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Zur Verfälschung der Geschichte im Interesse der NATO durch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck

Aus dem Leben des ukrainisch jüdischen Flüchtlings Leo (Jonas Leib) Stern 

Der in Woloka geborene Leo (Jonas Leib) Stern (1901–1982) hat als Gymnasiast der vierten Klasse am deutschen Gymnasium in Czernowitz die Kehrseite der österreichischen Gemütlichkeit in der habsburgischen Bukowina kennengelernt.[1] Joseph Roth (1894–1939) schildert, wie die dort stationierte k. u. k. Armee ihre Militärjustiz im Sommer 1914 zu Beginn des imperialistischen Weltkrieges eingesetzt hat: „Tagelang hingen die echten und die vermeintlichen Verräter an den Bäumen auf den Kirchplätzen, zur Abschreckung der Lebendigen“.[2] Die jüdische Familie Stern flüchtete zu Beginn des Sommers 1916 wegen der von den zaristischen Truppen befürchteten Pogrome nach Österreich, wo sie zuerst im Salzburger Flüchtlingslager Grödig Unterkunft fand. Leo Stern konnte das Gymnasium in Salzburg besuchen, die drei letzten Gymnasialklassen absolvierte er in Czernowitz, das jetzt zu Rumänien gehörte (Cernăuți). Das Universitätsstudium nahm Leo Stern mit Wintersemester 1921/22 an der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät auf und beendete es unter Vorlage einer Dissertation über den universalistischen Gedanken im Merkantilismus als 23-jähriger mit dem Doktorat der Staatswissenschaften. Als Religion hat er in das Nationale der Universität „mosaisch“ eingetragen, als Staatsbürgerschaft die rumänische. Auf der Universität waren ihm berühmte Professoren von Hans Kelsen (1881–1973) bis Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944) begegnet. Beiden professoralen Ikonen war gemeinsam, die Republik Österreich als Missgeburt des ersten Massenmordens einzuschätzen. Die friedensvermittelnde Möglichkeit eines neutralen Österreichs wollten beide nicht sehen, die Gedanken des humanistischen Völkerrechtlers und Mitglieds des Internationalen Schiedsgerichtshofes in Den Haag Heinrich Lammasch (1853–1920) waren ihnen ebenso wie den heute von den Medien angebotenen österreichischen Völkerrechtsexperten von einer anderen Welt.

Leo Stern beteiligte sich als Referent der Wiener Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und als Kursleiter in der Volkshochschule Ottakring an den Perspektiven eines demokratischen Österreichs. Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wollte sich aber doch lieber mit den faschistischen Kräften arrangieren, wobei die Meinungsmanipulation durch die vom Reichtum bezahlten Massenmedien schon damals einen verheerenden Einfluss ausübte. Nach den Februarkämpfen 1934 musste Leo Stern, der am Kampf der Arbeiter in Wien teilgenommen hat, aus Österreich fliehen und gelangte über die Tschechoslowakei (1935) in die Sowjetunion, die ihn als österreichischen Asylwerber anerkannte. 1937 meldete sich Leo Stern wie viele Österreicher zu den gegen den Faschismus in Spanien kämpfenden internationalen Brigaden. In deren Reihen kämpften auch seine Brüder Manfred Stern (1896–1954), der mit dem Namen „General Kleber“ als Verteidiger von Madrid berühmt wurde, und Wolf Stern (1897–1961). Ab April 1938 war Leo Stern wieder in Moskau. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion kam Leo Stern mit anderen Mitgliedern der Kommunistischen Internationale vom bedrohten Moskau in die östlich gelegene baschkirische Stadt Ufa. Dort wurde er mit anderen schriftstellerisch begabten Genossen wie Erich Weinert (1890–1953) oder Johannes R. Becher (1891–1958) beauftragt, für die deutschen Soldaten an der Front Aufklärungsschriften verschiedenster Art über die Hintergründe der deutschen Offensive im Osten zu schreiben. Als einer der ersten von dieser Gruppe wurde Leo Stern im Sommer 1942 an der Front eingesetzt. Stern galt als Österreicher und Österreich wurde von der Sowjetunion als von Deutschland okkupiertes Land angesehen. Stern kam als kämpfender Offizier der Roten Armee an die Südwestfront und blieb mit seiner Einheit bei Charkow zuerst stecken. Von Charkow, das erst im Sommer 1943 befreit wurde, über Stalingrad, dann über die Ukraine, Rumänien und Ungarn, zuletzt im Range eines Obersten der Roten Armee, ist Stern nach Wien gelangt. Überall sind ihm die von Adolf Hitler (1889–1945) früh propagierten und von der deutschen Wehrmacht und ihren Knechten praktizierten Werte deutsch- europäischer Kultur begegnet.

„Gerichtstag in Charkow“ (1943)

Nach Charkow, das wegen seiner Handelsmesse berühmt war, kamen die ersten Juden in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Händler. Nach der Oktoberrevolution 1917 nahm die jüdische Gemeinde in Charkow einen gewaltigen Aufschwung. 1939 lebten in der Stadt ca. 150 000 Juden, d. s. ca. 20 Prozent der Stadtbevölkerung. Zionistischen Kreisen war Charkow auch in Erinnerung als Konferenzort russischer Zionisten, weil sich diese dort 1903 getroffen und über das Uganda Projekt der britischen Regierung diskutiert haben. Die britische Regierung hatte den Zionisten, die davon ausgingen, dass die Juden ein Volk seien und ein eigenes Territorium benötigen, ihr ostafrikanisches Kolonialgebiet als autonomes Siedlungsgebiet angeboten. Wegen der damit insinuierten Aufgabe der zionistischen Besitzoption auf Palästina wurden darüber unter Zionisten sehr scharfe Auseinandersetzungen mit gegenseitigen Verleumdungen geführt.[3] Es blieb beim Baseler Programm von 1897, dessen erster Satz lautet: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“.[4] Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion konnte die Mehrzahl der Juden in Charkow nach Sowjetrussland fliehen, die Zurückgebliebenen wurden von der deutschen Besatzung und ihren ukrainischen Mittätern vernichtet.[5]

Im befreiten Wien hat Leo Stern 1945 die Broschüre „Deutsche Greuel in Russland. Gerichtstag in Charkow“ (Stern Verlag 96 S., Ill.) herausgegeben und verbreiten lassen. An diese muss erinnert werden, wenn heute wieder mit Zuschauen der Mitgliedsländer der Europäischen Union an den Bäumen der Ukraine wieder Russen hängen sollen. Charkow steht am Anfang einer ganzen Kette von entsetzlichen Verbrechen, die die deutsche Wehrmacht gegenüber der russischen und ukrainischen Zivilbevölkerung begangen hat. Am 15. Dezember 1943 hat in Charkow ein dreitägiger Prozess vor einem sowjetischen Kriegsgericht der 4. Ukrainischen Front gegen drei Wehrmachtsangehörige und einen russischen Mittäter stattgefunden, der im Grunde Vorbild für die Nürnberger Prozesse (1945–1949) wurde. Das mit der Stern-Broschüre veröffentlichte stenographische Protokoll dieses Prozesses dokumentiert mit Belegen und Zeugenaussagen die Ungeheuerlichkeiten normaler deutscher Besatzung. Erstmals verwendeten die Deutschen große geschlossene Kraftfahrzeuge, in die sowjetische Bürger hineingetrieben und durch Einleitung von Kohlenoxyd vergiftet wurden. Während der deutschen Besetzung von Charkow und seines Gebietes sind mehr als 30.000 friedliche sowjetische Bürgerinnen und Bürger mit Kindern erschossen, gehängt, lebendig verbrannt oder durch Kohlenoxyd vergiftet worden. Konstantin Simonow (1915–1979) hat in Charkow erstmals davon gehört, „wie das gemacht wurde, und zwar von jenen, die es getan hatten“.[6] Der Stern-Verlag Wien hat seine Charkow-Broschüre in deutscher Sprache veröffentlicht, weil er der Meinung war, er würde so einen Beitrag zum Frieden leisten: „Wer in Österreich Soldaten oder Offizieren der Roten Armee begegnet und diese Menschen, deren Heldenmut auch unser Land seine Errettung und Befreiung zu verdanken hat, verstehen will, der möge daran denken, dass diese Männer Angehörige jener Frauen und Kinder, jener alten gebeugten Mütter und Väter sind, die zu Hunderttausenden von den deutsch-faschistischen Schergen in den Städten und Dörfern Russlands und der Ukraine viehisch abgeschlachtet wurden. Und auch darauf möge niemand in Österreich vergessen, dass unser österreichisches Volk nicht frei von Mitschuld ist an den grausamen Mordtaten, die auf deutsches Kommando an der sowjetischen Zivilbevölkerung verübt wurden.“ (Vorwort S. 2).

Der ukrainische Kommunist Leo Stern konnte sich nicht besonders viel Hoffnung auf einen angemessenen Wirkungskreis in Österreich machen. 1951 nahm er die Möglichkeit wahr, in die Deutsche Demokratische Republik zu übersiedeln, um dort als marxistischer Historiker für die Erhaltung des Friedens zu wirken. Leo Stern hat mit seiner Biografie einen solidarischen Ausweg aus der barbarischen Welt des Kapitalismus mit ihren Eigentumsverhältnissen vorgelebt. Sich an solche historischen Wahrheiten zu erinnern, sollte gerade in Kriegszeiten wie diesen nützlich sein. Allerdings hat der erst 24-jährige Karl Marx (1818–1883) präzise analysiert: „Das Interesse denkt nicht, es rechnet. Die Motive sind seine Zahlen“.[7] Was haben sich die Selenskijs und ihre Parteigänger in Österreich von der Wiener Universität aufwärts ausgerechnet, wenn sie die Ukraine der NATO als Aufmarschgebiet gegen die Russen anbieten? 


[1] Gerhard Oberkofler / Manfred Stern: Leo (Jonas Leib) Stern. Ein Leben für Solidarität, Freiheit und Frieden. StudienVerlag Innsbruck / Wien / Bozen 2019. Für die Abschrift eines Interviews des DDR Films mit Leo Stern (1970), Bundesarchiv Sign. 126138 danke ich Ilko-Sascha Kowalczuk!

[2] Joseph Roth: Radetzkymarsch. Roman. DTV München 19. A. 2005, S. 386.

[3] Vgl. Die Wahrheit über Charkow. Herausgegeben von der freien zionistischen Gruppe „EREZ ISRAEL“ zu Berlin – Februar 1904. Verlag S. Bernfeld, Berlin-Charlottenburg.

[4] Philo Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Herausgeber und Redaktion Emanuel bin Gorion / Dr. Alfred Loewenberg / Dr. Otto Neuburger / Hans Oppenheimer. Philo Verlag G. M. B. M. Berlin 1935. Artikel Baseler Programm (Sp. 68); Charkower Konferenz (Sp. 124).

[5] „Lexikon des Judentums“. Chefredakteur John F. Oppenheimer, New York, Mitherausgeber Emanuel Bin Gorion, Tel Aviv, E. G. Lowenthal, London / Frankfurt a M., Hanns G. Reissner, New York. C. Bertelmann Verlag Gütersloh 1968, Sp. 145 (Charkow).

[6] Konstantin Simonow: Kriegstagebücher 1942–1945. Zweiter Band. Aus dem Russischen von Corrinna und Gottfried Wojtek und Günter Löffler. Verlag Volk und Welt Berlin 1979, S. 378; vgl. dazu Andrej Angrick: Das Beispiel Charkow: Massenmord unter deutscher Besatzung. In: Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte4, Hg. von Christian Hartmann, Johannes Hürter und Ulrike Jureit. Verlag C. H. Beck 2005, S. 117–124. 

[7] MEW 1 (1972), S. 134.

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