Israel verschärft nach dem brüchigen Waffenstillstand erneut die Blockade des Gazastreifens: Der Grenzübergang Rafah bleibt geschlossen, Hilfslieferungen werden gestoppt. Während die humanitäre Katastrophe weiter eskaliert, warnen UN und Hilfsorganisationen vor der Instrumentalisierung von Hunger als Kriegswaffe – und fordern endlich Konsequenzen von Europa.
Die Umsetzung des jüngsten Abkommens zwischen Israel und der Hamas über einen Waffenstillstand und den Austausch von Geiseln steht auf der Kippe. Nach israelischen Medienberichten hat die Regierung in Tel Aviv beschlossen, den Grenzübergang Rafah – den einzigen Zugangspunkt zwischen dem Gazastreifen und Ägypten – zu schließen und die Durchfuhr humanitärer Hilfsgüter drastisch einzuschränken. Bedingung für eine Wiederaufnahme der Lieferungen sei, dass Hamas die Leichname verstorbener israelischer Geiseln übergibt.
Nach Angaben israelischer Quellen hätte Hamas nach der Freilassung von 20 lebenden Geiseln 28 Leichname übergeben sollen, bislang aber nur vier geliefert. Hamas verweist auf die massiven Zerstörungen durch die israelischen Bombardierungen der vergangenen Monate, die die Bergung vieler Körper klarerweise unmöglich machten. Internationale Organisationen kritisieren Israels Entscheidung scharf: Sie werfen dem Land vor, humanitäre Hilfe als Druckmittel einzusetzen. Caritas, UNRWA und andere Hilfswerke sprechen offen davon, Israel benutze „den Hunger der Bevölkerung als Waffe“.
Waffenruhe gilt nur für eine Seite
Während in Gaza weiterhin Verwüstung und Not herrschen, versucht Hamas Berichten zufolge, ihre Kontrolle über das Gebiet zu festigen. Laut dem Guardian zeigen Videos bewaffnete Kämpfer und Polizei in verschiedenen Teilen des Gazastreifens, offenbar um nach dem Waffenstillstand ihre Autorität zu demonstrieren. Es kommt zu internen Machtkämpfen zwischen Hamas-Einheiten und rivalisierenden Clans, etwa der mächtigen Familie Daghmoush.
Entgegen der Waffenruhe dauern aber israelische Angriffe an. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden allein in den 24 Stunden nach dem Waffenstillstand 44 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet und 29 verletzt. Al-Jazeera berichtet von gezielten Drohnenangriffen auf Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza-Stadt und Khan Yunis, darunter auf Menschen, die nach den Bombardierungen ihre zerstörten Häuser inspizierten. Israel rechtfertigte die Angriffe wie immer mit der Behauptung, es habe sich um „Verdächtige“ gehandelt, die versucht hätten, eine „Sicherheitslinie“ zu überschreiten.
Trümmer, die für 13 Pyramiden reichen würden
Das Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen ist nach UN-Angaben beispiellos. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) schätzt die Menge der Trümmer auf 55 Millionen Tonnen – genug, um den Central Park in New York zwölf Meter hoch zu füllen oder 13 Pyramiden von Gizeh zu errichten. Der Wiederaufbau, so UNDP-Sonderbeauftragter Jaco Cillers, werde rund 70 Milliarden US-Dollar kosten. Allein in den nächsten drei Jahren seien 20 Milliarden nötig, um die Grundversorgung wiederherzustellen.
Europa bleibt wichtigster Handelspartner des Genozidstaats
Trotz der massiven Zerstörungen, der Blockadepolitik und der fortgesetzten Besatzung des Westjordanlands bleibt die Europäische Union Israels wichtigster Handelspartner. Das Handelsvolumen betrug 2024 rund 42,6 Milliarden Euro. Italien importierte Waren und Dienstleistungen im Wert von über einer Milliarde Euro. Organisationen wie Amnesty International Italien, COSPE und Oxfam Italien fordern deshalb, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten endlich klare Konsequenzen ziehen: keine Handelsbeziehungen mehr mit illegalen israelischen Siedlungen und eine Revision des EU-Israel-Assoziierungsabkommens.
„Eine gerechte und dauerhafte Friedenslösung ist unvereinbar mit der andauernden Besatzung und der Existenz illegaler Siedlungen“, betonte Riccardo Noury, Sprecher von Amnesty International Italien. Der Appell kommt kurz vor den Tagungen des EU-Rats und des Europäischen Rates Ende Oktober.
Humanitäre Verantwortung statt politischer Ausreden
Während UN-Organisationen, Menschenrechtsgruppen und Hilfswerke auf die dramatische Lage in Gaza hinweisen, bleibt die internationale Reaktion zögerlich. US-Präsident Donald Trump sprach in Sharm El-Sheikh zwar vom „Wiederaufbau von Gaza“, vermied aber jede klare Position zur Zwei-Staaten-Lösung. Für viele Beobachterinnen und Beobachter steht fest: Solange der Völkermord, die Belagerung, die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur und die Besatzungspolitik fortgesetzt werden, bleibt jeder Waffenstillstand nur eine Atempause in einem anhaltenden Krieg gegen eine völlig entrechtete und wehrlose Bevölkerung.
Quelle: l‘Unità