Kommentar von Aaron Weber, Student und Mitglied der Partei der Arbeit Österreichs
Am 26. April 1986 ereignete sich eine nukleare Katastrophe verheerenden Ausmaßes: im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl nahe der Stadt Pripyat in der sozialistischen Sowjetrepublik der Ukraine, ereignete sich eine Explosion. Was darauf folgte, war eine nachhaltig wirkende humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe. Eine Katastrophe, die nicht zuletzt im kollektiven Gedächtnis des ukrainischen Volkes geblieben ist – und insbesondere seit den neuen Kräfteverhältnissen nach dem Staatsstreich 2014 dementsprechend ausgenutzt wird, um die historischen Errungenschaften des sozialistischen Entwicklungsweges mit der Katastrophe Tschernobyl gleichzusetzen. Dieser Tage wird in unterschiedlicher Intensität einiges darauf verwandt, der Weltöffentlichkeit abgestandene Klischees und Mythen über Tschernobyl und den Sozialismus-Kommunismus aufzutischen. Parallel dazu geht in der siegreichen Welt des Kapitalismus Indien mit seinen 1,4 Milliarden Menschen im wahrsten Sinne des Wortes die Luft aus und eine Kriegsdrohung (wie zwischen der Ukraine und Russland) jagt die nächste.
Wie Österreich von seiner Verantwortung ablenkte
In nicht wenigen Schulen Österreichs gehört die antikommunistische Erzählung der Geschehnisse rund um Tschernobyl zum festen Repertoire des Geschichts- und Physikunterrichts. Pikant in diesem Kontext ist, dass der damalige Gesundheits- und Umweltminister Franz Kreuzer (SPÖ) noch am 30. April 1986 über die ZIB verlautbaren ließ, dass es trotz eindeutig erhöhter Strahlenbelastung keine Gefahr für die Bevölkerung gebe. Einen Tag zuvor äußerte sich SPÖ-Kanzler Sinowatz zum Super-GAU im Ö1-Mittagsjournal so: „Es ist für Österreich überhaupt keine Gefahr […] sollten Veränderungen dabei eintreten, werden wir natürlich die entsprechenden Maßnahmen treffen“. Nur wenige Tage später mussten Notverordnungen getroffen werden, da wegen dem Regen die Strahlenwerte wiederum anstiegen, viele Bauern durften Milch u.ä. Produkte nicht mehr verkaufen. Weitere Notverordnungen mussten folgen. Freilich kann man diese kritische Sicht relativieren – umso fragwürdiger ist aber, wieso die Sichtweise hegemonial ist, die Sowjetbehörden hätten durchgehend relativiert, gelogen, vertuscht. Möglicherweise liegt in der kulturindustriellen Verarbeitung der Katastrophe eine Antwort.
Zweierlei Tschernobyl: Wie Hollywood die Katastrophe verzerrt
Die Hit-Serie Chernobyl des Programmanbieters HBO (im Besitz des US-Medienmonopols WarnerBros) ist ein Beispiel dafür, wie die kapitalistische Kulturindustrie ein Stück gut inszenierter bürgerlicher Geschichtsverarbeitung produziert hat, dessen Intentionen klar waren: die Weltöffentlichkeit und die Jugend sollen unter dem Eindruck des existenziellen Leides eindrucksvoll spüren, was der Sozialismus angerichtet hat: Er hat eine hirnlose Masse an rüpelhaften Apparatschiks und verschüchterten Bürgern geschaffen, die von der Sowjetregierung belogen und geopfert werden – 93.000 an der Zahl.
Tatsächlich sind aber 30 Feuerwehrmänner und Fabriksarbeiterinnen und ‑arbeiter in den ersten zwei Wochen sowie weitere 14 in den darauffolgenden zehn Jahren gestorben. Die Vereinten Nationen schätzen, dass insgesamt 3.000 bis 4.000 Menschen aufgrund der Folgeerkrankungen durch die Verstrahlung ihr Leben verloren hätten. Was HBO und die bürgerlichen Schreiberlinge unter den Tisch fallen lassen, ist, wie die Sowjetregierung trotz aller bürokratischen Erstarrungen noch am Folgetag der Explosion 50.000 Menschen rund um Pripyat evakuierte. Bis zum Jahresende wurden 280.000 Menschen in Sicherheit gebracht. Man vergleiche Tschernobyl mit dem Kriegsverbrechen Hiroshima-Nagasaki, als das US-Militär zwei Atombomben über diese Städte abwarf: in Hiroshima starben sofort 80.000 Menschen sowie 140.000 mit Ende 1945. In Nagasaki starben ebenfalls sofort 80.000 Menschen. Wieviele Japanerinnen und Japaner durch Langzeitfolgen gestorben sind und immer noch sterben, ist nicht abzuschätzen. Man vergesse nicht die Atomwaffenversuche des US-Militärs auf den Marshall Islands: durch das Projekt „Castle Bravo“ ist das Lungenkrebsrisiko auf der Insel viermal so hoch wie am US-Festland, bei Mundhöhlenkarzinomen ist die Wahrscheinlichkeit zehnmal so hoch, bei Zervixkarzinomen ist die Wahrscheinlichkeit daran zu erkranken, 60 Mal höher.
In der HBO-Serie werden diese Evakuierungsmaßnahmen nicht gänzlich unterschlagen, sie werden nur negativ gewendet: die Evakuierung einer alten Bäuerin, welche Pripyat nicht verlassen will, wird zur herzlosen Zwangsmaßnahe der Sowjetbehörden erklärt. Die Erschießung von Haustieren, die potentielle Träger radioaktiver Strahlung sind, als grausame Tierquälerei der „bösen Russen“ in Einheitsgrau gegen die unschuldige Natur. Damit nicht genug: in einer Szene wird dargestellt, wie die Sowjetbehörden die Minenarbeiter Pripyats in Reih und Glied aufstellen lassen, damit diese einen Sarkophag unter den Reaktor graben sollen, damit das Grundwasser nicht verstrahlt wird. Weigern sie sich, werden sie erschossen. Wiederum gibt es keine einzige Person in der echten Welt, die das bezeugen könnte, und sogar Valery Legasov sprach vor der internationalen Atombehörde nie von solchen Szenen.
Nach der Niederlage kommt die Zukunft
Unbestritten ist, dass die sowjetische Gesellschaft in all ihren Teilrepubliken mit wachsenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Ja, Tschernobyl war mitunter das Ergebnis marktwirtschaftlicher Reformen mit dementsprechenden Kosteneinsparungen, politischer Dezentralisierung und organisatorischen Fehlentwicklungen (Bürokratismus, Karrierismus) am Höhepunkt ihrer Entwicklung. Es war mit einem Wort: Perestroika. Doch der Architekt dieser Politik, welche fünf Jahre später zum Niedergang der Sowjetunion führen sollte, wurde in der fiktiven Welt Hollywoods wie in der Wirklichkeit selbstredend glorifiziert.
Dennoch bescheinigt indirekt das wissenschaftliche Komitee der UN zu Fragen atomarer Strahlung, dass selbst erhöhte Krebshäufigkeit in der umliegenden Region nicht einfach auf den Super-GAU zurückgeführt werden kann, da einerseits in den Jahren zuvor die Krebshäufigkeit wie auch die Mortalität inkrementell zunahm, andererseits sei die entschiedene Mehrheit der von Strahlung betroffenen Menschen einer so geringen Dosis ausgesetzt, dass epidemiologische Studien zur Langzeitwirkung von Verstrahlung gar nicht sinnvoll seien. Interessant ist auch das Schweigen über den Einbruch aller relevanten Kennziffern der Volksgesundheit, wie etwa die massiv gesunkene Lebenserwartung, welche in der Ukraine bis dato nicht das Level vor 1990 erreicht hat.
Die Organisierung von Unmengen an Flüssigstickstoff, die Evakuierungsmaßnahmen gekoppelt mit der Opferbereitschaft von Wissenschaftlern, Minenarbeitern, Rettungskräften war selbst 1986, wenige Jahre vor der historischen Niederlage des Sozialismus durch die revisionistische Gorbatschow-Regierung, das Erbe des Sozialismus. Wir verdanken der vereinten Aktion der sowjetischen Gesellschaft und ihres Staatswesens trotz aller struktureller Mängel und menschlicher Fehler, dass ihre schnelle Intervention und die immensen Ressourcen, welche mobilisiert wurden, dass Millionen an Menschenleben in ganz Europa gerettet wurden.
Weshalb wird das Mikroskop auf Tschernobyl und die Sowjetunion gelegt, als symptomatischer Ausdruck eines „Desaster-Sozialismus“, während Fukushima möglich wurde und in den kommenden Jahren Megatonnen radioaktives Wasser in den Pazifik umgeleitet werden? Weshalb ist trotz enormer wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen und vorhandener Ressourcen es nicht möglich, die Corona-Pandemie einzudämmen? Heute müssen wir uns diese Fragen stellen und lernen, dass die Unterordnung gesellschaftlicher Belange unter Profitstreben und Kosten-Nutzen-Kalküle in jedem Fall Menschen das Leben kosten wird. Die Lösung für diese „Menschenprobleme“ liegen in der Klassenanalyse, die notwendig zur Überwindung des Kapitalismus auf Weltebene drängt.
Quelle: Mittagsjournal vom 29. 4. 1986, Zeit im Bild 1, 30. 4. 1986 [Ausschnitt]. Unfall im Atomkraftwerk, UN, In Defense of Communism, Counter Currents,
Simon, S.; Bouville, A.; Land, C.; Beck, H. (2010): Raditation doses and cancer risks in the Marshall Isalnds associated with exposure to radioactive fallout from Bikini and Enewetak nuclear Weapons tests In: Health Physics 99 (2).