

Bertin begegnet dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionär Bobrek, der die selbstgefällige Illusion von einer auf parlamentarisch legalem Weg sich unwiderruflich stabilisierenden und organisatorisch stets unaufhaltsam wachsenden Sozialdemokratie verkörpert, einer Partei, die nur ein knappes Jahr später im „Burgfrieden“, also im militärischen Ausnahmezustand, und im Zusammenbruch der Sozialistischen Internationale kapitulieren muss. In blindem Glauben vertraut Bobrek darauf, dass die Anti-Kriegs-Beschlüsse der Internationale in Basel 1912 ohne proletarischen Kampfwillen wirksam werden: „Aber Sie wissen ja, meine Herren, was die Sozialistenkonferenz von Basel Ende vorigen Jahres beschlossen hat und wozu wir alle stehen. Keinen Krieg mehr in Europa! Die ihn loslassen wollen, sollen sich vorsehen. Delegierte aus allen Ländern und ein Generalstreik wäre auch nicht von Pappe, nicht wahr?“ (Zeit ist reif 162)

Bobrek hat Bertin Ende 1913 zu einer Protestveranstaltung gegen die Misshandlung elsässischer Soldaten in Zabern („Zabern-Affäre“) geladen. In der Beleidigung der nationalen Minderheiten sah Bobrek die Lohnausbeutung reproduziert. Die Spitzen in Wirtschaft, Staat, Militär machen sich die Hände nicht schmutzig, dazu haben sie junge Chargen, junge reaktionäre Leutnants wie jenen in Zabern: „Saubere Hände sind das Klassenabzeichen der Herrschenden, sowenig sie selber schmutzige Arbeit verrichten, um ihr Leben zu fristen, eben so wenig sind sie selber bereit, blutiges Handwerk zu leisten. Erst wenn es mit Klassenehre verbunden ist, wenn Trompeten schmettern und Fahnen wehen, dann ziehen auch sie blank und stoßen zu oder schlagen nieder, wie sie’s längst gelernt haben. Als einzelne aber kaufen sie sich Schlächter und Henker, und zwar gegen Kleingeld, verglichen mit den Milliarden, die jetzt gerade wieder für Mordmaschinen ausgegeben werden.“ – so Bobrek. (Zeit ist reif 196)

Der bildungsbürgerlich idealistische Redakteur Bertin spricht in der „Zabern“-Versammlung als Vertreter der „geistigen Arbeiter“. Obgleich ihm etwa die Artikel von Rosa Luxemburg über Soldatenquälereien bekannt sind, bleibt Bertin die Geschichte und das Erbe des Sozialismus fremd, so als ihm Bobrek das vor polizeilicher Willkür schützende Gewerkschaftshaus, in dem man sich seit dem Fall des Sozialistenverbots unbedacht weiterer drohender Belagerungszustände auf immer gemütlich einrichten wollte, erläutert hatte: „’Wie oft haben die uns früher die Säle abgetrieben, diese Burschen’, sagte er. ‚Im Auftrag der Arbeitgeber natürlich. Nicht bloß in der Ära Bismarck, wo wir als Verschwörer eingelocht wurden, wenn wir uns für den Lohnkampf zusammentaten – nein, noch unter Ahlwardt und Stöcker und dem Dreschgrafen Pückler waren wir unserer Haut nicht sicher. Aber danach konnten wir endlich dieses Haus bauen, aus Arbeitergroschen und ihrer geschickten Anwendung, und nun sind wir unsere eigenen Herren.’ Bertin schüttelte erstaunt den Kopf, das alles nicht gewusst zu haben. Jene Namen kannte er von den Klagen seines Vaters, hatte aber geglaubt, diese Antisemiten hätten die jüdische Bevölkerung Schlesiens allein geschädigt.“ (Zeit ist reif, 194 – vgl. Geschichte/Arbeiterbewegung 2–1966, 199f. – vgl. Frölich 1973, 213–215)

Bertin hat also schon vor 1914 erste Kontakte zur Arbeiterklasse, von der er aber so gut wie nichts versteht, die ihm fremd bleibt, da er politisch noch so gut wie nichts gelernt hat. An seinem Sitzplatz im Arbeiterheim ist er mit einer anderen kulturellen Welt konfrontiert. Die Rede von den Klassenwidersprüchen, vom proletarischen Internationalismus hält er für überholt. Bertin sieht das schwarz umflorte Bild Bebels und die Spruchbänder an den Wänden „Die Proletarier haben kein Vaterland, man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben!“ – „Das Proletariat kann nichts verlieren als seine Ketten – Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Bertin hält diese Zitate aus dem Kommunistischen Manifest für heillos „altmodischen Unfug“. Als wären die Leute, „die da unten sitzen, noch Arbeitssklaven, wohnten nicht alle in richtigen Wohnungen, mit Krankenkasse und Altersversorgung!“ (Zeit ist reif 195–198. – vgl. Jenkinson 1989, 325–336)

Trotz seiner Opposition zum preußischen Militarismus ist Bertin auf dem Weg zum euphorisch „vaterländischen“ Kriegsfreiwilligen von 1914. Es bleibt einem Arbeiter wie Wilhelm Pahl vorbehalten, die Kriegsgefahr vorab zu sehen und schon im Sommer 1913 vor dem opportunistischen Weg der SPD in Richtung Heeresbudget-Bewilligung zu warnen: „’Ja, dass uns August Bebel jetzt entrissen wurde, wo doch wieder mal unsere Partei im Reichstag verdammt auf der Hut sein muss … (…) Auch indirekte Belastungen spüren wir am meisten’, antwortete Pahl, ‚alle Hausfrauen und die Arbeiterviertel in den Großstädten singen davon ein Lied. Und kommt’s gar zum Waffenrock…’“ Bertin trifft dann vor Verdun auf jenen „gemeinen“ Schippersoldaten Wilhelm Pahl, der rechtzeitig gesehen hatte, dass die Kosten und Lasten des Militarismus unter passiver Zustimmung der Sozialdemokratie auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt werden. Der Kurs der parteirechten Funktionäre um Friedrich Ebert oder Gustav Noske führte direkt in den sozialdemokratischen „deutschen Kriegsjubel“, in die Zustimmung zu den Kriegskrediten, zur propagandistischen Überflutung der Parteimitglieder mit chauvinistischen Losungen, wonach ein Krieg gegen den barbarischen Zaren im Interesse der „deutschen Kultur“ liegt. (Zeit ist reif 121vgl. Geschichte/Arbeiterbewegung 2–1966, 187–194)

Bertin begegnet im Frühjahr 1914 in München dem Studenten Abel Jansen, „Pastorensohn und Sozialist“. Jansen steht im Umfeld Kurt Eisners. Er ist freier Mitarbeiter der revisionistischen „Sozialistischen Monatshefte“. Gleichzeitig liest Jansen Rosa Luxemburgs soeben 1913 veröffentlichte „Akkumulation des Kapitals“ (Zeit ist reif 275, 289)

Während sich Bertin von freibürgerlichem Geist eine Reform der deutschen Universität erhofft, verlangt Abel Jansen eine neue sozialistische Hochschule: „Unsere Hochschulen präparieren Staatsdiener aller Fakultäten für den Klassenstaat von sechsundzwanzig Ländern, drei davon patrizische Republiken; wirkliche freie Wissenschaft, Erforschung der Wahrheit um der Wahrheit willen – ich habe sie nirgendwo gefunden, und ich verfolge seit Jahren die Vorlesungsverzeichnisse. Oder hörten Sie irgendwo ein vierstündiges Kolleg über Karl Marx und sein ‚Kapital’? Gab es irgendwo eine Darstellung der Lebensarbeit von Friedrich Engels? (…) Gab je ein Literarhistoriker Auskunft über die revolutionären Flugblätter und Dichtungen des Jungen Deutschland? Oder der Achtundvierziger? Ist ein einziges Mal die Lüge zurückgewiesen worden, die sich beim frühen Nietzsche findet: die Pariser Commune habe den Louvre in Brand gesteckt?“

Bertin muss klein beigeben: „Nur vor vier Jahren hab ich mal ein Berliner Seminar verlassen, weil der schöne Erich Schmidt von wohlgeschnittenen Lippen den Ausspruch rollen ließ: Dem Heinrich Heine wäre nur recht geschehen, wenn er für seine Gedichte gegen die Hohenzollern eine tüchtige Tracht Prügel bezogen hätte.“ Tage vor Kriegsbeginn bedauert Abel Jansen, dass Bertin zwar „bessere Zustände“ schaffen will, aber „ohne sich zur arbeitenden Klasse durchzukämpfen“. (Zeit ist reif 290, 354)

Bertin ist im Sommer 1914 vielmehr schon auf dem Weg zum Apologeten des Krieges. Der nach den ersten Militärwochen verrohte Bertin hat zu Kriegsbeginn auch sein eigenes „Gewalt gleich Geist“-Erlebnis: „Die herrlichen friderizianischen Märsche, der Hohenfriedberger, der Torgauer, die hießen jetzt Musik; sie brachte begeisterte Schichten seiner Seele hoch. Im vergangenen Frieden musste man gegen Militarismus auf der Wacht sein, den Geist gegen den Zugriff der Gewalt verteidigen, die Ausschreitungen der Säbelrassler ununterbrochen eindämmen. Jetzt gingen Geist und Gewalt einig, der Krieg hatte sie verschmolzen, die Macht der Heere diente dem deutschen Wesen, (…).“ Arnold Zweig selbst hatte 1914 in den deutschen Kanonenschüssen den kategorischen Imperativ erkennen wollen. (Junge Frau 29 – vgl. Sternburg 1987, 24f.)

Die wenigen Antikriegsdemonstrationen der Arbeiter nimmt Bertin genau so wenig ernst, wie die nahe Barbarei, die sich in der Kriegshysterie, in der Spionen-Furcht, in der Ermordung von Jean Jaurés oder in den baldigen deutschen Kriegsverbrechen in Belgien andeutet. Erst 1916 vor Verdun kommt Bertin wieder zu einer human pazifistischen Vernunftgesinnung zurück. Nach Monaten des Schipperdaseins erkennt Bertin die soziale Kriegsrealität, die brutale Frontwelt.

Bertin, der aus der kulturbürgerlichen Welt mit ihrem schönen Schein der Schubert-Sonaten, aus der Bildungsklassik herkommt, muss nun eingestehen, dass 1914 kein Verteidigungs-Krieg für die „deutsche Kulturwelt“ war, sondern ein imperialistischer Annexions-Krieg. Bertin muss sich eingestehen, dass schon vor einem halben Jahrhundert von ihm bisher verachtete Leute wie Wilhelm Liebknecht oder August Bebel auf dem Höhepunkt des deutschnationalen Chauvinismus den Raubcharakter kapitalistischer Kriege erkannt haben: „Damals, 1871, hatten nur zwei Abgeordnete im deutschen Reichstag den Mut gehabt, dieses menschliche Gesetz zu fordern, Arbeitervertreter, Sozialisten, deren Namen noch dem Studenten Bertin, dem zweiten Geiger, Widerwille und Achselzucken weckten, diese Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die sich so ganz und gar dem Mitleben der Nation entzogen, eigensinnig, feindselig, inmitten des von Bismarck neu geeinten und zum Siege geführten deutschen Volkes.“ (Feuerpause 144–146)

Vorerst flüchtet Bertin in eine bloß „geistige“ Anti-Kriegshaltung, in eine „tragische Weltanschauung“. Bertin überspringt noch „alle wirklichen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme des imperialistischen Krieges“, so Georg Lukács. Die individuelle Kriegskorruption, die Repression im Einzelfall, die Bestialität im Alltag, die Bertin „menschlich-moralisch immer feinfühlig und oft richtig beurteilt“, verknüpft er nur mit „sehr luftigen metaphysischen Prinzipien“.

Bei aller subjektiven Redlichkeit kann sich Bertin nur schwer aus den Widersprüchen seiner idealistischen Gesellschaftsbetrachtung lösen. Die angebliche „Tiefe der Weltanschauung“, seine „Überbedenklichkeit“ sind es, die ihn hindern, das imperialistische Kriegstreiben zu verstehen: Bertin „tappt mit naiver Begeisterung in den Krieg hinein; seine Theorie des Tragischen haben wir bereits vernommen; Natürlich ist er bald enttäuscht und ernüchtert.“ Er zeigt sich solidarisch mit Kriegsgefangenen, erlebt die Sinnlosigkeit der Verdunoffensive, setzt aber noch 1916 auf einen verschärften U‑Boot Krieg zur „Beschleunigung des Friedensschlusses“. (Lukács 1939, 284, 296–299)

Bertin, im Sommer 1916 an der vordersten Verdun-Front, hat in der Tat immer noch einen metaphysischen Blick auf die Kriegsursachen: „Der Armierungssoldat Bertin war sehr beeindruckt. Aber er hörte nicht ein von Menschen gemachtes Werkzeug erdröhnen, für dessen Zielsetzung und Gebrauch Menschen verantwortlich waren. Ihm brüllte da eine Urkraft, einer Lawine ähnlich, für die Naturgesetze verantwortlich waren, nicht Menschen. Der Krieg, ein von Menschen eingerichteter Betrieb, erschien ihm immer noch als ein vom Schicksal verhängtes Unwetter, eine Entfaltung reißender Elemente, nicht kritisierbar und niemandem Rechenschaft schuldig.“ (EV 84f.)

Dass Bertin durstende französische Gefangene Befehls widrig Wasser trinken lässt, macht aber doch Eindruck bei internationalistisch gesinnten Soldaten, die ihn zuvor für einen Spitzel der Militärpolizei gehalten hatten. Die sozialistischen Soldaten sehen nun in ihm einen ehrlichen Pazifisten, auch wenn dem „Idealisten“ Zweifel entgegenschlagen: Denn „der Idealismus wiederum, weiß Wilhelm Pahl [ein Anhänger Karl Liebknechts] gehört zu den feinsten Ködern, mit denen die Gesellschaft begabte Leute daran hindert, dem eigenen Interesse zu folgen, und sie vielmehr verführt, ohne Lohn, nur um der Ehre willen den herrschenden Klassen zu dienen.“ (EV 22)

Eine begrenzt widersprüchliche Annäherung Bertins an die Welt klassenbewusster Sozialisten beginnt. Die Skepsis gegen Bertin sinkt, als er einen Arbeiter, der wegen Dienstverweigerung nach elendslanger Schufterei angeklagt war, vor dem Kriegsgericht verteidigt. Ein proletarischer Soldat sagt zu Bertin: „Sieh nur zu, dass du mildernde Umstände für ihn herauskriegst, an der Klassenjustiz kannst du nicht rütteln. Und da es auch der Liebknecht und der Haase nicht vermögen, ist das für dich keine Schande.“ Aus Bertin könnte gar ein brauchbarer, „wirklicher“ Genosse werden. (Feuerpause 106f., 110)

Bertin berichtet – mittlerweile 1917 nach „Ober-Ost“ versetzt – über die Kriegsrepression vor Verdun: „Man hatte ein paar Soldaten, schwächliche Menschen, die einfach vor Nässe und körperlichem Unbehagen nicht mehr konnten, wegen Arbeitsverweigerung an Bäume gebunden. Unsagbar dieser Anblick von Menschen, die, wie Hunde an einen Baum gebunden in diesem Wetter dort standen und sich nicht bewegen konnten.“ (Feuerpause 266)

Bertin erkennt an manchem Punkt den Krieg als Profitmaschinerie auf Kosten der Kriegstoten, der verelendeten Massen: „Welch ein Schmaus für Aktionäre von Schneider-Creuzot, Armstrong, Krupp!“ (Feuerpause 359)

Mit Recht schreibt Georg Lukács, die im Jahr 1919 angesiedelte Schluss-Szene von Arnold Zweigs „Erziehung vor Verdun“ zeigt, dass Bertin vorläufig noch nicht zum Sozialismus gelangt ist: „Zweig gestaltet das Erwachen des demokratischen Geistes in den besten Vertretern der deutschen Intelligenz: das brutale Zerschlagen ihrer isolierten, vom Graben des geistigen Hochmuts umgebenen ‚Elfenbeintürme’ der Friedenszeit; das Erwachen des Bedürfnisses nach Verbundenheit mit dem Leben des Volkes, das Erwachen der Bereitschaft, von dem Volke zu lernen. Um einen solchen demokratischen Geist zu besitzen, muss der Intellektuelle nicht unbedingt Sozialist werden. Wohl aber muss er die bourgeoisen Vorurteile gegen den Sozialismus, gegen die Arbeiterklasse ablegen, in sich überwinden. Denn wer das Proletariat als ‚kulturfeindliche Masse’ fürchtet und mit Misstrauen betrachtet – mag sein sonstiges Streben subjektiv noch so ehrlich auf Demokratie gerichtet sein -, kann unmöglich ein wirklicher Demokrat unserer Zeit werden.“ (Lukács 1939, 303)

Bertin trägt auch hier autobiographische Züge von Arnold Zweig. So wie Zweig selbst gelangt auch die Figur des Bertin zumindest 1918 noch nicht zum Sozialismus. Zweig, der unter dem Einfluss der pazifistisch idealistischen Revolutionsauffassung Gustav Landauers stand, will Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vorläufig nur als vergeistigte Märtyrer gelten lassen.

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