Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Im Jänner 1948 reiste der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) nach Wien und schreibt in sein veröffentlichtes Tagebuch (Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1958): „Wien bleibt Wien. Wie es anderswo aussieht, was kann es sie kümmern? Sprich nicht von anderen Städten; sei glücklich, dass du in Wien bist? Was ist schon passiert? Sogar die Deutschen, die einzig und allein daran schuld sind, dass Österreich auf der misslichen Seite liegt, nimm sie auf die leichte Schulter; die andere Schulter gewöhne dir ab; versuche auch du entzückend zu sein“.
Ende August 1945 hat der in der Wiener sozialistischen Arbeiterjugend groß gewordene Hans Riemer (1901–1963) für den Deutschen Verlag für Jugend und Volk ein kleines, weit verbreitetes und im „Vorwärts“ Verlag herausgegebenes, dem in Auschwitz ermordeten Robert Danneberg (1915–1942) gewidmetes Büchlein „Ewiges Wien. Eine kommunalpolitische Skizze“ (Kartoniert, 111 S., Abb. u. 3 Tabellen) veröffentlicht. Riemer war nicht irgendwer, er war sogleich nach der Befreiung Wiens von den deutschen Faschisten durch die Rote Armee zuerst Pressechef der Stadt Wien, dann Generalsekretär des österreichischen Städtebundes, von 1956 an Mitglied des Bundesrates und Amtsführender Stadtrat der Stadt Wien und schließlich ab 1959 bis zum seinem Tod Mitglied des Wiener Gemeinderates. Im Wiener Zentralfriedhof wurde ihm ein „Ehrengrab“ gewidmet. Der am 17. April 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten bestätigte Bürgermeister von Wien General a. D. Theodor Körner (1873–1957) hat das Geleitwort geschrieben und sehr freundlich über diese „Skizze“ gemeint: „Sie ist mehr. Ich möchte sie eine Geschichte Wiens nennen. Weil Wien das Herzstück des ehemaligen Großstaates Österreich-Ungarn, dann der Republik Österreich war, ist sie auch eine Staatsgeschichte, die nur skizzenhaft gehalten ist. Wien umfasst ein Viertel der Bevölkerung der Republik. Die Geschichte des Volkes von Wien zu beschreiben, ist eine unserer wichtigsten Erziehungsaufgaben. Die Jugend soll die Bilder aus unserer Geschichte erfassen, soll das Leben des Volkes verstehen lernen.“
„Kontextualisierung“ stand noch nicht auf der Tagesordnung von Geschichte(en)schreiberInnen. Diese war in früheren Jahrzehnten banale Anpassung an die Vorgaben des herrschenden Zeitgeistes. Das prominente Wiener SPÖ-Mitglied Hans Riemer erinnert sich, wie sich der junge Rechtsanwalt Dr. Karl Lueger (1844–1910) in Wien „zum Wortführer des kleinen Mannes“ gemacht und „seine Forderungen gegen den liberalen Kapitalismus“ vertreten hat: „Die Bevölkerung sollte nicht der Ausbeutung privater Kapitalisten ausgeliefert sein, sondern er erklärte es als die Aufgabe der Gemeinde, diese Bedürfnisse ihrer Bewohner durch eigene Monopolbetriebe zu befriedigen. Dieser kommunale Sozialismus Luegers versetzte die Liberalen in Angst und Schrecken […].“ Das Resümee ist eine (SPÖ-) Laudatio ohne wenn und aber: „Was Bürgermeister Dr. Karl Lueger geleistet hat, war ökonomisch notwendig und reif. Sein persönliches Verdienst war es, dies erkannt und zu seinem kommunalpolitischen Programm gemacht zu haben. Aber alles, was in dieser Zeit geschaffen wurde, trug seine persönliche Note, entsprang seiner Initiative, wurde von ihm – nicht selten gegen den Widerstand und die Verständnislosigkeit seiner eigenen Parteifreunde – einfach dekretiert. Dr. Lueger wurde zum Wegbereiter des kommunalen Sozialismus, der seine Blüte zehn Jahre nach Luegers Tode erreichen sollte, als Ausdruck der schöpferischen Kraft der sozialistischen Arbeiterschaft Wiens“.
Wegschauen ist die Losung der SPÖ – damals wie heute – denn: „Hoch die Sozialdemokratie! Hoch die Republik!“ Oder mit Max Frisch: „Charme, zur Haltung gemacht- ist etwas Fürchterliches. Waffenstillstand mit der eigenen Lüge“.