HomeFeuilletonIst der 8. Mai 1945 ein Wendepunkt in der Geschichte Österreichs?

Ist der 8. Mai 1945 ein Wendepunkt in der Geschichte Österreichs?

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Ein Brief von Fritz Fellner an Günther Nenning (1975)

Die österreichische Bundesregierung gedenkt seit jeher an das am 8. Mai 1945 besiegelte Ende des zweiten Weltkrieges in Europa und an die Befreiung von der Herrschaft des deutschen Faschismus. Tut sie das auch in Verantwortung für die Gegenwart? 

Die beiden Wiener Fritz Fellner (1922–2012) und Günther Nenning (1921–2006) sind nach ihrer Gymnasialmatura als Soldaten zur kämpfenden Truppe der deutschen Wehrmacht eingezogen worden und sind gegen Kriegsende in US-amerikanische Gefangenschaft gekommen. Nach seiner Entlassung aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft hat Fellner das Studium der Geschichte in Wien 1948 mit einer vom Benediktinerpater und Ordinarius der österreichischen Geschichte Hugo Hantsch (1895–1972) ermöglichten Dissertation über den politischen Literaten Franz Schuselka (1811–1886) abgeschlossen. Fellner wurde Assistent an der Universität Wien und übernahm 1964 die ordentliche Professur für Neuzeit in Salzburg (bis 1993). Nenning hat in Graz Sprach- und Religionswissenschaft studiert, 1949 promoviert, übersiedelte 1958 wieder nach Wien und machte sich einen prominenten Namen als Journalist des Forvm bzw. des Neuen Forvm, dessen Herausgeber er seit 1966 war (bis 1986).

Fritz Fellner kann als ein Pionier der neuzeitlichen österreichischen Geschichte in ihren globalen Zusammenhängen bezeichnet werden. Anfang Mai 1975 hat ihn der lebhaft offene Nenning eingeladen, einen Artikel zur Befreiung Österreichs im Jahre 1945 zu schreiben.[1] Seit 8. Juli 1974 war Rudolf Kirchschläger (1915–2000) als Bundespräsident im Amt. Dieser hat als Hauptmann und Taktiklehrer der deutschen Wehrmacht in der Offiziersschule Wiener Neustadt ein letztes Aufgebot von etwa 1200 Fahnenjunker am 31. März 1945 gegen die zum Angriff auf Wien ansetzenden sowjetischen Truppen befehligt. Das muss selbst für einen Hauptmann der Hitlerwehrmacht ein völlig sinnloser Einsatz gewesen sein und endete folglich mit Tod und schweren Verletzungen vieler junger Männer. Der österreichische Bundespräsident Kirchschläger vertrat eine Ethik, die im Gegensatz beispielsweise zu jener des Österreichers Leo Stern (1901–1982) stand, der als Oberst der sowjetischen Kampftruppen an der Befreiung Österreichs von den Nazis mitgewirkt hat. Dafür musste Leo Stern den Preis seiner nochmaligen de facto Ausbürgerung aus Österreich zahlen.

Fritz Fellner lehnte die Einladung Nennings am 7. Mai 1975 mit folgender Begründung ab:

„Lieber Herr Doktor,

Ihre Aufforderung, zum Thema 1945 einen Aufsatz für Ihre Zeitschrift zu schreiben, ist wirklich eine Versuchung. Es gäbe gerade heute wirklich reizvolle Gegenüberstellungen, etwa:

1945 – 1975 / Befreiung Wiens – Befreiung Saigons / Durchhaltepropaganda der Nazis – Durchhaltepropaganda der US-Militärs / einen Auszug aus dem Völkischen Beobachter aus Jänner / Februar 1945 – einen Auszug aus den Salzburger Nachrichten vom März / April 1975 / Flucht der Bonzen nach sinnloser Zerstörung der Heimat etc. etc.

Aber: ich bin müd geworden, ich mag nicht mehr: ich war jahrelang isoliert, weil ich mich für eine Demokratisierung der Hochschulen eingesetzt habe und sie in der Praxis verwirklicht habe und musste mich dann von den Assistenten, die zu faul waren, etwas zu arbeiten, als >autoritär> und >unmenschlich< beschimpfen lassen und weil ich (wie im Grunde genommen alle anderen wirklich demokratisch denkenden Hochschullehrer) gegen die von [Hertha] Firnberg [(1909–1994) – [Heinz] Fischer [*1938] – [Franz] Skotton [(1923–2005)] in undemokratischester Weise (BSA [Bund Sozialistischer Akademiker] – Stellungnahmen ohne Befragung der Mitglieder) durchgepeitschte Pseudoreform, die nur die Herrschaft der Bürokratie bringt und gegen die die ÖVP deshalb nichts unternimmt, weil sie ihnen doch die Hochschulen nach dem nächsten Wahlsieg komplett ausliefert, so dass sie rein administrativ jede Fortschrittlichkeit unterbinden können, Stellung genommen habe, muss ich mir von Frau Firnberg Beschuldigungen vorhalten lassen, die auf Verleumdungen durch einen Assistenten beruhen, der sich mit mir überworfen hat – kurz: mir reichts‚.

Heute ist bei mir ein Professor aus Chicago zu Gast, wo allein im Fach neuere Geschichte mehr als ein Dutzend Professoren (mit all den nötigen Hilfskräften und materiellen Ausstattungen) arbeiten. Vor kurzem war ich in Warschau und Krakau, wo im Fach Neuere Geschichte jeweils fünf bis sechs Professoren tätig sind – ich bin allein!! Unter solchen Bedingungen kann man nicht Aufsätze schreiben, wie den, den Sie mir vorschlagen und der – nicht nur wissenschaftlich, sondern vor allem politisch notwendig wäre.

Verzeihen Sie diese Epistel, sie erklärt sich daraus, dass ich von Ihrem Vorschlag eigentlich fasziniert war, aber vor den materiellen und psychischen Realitäten einfach resignieren muss.

Mit herzlichen Grüßen Ihr F. Fellner m. p.

Nenning antwortete am 15. Mai 1975 freundlich („ich verstehe sie ungeheuer gut“), wollte den Brief Fellners abdrucken, wozu dieser aber keine Erlaubnis gab. Am 23. Mai 1975 schreibt Fellner zum Abschluss der Diskussion nochmals an Nenning und zitiert aus den von ihm herausgegebenen Tagebüchern von Josef Redlich (1869–1936): „Völlige Wurschtigkeit gegenüber der eigenen Lebensaufgabe: das ist das Charakteristikum des echten Deutsch-Österreichers!“

Heute verkörpern die Van der Bellen, die Kurz und Kogler diese „echten Deutsch-Österreicher“. Wie selbstverständlich führen solche „Deutsch-Österreicher“ die Republik Österreich in das NATO-Bündnis, das mit seinem 1999 beschlossenen „Neuen Strategischen Konzept“ in eine weltweit operierende Interventionsallianz umgewandelt worden ist. Der globale Staatsterrorismus ist institutionalisiert. 1999 hat sich Österreich als Vasall des wieder Kriege führenden Deutschlands am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien beteiligt. Am 7. Oktober 2001 hat die NATO mit den USA an der Spitze den völkerrechtswidrigen Afghanistankrieg begonnen, jetzt nach fast zwanzig Jahren werden diese Truppen, zu denen sich das Österreichische Bundesheer gesellt hat, aus diesem mit Krieg und Ausbeutung ausgebluteten Land abgezogen. In denselben Tagen hisst Innenminister Nehammer die zur Kriegsflagge transformierte Europafahne an der serbisch-nordmazedonischen Stacheldrahtgrenze, um das sich gigantisch aufrüstende Europa vor in Konzentrationslagern festgehaltenen Flüchtlingen abzuschotten. Flüchtlinge gelten als Feinde. Die massenhafte aktive und passive Beteiligung der „Deutsch-Österreicher“ an den Verbrechen des deutschen Faschismus ist die Schande der Vergangenheit. Die Schande der Gegenwart ist die Beteiligung solcher „Deutsch-Österreicher“ an Repression, Krieg und Ausplünderung der Armen durch den Reichtum in aller Welt.


[1] Nachlass Fritz Fellner. Haus‑, Hof- und Staatsarchiv Wien. Der Autor war mit Fritz Fellner recht gut bekannt. In einem seiner Briefe an den Autor hat Fellner am 22. März 1998 u. a. geschrieben: „[…] Ich will diesen Brief aber auch zur Diskussion eines sehr ernsten Themas benützen, ein kritisches Thema, das in Österreich leicht zu Missverständnissen, ja in dem derzeitigen politischen Klima sogar zu politischen Diffamierungen führen kann. Aber ich glaube, Sie kennen mich ganz gut, wissen um meine politische und weltanschauliche Haltung Bescheid. Ich denke öfter an unsere gemeinsame Reise zur Tagung über den 40. Jahrestag der Potsdamer Konferenz [1985 in Berlin] zurück und gerade aus dieser Gesprächsbasis von damals, möchte ich die folgende Argumentation verstanden wissen. […] Inzwischen ist es in Österreich Sitte geworden, alle und alles, was mit dem Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und Österreich verbunden war, mit dem Etikette des „Verbrechens“ zu versehen, weil man den Nationalsozialismus ausschließlich von den – unbestreitbaren – Verbrechen her beurteilt, die im Laufe des Krieges immer grauenhafter geworden sind. Seltsam: meine Generation hat, als sie nach 1945 – auf sich alleine gestellt – versuchte, aus dem ideologischen Chaos herauszufinden – den Krieg als solches als primäres Verbrechen gesehen, wir haben die Erziehung zum Feinddenken als die eigentliche Ursache für all das Ungeheuere erkannt, was geschehen ist. Aber von dieser Grundhaltung haben die Siegermächte sich bald abgewandt, man musste ja die Verbrechen des Nationalsozialismus als „einmalig“ darstellen, weil man weiterhin – beinahe möchte ich zynisch sagen – fröhlich im Feinddenken und Vernichtungskonzeptionen weiterlebte. Hat es Ihnen nie zu denken gegeben, dass die Umdeutung vom „Kriegsverbrechen“ zum – erst später so bezeichneten – Holocaust genau in dem Augenblick einsetzte, als man die deutsche Generalstabsführung in die Nato einführte? […]“

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