Am 24. April 1921 griffen italienische Faschisten in Bozen einen Trachtenumzug an – der erste Höhepunkt der faschistischen Gewalt gegen die Südtiroler Bevölkerung.
Bozen. Am 24. April 1921 – es war ein Sonntag – lief bereits seit einigen Tagen die alljährliche Frühjahrsmesse in der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen: Damals noch eine Veranstaltung mit Jahrmarktcharakter, und am Sonntag war zum Trachtenumzug aufgerufen. Aus dem ganzen Land kamen Musikkapellen und Menschen in lokalen und traditionellen Gewändern, aus deutschsprachigen Orten und ladinischen Tälern, um eine bunte und fröhliche Parade abzuhalten. Man gab sich betont unpolitisch, trotz der angespannten Situation nach der Festlegung der italienisch-österreichischen Grenze am Alpenhauptkamm, der geradewegs durch Tirol verläuft.
In Rom sahen manche sehr wohl eine politische Implikation: Die Zurschaustellung Tiroler Brauchtums in der neuen italienischen Provinz wurde als „deutsche“ Manifestation betrachtet, per Zufall fand am selben Tag in Nord- und Osttirol eine – folgenlose – Volksabstimmung über den Beitritt zur Weimarer Republik statt. Es waren die von Benito Mussolini gegründeten „Faschistischen Kampfbünde“, die gegen den Bozner Trachtenumzug mobilisieren und vorgehen wollten. Man organisierte per Zug die Anreise von faschistischen Trupps aus Mailand, Brescia und Verona, die sich zur eher kleinen lokalen Gruppe gesellten – schließlich hatte sich ein italienisch-faschistischer Mob von rund 400 Menschen in Bozen versammelt. Und dieser schritt, nachdem verbale Provokationen nicht zum Erfolg geführt hatten, zur Tat: Mit Totschlägern, Pistolen und Granaten wurde der wehrlose Umzug angegriffen, es gab über 50 Verletzte, davon eine zweistellige Zahl schwer, sowie einen Toten: Der Lehrer Franz Innerhofer wurde von den Mussolini-Faschisten erschossen. Die römische Staatsmacht sah dem Treiben zu, die vorsichtshalber anwesenden Carabinieri-Einheiten – man wusste im Vorfeld von den faschistischen Plänen – griffen nicht ein. Im Gegenteil: Die Mörder wurden nach getaner Arbeit von ihnen zum Bahnhof eskortiert, wo sie unbehelligt verschwinden konnten. Nur zwei Männer wurden kurzzeitig verhaftet, aber nach deutlichen Drohungen Mussolinis wieder freigelassen.
Die Vorfälle am 24. April 1921 gingen als „Bozner Blutsonntag“ in die Geschichte und ins Bewusstsein der Südtiroler Bevölkerung ein. Die eigentliche Dimension hatte man zum damaligen Zeitpunkt, vor genau 100 Jahren, noch nicht erfasst: Man reagierte angesichts der bevorstehenden gewaltsamen Italianisierung teilweise mit trotzigem Deutschnationalismus, nicht absehend, dass es vielmehr um einen Angriff auf die Demokratie im Allgemeinen ging, der sich in weiterer Folge nicht auf die deutschsprachige Bevölkerung im Königreich Italien beschränken würde. Mussolini wusste schon, wo er seine ersten Schläge setzen musste: einerseits gegen die Arbeiterbewegung, andererseits eben gegen nationale Minderheiten. Und so war Bozen auch eher eine Art Experiment für den Faschismus: Wie weit konnte man gehen, ohne dass die bürgerliche Regierung einschreiten würde? Die traurige Antwort ist bekannt, denn am Ende wurde Mussolini die Macht am Silbertablett serviert.
Hierfür kehrten die Faschisten nochmals in die Südtiroler Hauptstadt zurück: Am 1. und 2. Oktober 1922 organisierten sie einen politischen Umsturz, den so genannten „Marsch auf Bozen“, wobei der demokratisch gewählte Bürgermeister Julius Perathoner und sogar der römische Regierungskommissär kurzerhand abgesetzt wurden. Dieser Vorgang war abermals nur eine „Generalprobe“: Bald darauf, am 27. Oktober desselben Jahres, kam es zum „Marsch auf Rom“, der zur Machtergreifung Mussolinis in ganz Italien führte: Am 30. Oktober betraute ihn der König bereitwillig mit der „Regierungsbildung“ und der Faschismus hatte sich durchgesetzt. Die Repression gegen die Südtiroler Bevölkerung, ob deutschsprachig oder ladinisch, verstärkte sich in weiterer Folge, mit weitreichenden Zwangsmaßnahmen und sprachpolitischen Verboten. Wer sich zu diesem Zeitpunkt noch Hilfe aus Österreich oder Deutschland erwartete, wurde spätestens in den 1930er Jahren eines Besseren belehrt: Sowohl Dollfuß und Schuschnigg wie auch schließlich Hitler setzten auf das faschistische Bündnis mit Mussolini. Insofern muss man festhalten, dass die Tiroler, nördlich wie südlich des Brennerpasses, wahrlich nicht gerade die begeistertsten NS-Unterstützer waren, die sich im deutschsprachigen Raum finden ließen. Der 1939 geschaffene „Andreas-Hofer-Bund“ (AHB) war eine bürgerliche antifaschistische Widerstandsgruppe, die sich sowohl gegen den italienischen wie den deutschen Faschismus wandte und deren überlebende Mitglieder in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch eine bedeutende Rolle in der neuen Südtiroler Volkspartei (SVP) spielten.
Unterm Strich muss man den Bozner Blutsonntag, sein Andenken und Vermächtnis historisch richtig einordnen – als ersten faschistischen Angriff auf die Südtiroler Bevölkerung, bei dem es in Mussolinis Gesamtkonzept nur am Rande um Sprachen und Ethnien ging. Es war ein Schritt zur Machtübernahme durch den Faschismus, der zwar eine massive und repressive Italianisierungspolitik umsetzte, aber schlussendlich zu viel größeren Verbrechen schreiten sollte, denen die Bevölkerung Italiens und darüber hinaus in den kommenden beiden Jahrzehnten ausgesetzt war: In Komplizenschaft mit dem deutschen Faschismus wurden 9.000 italienische Jüdinnen und Juden ermordet, mindestens 50.000 italienische Zivilistinnen und Zivilisten überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht. Die antifaschistische Resistenza hatte gut 45.000 Gefallene und Getötete zu beklagen – doch es war ihr Verdienst, und hierbei nicht zuletzt der kommunistischen Partisanen, den bedeutenden eigenen Anteil zur Befreiung Italiens vom Mussolini- und Hitler-Faschismus geleistet zu haben. Der Bozner Blutsonntag bleibt eine Mahnung für die verbrecherische Gewalt des Faschismus, der in keiner Weise einer nationalistischen Deutung überlassen werden sollte.