Istanbul. Auch an diesem Wochenende schlug das Regime in Ankara erneut zu: In einer groß angelegten Polizeiaktion ließ die Staatsanwaltschaft Istanbul Haftbefehle gegen 47 Personen ausstellen, darunter fünf amtierende Bürgermeister der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Es ist bereits die fünfte Verhaftungswelle dieser Art seit März – ein klares Signal, dass die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan die politische Konkurrenz mit polizeistaatlichen Mitteln zu zerschlagen versucht.
Betroffen sind Bürgermeister aus mehreren Stadtteilen Istanbuls (Büyükçekmece, Gaziosmanpaşa, Avcılar) sowie aus den Provinzstädten Ceyhan und Seyhan in Adana. Auch hochrangige Mitarbeiter der Istanbuler Stadtverwaltung und städtischer Unternehmen befinden sich unter den Festgenommenen. Gegen einige Betroffene laufen Ermittlungen wegen „Bestechung“, „Erpressung“ oder „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ – ein inzwischen gängiges Repertoire der türkischen Justiz, um unliebsame Stimmen mundtot zu machen.
Die oppositionelle CHP spricht von einer politisch motivierten Einschüchterungskampagne. Ihr Fraktionsvize Ali Mahir Başarr warf der Regierung vor, zunächst Menschen festzunehmen, um anschließend Beweise zu „konstruieren“. Auch Parteikollege Murat Emir kritisierte das Vorgehen: „Wenn man eine fünfte Welle braucht, hat man wohl bisher nichts gefunden.“ Beweise, so die Partei, seien kaum vorhanden – man wolle die Opposition offenbar durch Druck und Drohungen zu Geständnissen nötigen.
Besonders brisant: Die Repressionswelle richtet sich gegen das Lager um Ekrem İmamoğlu, den derzeit inhaftierten CHP-Bürgermeister von Istanbul. İmamoğlu gilt als stärkster Oppositionskandidat bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und liegt Umfragen zufolge vor Erdoğan. Im März wurde er wegen angeblicher Korruption und Terrorunterstützung verhaftet – die Begründung: Kontakte zu kurdischen Strukturen, obwohl sich die PKK zum Zeitpunkt der Anklage bereits aufgelöst hatte.
Die nun gestartete Operation reiht sich nahtlos ein in eine lange Serie politisch motivierter Verfolgungen. Während regierungsnahe Bürgermeister trotz zahlreicher Korruptionsvorwürfe unbehelligt bleiben, geraten oppositionelle Amtsträger regelmäßig ins Visier der Justiz. Die autoritäre Allianz um Erdoğan scheint entschlossen, die verbliebenen Reste lokaler Selbstverwaltung durch Repression zu zerschlagen – gerade in den urbanen Zentren, in denen die AKP ihre Vorherrschaftsstellung längst verloren hat.
Die CHP hat unterdessen eine Krisensitzung in Istanbul einberufen und ruft zu nationalem und internationalem Protest auf. „Eine Regierung, die ihr Gewissen und ihre Ernsthaftigkeit in den Augen des Volkes verloren hat, benutzt das Justizsystem als Waffe gegen ihre Gegner“, erklärte ein Sprecher. Die systematische Kriminalisierung oppositioneller Kommunalpolitik in der Türkei sei ein Angriff auf demokratische Mindeststandards – und ein Vorgeschmack auf eine Präsidentschaftswahl unter Ausnahmezustandsbedingungen.
Die Repressionswelle verdeutlicht die sich zuspitzenden innerbürgerlichen Widersprüche in der Türkei. Inmitten wirtschaftlicher Krisen, wachsender sozialer Spannungen und internationaler Isolierung versucht das Erdoğan-Regime, den Staatsapparat gegen jede Form von politischer Alternative in Stellung zu bringen. Doch die Oppositionsbewegung zeigt sich kämpferisch – und sie wird zunehmend auch von Teilen der Bevölkerung unterstützt, die genug haben von Korruption, Klientelismus und autoritärer Willkür.