Gastautor (Vorbemerkung und Redaktion): Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Der aus einem alten schweizerischen Geschlecht stammende Zürcher Konrad Farner (1903–1974) ist 1923 der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei der Schweiz beigetreten. Bewusst hat der hochbegabte Zwanzigjährige auf eine ihm mögliche akademische Karriere verzichtet und viele Beschwernisse bis hin zur materiellen Verarmung in Kauf genommen. Die berühmten Worte von Martin Luther: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ kennzeichnen gut seine Beharrlichkeit und seine Energie, mit der sich in der Wirklichkeit der Welt für das menschliche Miteinander eingesetzt hat. Mit seiner tapferen Frau Martha und mit zwei kleinen Kindern musste Konrad Farner aus Anlass der konterrevolutionären Ereignisse in Ungarn 1956 vor dem antikommunistischen Mob, den die „Neue Zürcher Zeitung“ als internationales Leitmedium der Bankendemokratie zusammengetrommelt hatte, aus seinem kleinen Häuschen in Thalwil bei Zürich fliehen.
Viele Veröffentlichungen von Konrad Farner haben bleibenden Wert, insbesondere gehören seine Arbeiten zur Kunst und zum Dialog zwischen Christentum und Marxismus zur, wenig benützten, marxistischen Standardliteratur. Zuletzt haben Wolfgang Beutin, Hermann Klenner und Eckart Spoo in ihrem Buch „Lob des Kommunismus. Alte und neue Weckrufe für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen“ Farner in einen welthistorischen Zusammenhang gestellt (Osssietzky 2013). Den hier abgedruckten Vortragstext über das „heroische Vorbild“ Karl Marx hat Farner am 9. / 10. Juni 1948 handschriftlich niedergeschrieben und darüber am 13. Juni 1948 in Zürich vor Mitgliedern der Schweizer Partei der Arbeit gesprochen. Diese war 1943 an Stelle der 1940 verbotenen Kommunistischen Partei getreten. Farner war zeitlebens unter Beobachtung des Polizeidienstes der Bundesanwaltschaft Bern. Wie die im Bundesarchiv Bern überlieferten Fichen in Bern nachweisen, übertrifft die Professionalität des schweizerischen Polizeidienstes bei der Sammlung von personenbezogenen Unterlagen die kleinbürgerliche Stasi der DDR bei weitem. So wie im Kalten Krieg wird Karl Marx heute wieder in den Leitmedien des herrschenden Systems kriminalisiert und tabuisiert. Für den Apostel der herrschenden Reaktion Joseph Ratzinger ist Marx nicht viel mehr als ein Atheist und Rassentheoretiker, vielleicht gerade noch Wirtschaftsanalytiker. Farners Worte geben eine lebendige Erinnerung an Karl Marx.
Der Text ist in Handschrift und Maschineschrift in der Zentralbibliothek Zürich im Nachlass von Konrad Farner überliefert. Frau Sibylle Farner hat mir vor Jahren die Erlaubnis zu dessen Benützung gegeben. Der ganze Text des Vortrages ist wiedergegeben in meiner Biografie „Konrad Farner. Vom Denken und Handeln des Schweizer Marxisten“ (StudienVerlag Innsbruck 2015).
Karl Marx – das heroische Vorbild.
Von Konrad Farner
Inmitten einer Welt, die nach größtem Krieg und Elend, nach heroischem Kampf und Sieg sich immer schneller wieder der Reaktion zuwendet, inmitten von Kräften, die vermeinen, das Rad der Geschichte aufhalten, ja sogar zurückdrehen zu können, ist es gewiss doppelt von Nöten, vorwärts zu sehen, nicht zu verzagen, den Kampf wagemutig aufzunehmen und sich zu rüsten für die große Auseinandersetzung, die der gesamten Arbeiterschaft noch bevorsteht, auch uns in der Schweiz, auch hier in Zürich bevorsteht. Holen wir die Kraft und den Mut, den Willen und die Überzeugungstreue, die notwendig sind, um siegreich zu bestehen, aus den Auseinandersetzungen der Gegenwart und den Kämpfen der Vergangenheit.
[…]
So lasst mich denn, um ein Beispiel, allerdings eines der schönsten Beispiele, vor Augen zu führen, kurz das Leben von Karl Marx umreißen. Er wird im Jahre 1818 geboren, in einem Zeitpunkt, um in der empfänglichen Jugend den revolutionären Geist vor 1848 zu atmen, als 30jähriger 1848 mitzukämpfen, sein späteres Leben als exilierter Revolutionär aufzubauen, die Kommune von 1871 zu erleben und am Vorabend größter Entscheide – bereits 20 Jahre nach seinem Tode erschüttert die erste russische Revolution des Jahres 1905 das Zarenreich in seinen Grundfesten – zu sterben. Seine Heimat ist Trier, im preußisch gewordenen Rheinland, es ist ein Boden, den die große französische Revolution von 1789 gründlich durchackert. Sein Elternhaus endlich: das eines jüdischen Rechtsanwaltes, vom Geiste des 18. Jahrhunderts erfüllt; sein Vater, lebend in der Gedankenwelt der Aufklärung, weiß die Schriften Rousseaus, Lockes, Lessings auswendig. Heimat und Herkunft legen somit den Grund für das Kommende: Das Revolutionäre wird gewissermaßen zur Selbstverständlichkeit.
Das Studium, zuerst in der Hauptsache auf Rechtswissenschaften ausgerichtet, erweitert sich bald in zahlreiche Disziplinen: Höhere Mathematik, Philosophie, Geschichte, Literatur und Poesie. Gleich einer Pflanze, die alle Wurzeln und Blätter nach Nahrung ausstreckt, so studiert der junge Marx die Welt, die sich an den Universitäten Bonn und Berlin theoretisch darbietet. Mit 17 Jahren ist er Student, mit 19 verlobt er sich mit der um 4 Jahre älteren, bildschönen Jenny von Westphalen, der Tochter eines hohen preußischen Staatsbeamten. Wie selbst sein Vater, so wird auch der Vater Jennys Marxens bester Freund – der geistige Horizont erweitert sich durch die vermittelte Bekanntschaft mit der Weltdichtung. Hinzu tritt nun die Freundschaft mit Doktoren und Dozenten vorab der Philosophie und Theologie, er gerät in den geistigen Bann des großen Philosophen Hegel, der die bürgerliche Aufklärung mit seinem grandiosen System der idealistischen Dialektik abschließt. Das Ziel ist eine Professur als Philosoph, aber die reaktionäre Regierung verunmöglicht dies: Seine bereits radikalen Ansichten verschließen ihm die akademische Laufbahn.
Marx wird nun Mitarbeiter an der >Rheinischen Zeitung<, und bald schon, im Herbst 1842, also mit 24 Jahren, Chefredakteur. Der innere Reichtum, den er in seinem ungeordneten, scheinbar unfruchtbaren Studium angesammelt hat, tritt nun in glänzenden Aufsätzen hervor. 1843 gerät er mit der Zensur in Konflikt, er verlässt Deutschland und geht nach Paris. Sein Nebenzweck ist: den Sozialismus zu studieren. Mit der Bekanntschaft mit den französischen Sozialisten wächst die Kritik an der Hegelschen Philosophie; langsam bildet sich der dialektische Materialismus heran, dessen Grundthesen nun durch das Zusammentreffen mit Friedrich Engels ausgebaut werden. Gleichzeitig gerät er in geistige Berührung mit Heinrich Heine; die Tage verbringt er mit Bakunin, dem russischen Anarchisten, mit Proudhon und Cabet, den französischen Utopisten. Aber in seiner Konsequenz überwirft er sich bald mit allen dreien, seine Gedanken schreiten unaufhörlich weiter und weiten sich zu einer neuen, revolutionären Welt. Marx stellt nun den handelnden Menschen in den Mittelpunkt der Anschauung und in seiner Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Philosophen Feuerbach schreibt er den wichtigen Satz, dass die Philosophen bis jetzt die Welt nur verschieden interpretiert hätten, dass es aber darauf ankomme, die Welt zu verändern. Und in der Auseinandersetzung mit den Utopisten entsteht die Klassenkampftheorie: die Sicht ist nun geklärt, die Bahn ist jetzt offen.
Aus Paris ausgewiesen wegen seiner oppositionellen Haltung, übersiedelt Marx nach Brüssel, wo er, inzwischen verheiratet, nach 3 Jahren mit Frau und Kind ebenfalls exiliert wird. >Kommunismus< ist damals das Schlagwort; die Bezeichnung einer eindeutigen, von Arbeitern getragenen politischen und sozialen Bewegung, der nun Marx und Engels in Brüssel näher treten. Jetzt entsteht gemeinsam das >Kommunistische Manifest<, das 1848 erscheint, das erstmalige kühne Auftreten des Historischen Materialismus als Weltanschauung: >Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen … Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. …. Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen … Proletarier aller Länder, vereinigt euch!<
100 Jahre lebendigsten Lebens bezeugen, dass das >Kommunistische Manifest< keine papierene Urkunde einer weltfremden, theoretischen Gelehrsamkeit ist, sondern, dass aus ihm das neuentdeckte eherne Gesetz der Entwicklung spricht und aus ihm der rhythmische Herzschlag der Geschichte klingt.
Und ebenfalls führt dieses Jahr der Revolution Marx wieder nach Deutschland, wo er erneut die Redaktion der nun >Neuen Rheinischen Zeitung< übernimmt. Aber schon ein Jahr später wird diese Zeitung wiederum unterdrückt.
Das ist der eigentliche Wendepunkt seines Lebens. Er wird angeklagt und verteidigt sich in einer genialen Rede vor den Kölner Geschworenen, indem er den Historischen Materialismus auf die Revolution von 1848 anwendet. Er wird freigesprochen, aber ausgewiesen. Das Letzte, was er rettet, ist seine Ehre. Er zahlt alle Schulden der Zeitung und bleibt ohne Honorar. Die Möbel und die gesamte Aussteuer werden in der Not verkauft, mit Frau und Kindern zieht er in völliger Armut nach London, ein geschlagener, aber unbesiegter Revolutionär. Und ihn erwartet das Flüchtlingselend. Ratlos und hilflos steht der Mann dieser Lage gegenüber, nur seine unverzagte, heldenmütige Frau rettet die Situation durch ihr tapferes Wesen: >Sie war mir bald Iphigenie, die den Barbaren sänftigt und bildet, bald Eleonore, die dem sich Zerfallenen, an sich Zweifelnden Ruhe gibt – Mutter, Freundin, Vertraute, Beraterin. Sie war mir das Ideal eines Weibes und sie ist es mir. Und – wenn ich in London nicht zu Grunde gegangen bin, geistig und körperlich, dann verdanke ich es zum großen Teil ihr, die, wenn ich dachte, in dem brandenden Ozean des Flüchtlingselends zu versinken, mir, wie Leukothea dem schiffbrüchigen Odysseus, erschien und wieder Mut gab, zu schwimmen<, so gedenkt Marx seiner Gefährtin.
Um das nackte Leben zu fristen, müssen sogar die Spielsachen der Kinder und oft die Betten ins Leihhaus wandern, ja Marx besitzt wochenlang keine Schuhe, um ausgehen zu können, es fehlen die notwendigen Briefmarken, um die Manuskripte an Verleger zu senden. Drei von sechs Kindern bleiben nicht am Leben, weil die Ernährung ungenügend ist. Tagelang bleibt eine Kinderleiche in der Wohnung, weil es nicht möglich ist, Geld für den Sarg aufzutreiben. Wie lautet doch die ergreifende Stelle im Tagebuch der Mutter: >Ostern 1852 erkrankte unsere arme kleine Franziska an einer schweren Bronchitis. Drei Tage rang das arme Kind mit dem Tode. Es litt so viel. Sein kleiner, entseelter Körper ruhte in dem kleinen hinteren Stübchen, wir alle wanderten zusammen in das vordere und wie die Nacht heranrückte, betteten wir uns auf die Erde. Der Tod des lieben Kindes fiel in die Zeit unserer bittersten Armut. Da lief ich zu einem französischen Flüchtling, der in der Nähe wohnte und uns kurz vorher besucht hatte. Er gab mir gleich zwei Pfund Sterling. Mit ihnen wurde der Sarg bezahlt, in dem mein armes Kind nun jetzt in Frieden schlummert. Es hatte keine Wiege, als es zur Welt kam und auch die letzte kleine Behausung war ihm lange versagt. Wie war uns, als es hinausgetragen wurde zu seiner letzten Ruhestätte<.
Marxens Erwerb, den zu finden er glücklich sein musste, bestand in der Mitarbeit an ausländischen Zeitungen, sein Einkommen war das eines kleinen Heimarbeiters. Und gleichwohl folgte er keinem Auftrag, der ihn abseits seiner Überzeugung gebracht hätte, ja, er kann gar nicht anders als so handeln, wie er bis jetzt gehandelt und wie er bis zu seinem Tode handeln wird. Die Not kehrt nun täglich ins Haus, und wenn Freund Engels nicht wäre, wer weiß, wie schrecklich das Ende gelautet hätte. Engels hilft immer wieder mit Geld und mit Arbeit, die Freundschaft zwischen diesen beiden ist von unsterblicher Größe.
Und doch hat die Verbannung, die Marx in das Studierzimmer zurücktreibt, uns Nachfahren den großen und genialen Nationalökonomen geschenkt, der er so erst wurde. Die Arbeitslosigkeit, im Sinne der Unmöglichkeit, in seinem Beruf jemals wieder zu Stellung und Geldverdienst zu gelangen, lässt ihn der Wissenschaft dienen. Die Ohnmacht des Tatmenschen ist die Möglichkeit des Gelehrten. Das große Werk reift allmählich heran: 1859 erscheint das erste Heft >Zur Kritik der politischen Ökonomie<, 1867 der erste Band des >Kapital<. Die erst das Verständnis erschließende Vollendung des Werkes, im 3. Band, erfolgt 30 Jahre später, nach dem Tode, durch die Hand des Freundes. Marx schreibt den Entwurf, zur Ausarbeitung gelangt er nicht mehr. Sein Werk bleibt Torso, seine Gesundheit ist zu tief geschädigt, er ist zu stark von der materiellen Not verfolgt, zu düster ist seine Lage,
Aber immer ist er seiner Sache treu, so treu, wie es nur je ein Mensch gewesen ist, mit jeder Faser seines leidenschaftlichen Wesens. Doch eben diese Leidenschaft treibt ihn von einem Kampf zu andern. So werden seine Schriften hinreißend in ihrer Glut, so wird sein innerer Reichtum umfassend und vertieft – doch unverweigerlich verrinnt die Zeit, verbraucht sich die Kraft. Er lernt als 50jähriger noch russisch, liest alle europäischen Sprachen, wird in allen Literaturen ein Gelehrter größten Stils. Seine ungeheurere Belesenheit wird zur Souveränität, zur überlegenen Beherrschung der gesamten Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie. Aber das tragische Schicksal will es, dass er sein eigenes Werk unvollendet hinterlassen muss. Er ist als Mensch verbraucht. Sein Leben geht hin, sein stolzes, heroisches Leben. Immer wieder steht er vor neuen Kämpfen vor neuen Mühen: Die Leitung der ersten Internationale bringt die große Auseinandersetzung mit Bakunin, jedoch der geistige Sieg endet in körperlicher Niederlage. Von 1870 an ist er kränklich. Die letzten 13 Jahre sind ein langsames Sterben. 1878 erkrankt seine Frau an einem qualvollen Krebsleiden und stirbt nach 3jährigem Schmerzenslager. Das Leiden des geliebten Wesens bricht auch ihn. 1883 ist er entkräftet, vom Tode gezeichnet, er entschläft und wird im Grabe Jennys beigesetzt.
Die Rede, die Friedrich Engels anlässlich der Bestattung hält, ist in ihrer Schlichtheit das schönste Dokument und Denkmal großer Freundestreue. Sie sei hier im Wortlaut wiedergegeben:
>Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert – aber für immer.
Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühlbar machen, die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat.
Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensbedingungen und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellunten der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt.
Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwertes war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten.
Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. Glücklich schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt – auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht.
So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann. Die Wissenschaft war für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht abzusehen – eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung handelte, die sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität, und zuletzt noch die von Marc Deprez, genau verfolgt.
Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige. ‚Erste Rheinische Zeitung‘ 1842, Pariser ‚Vorwärts!‘ 1844, ‚Brüsseler Deutsche Zeitung‘ 1847, ‚Neue Rheinische Zeitung‘ 1848–1849, ‚New-York Tribune‘ 1852–1861 – dazu Kampfbroschüren die Menge, Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand – wahrlich, das war wieder ein Resultat, worauf sein Urheber stolz sein konnte, hätte er sonst auch nichts geleistet.
Und deswegen war Marx der bestgehasste und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann es kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind.
Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!<
Es sind Worte, erfüllt von echter Trauer und zugleich von jenem wirklichen Mut, der sich keinen Augenblick der Verzweiflung hingibt und den großen Aufgaben des künftigen Kampfes fest ins Auge sieht.
Werte Freunde und Genossen! Ist es nicht erhebend, zu wissen, dass Karl Marx der unsrige ist? Ist es nicht tröstlich, zu erfahren, wie er sein Leben gelebt, wie er sein Wissen uns geschenkt? Wie lautet doch ein charakteristischer Ausspruch von ihm: >Wer so glücklich ist, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu können, sollte auch seine Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen<. Ja, in den Dienst der kämpfenden und leidenden Menschheit.
Handeln wir getreu seiner Maxime. Versuchen wir alle, Hand- und Kopfarbeiter gemeinsam, sein Werk mit unseren geringen Kräften fortzuführen. Was wir alle sind, wir sind es durch ihn, und was die heutige Bewegung ist, sie ist es durch seine theoretische und praktische Tätigkeit. Sein Leben wird immer Vorbild sein, sein Werk wird immer Fortsetzer und Künder finden. Unzählig sind die Großen, die in seinem Namen schufen und schaffen. Er ist es, der das soziale Problem erstmalig auf wissenschaftliche Art und Weise in den Mittelpunkt der Zeit gestellt hat. Wie schreibt doch der bürgerliche Stefan Zweig kurz vor seinem eigenen Tode im Exil: „Marx hat für alle Mal jedem denkenden, fühlenden Menschen es unmöglich gemacht, mit verschlossenen Augen an dieser brennendsten Aufgabe unseres und des nächsten Jahrhunderts vorbeizusehen. Einen neuen Ausgleich zwischen Besitz und Armut zu schaffen, eine gerechtere, gemäßere Verteilung der Werte zu fordern und jeder Form der menschlichen Arbeit ein Recht auf menschenwürdige und kulturelle Existenz zu verleihen – dieser Gedanke ist der Zentralgedanke unseres Zeitalters geworden, er beherrscht unwiderstehlich die Welt und nichts deutet seine Sieghaftigkeit stärker an, als dass auch seine Gegner genötigt sind, heimlich vor ihm zu kapitulieren. Es ist heute ein possierliches Spiel, zu sehen, wie die Reaktion, die großmäulig auszog, den sozialen Gedanken, den sie Marxismus nennt, zu erschlagen, genötigt ist, vor dem Anlauf eine tiefe Kniebeuge zu machen und sich das Wort ‚sozial‘ von den tödlich gehassten Gegner wegzustehlen: die Klerikalen, indem sie sich bei uns christlich-sozial nennen, die Nationalisten, indem sie sich National-Sozialisten nennen und damit anerkennen, dass keine Partei und kein einzelner Mensch sich mehr den Forderungen des sozialen Ausgleichs entziehen kann. Damit dient selbst die Gegnerschaft dem Gedanken, den Karl Marx vor mehr als einem halben Jahrhundert als unerbittliche Forderung der Welt aufgezwungen hat: sie wird ihn nicht erledigen, denn Notwendigkeiten lassen sich zwar verlangsamen, aber nicht aufhalten“.
Die Notwendigkeiten der menschlichen Geschichte lassen sich nicht aufhalten, aber verlangsamen. Es ist jedoch unsere Aufgabe sie zu beschleunigen, es ist an uns, tätig zu sein, denn der Mensch selbst macht seine Geschichte, der lebendige, tätige Mensch. In uns selbst und rings um uns geht die Geschichte vor. Wir selbst setzen uns ein je nach Möglichkeit und Gegebenheit. Seien wir aufmerksam, unermüdlich und treu im Gedenken an all die Opfer, Werke und Taten, die vor uns gebracht und geschaffen worden sind, tragen wir sie kämpfend weiter in eine bessere, hellere Zukunft. Nur dann werden wir unsere Verpflichtung als Sozialisten gerecht, nur so ehren wir unsere großen Toten, ehren wir all die unzähligen lebenden Kämpfer auf der ganzen Welt.