Jegor Ligatschow ist dieser Tage hundertjährig in Moskau verstorben. „In der Person Gorbatschows und der Mehrheit seiner Helfershelfer haben wir es mit typischer politischer Entartung zu tun. Sie haben die Sache verraten, der zu dienen sie berufen waren, und sind letzten Endes auf die Positionen des Antikommunismus, des Antisowjetismus, des Antipatriotismus übergelaufen“, urteilte der ehemalige „2. Mann hinter Gorbatschow“ später.
Moskau. Wie die russische Nachrichtenagentur TASS meldet, ist das ehemalige Mitglied des Politbüros der KPdSU, Jegor Ligatschow im Alter von 100 Jahren in Moskau verstorben. Er wurde in einfachen Verhältnissen im westsibirischen Gebiet Tomsk geboren, wo er auch den Großteil seines politischen Lebens verbrachte. Von 1965 bis 1983 diente er als Gebietssekretär der Partei in der Region, wo er maßgeblich am Aufbau von Industriekombinaten und Universitäten beteiligt war. Juri Andropow, der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU und Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, holte ihn 1983 nach Moskau, wo er Sekretär des ZK der KPdSU wurde, in dessen Zuständigkeit auch die Kaderagenden fielen. 1985 wurde er in das Politbüro gewählt und galt als zweitmächtigster Mann hinter Michail Gorbatschow. Ab 1988 lehnte er dessen Politik ab und verfolgte den Kurs der Erhaltung der Sowjetunion.
Im Jahr 2005 gab er der russischen Zeitung „Prawda“ ein Interview, das in der Zeitschrift „Rotfuchs“ in deutscher Übersetzung erschien. Wir bringen nachstehend einen Teil dieses Textes.
War die Perestrojka notwendig?
Ein sozialistischer (!) Umbau war notwendig. Für die weitere Stärkung der sowjetischen Großmacht, für ihre Reinigung von Überlebtem und Angeschwemmtem. So war auch die Perestrojka gedacht. So hat sie begonnen. Sie endete aber leider nach sechseinhalb Jahren mit einem konterrevolutionären Staatsstreich, der Zerschmetterung der Sowjetmacht und der Zerstörung der UdSSR.
Wodurch ist die Notwendigkeit der Perestrojka diktiert worden?
In den 8Oer Jahren zeichneten sich Tendenzen ab, die, wenn ihnen nicht Einhalt geboten würde, eine tiefe Systemkrise bewirkt hätten. Die Tempi des Wachstums der Produktion und der Arbeitsproduktivität sanken. Es verstärkten sich die Widersprüche zwischen dem Zentrum und den Unionsrepubliken. Aber das Beunruhigendste war das immer größere Zurückbleiben der Sowjetunion gegenüber dem Westen in der Effektivität der Produktion und der wissenschaftsintensiven Technologie der zivilen Produktion, das heißt beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt. An und für sich war die Perestrojka nicht irgend etwas vollkommen Außergewöhnliches. Zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Etappen unserer Sowjetgeschichte ist ein Umbau durchgeführt worden. Was war zum Beispiel der Übergang von der Politik des Kriegskommunismus zur NÖP? Oder von der NÖP zur Industrialisierung und Kollektivierung? Auch die Perestrojka während des Krieges und danach im Verlauf der Nachkriegswiederherstellung? Und so weiter. Das heißt, wir können eine ganze Reihe von Beispielen dafür anführen, daß eine Perestrojka in unserer Gesellschaft begonnen und dann sehr erfolgreich verwirklicht wurde. Warum? Da ist sie – die Grundfrage! Weil sie im Rahmen des sozialistischen Sowjetsystems erfolgte.
Hat aber nicht Gorbatschow letztlich davon gesprochen, daß das Sowjetsystem nicht reformierbar sei?
Drei Tage, nachdem Jelzin Gorbatschow aus dem Kreml gejagt hatte, erklärte dieser in Anwesenheit seines Spießgesellen Jakowlew einem amerikanischen Fernsehjournalisten, daß er zu der Schlußfolgerung über die Nichtreformierbarkeit des Sowjetsystems gekommen sei.
Gab es verschiedene Phasen der Perestrojka?
Ich teile sie in zwei Etappen ein. Die erste – ungefähr drei Jahre und etwas mehr. Die gesamte Statistik, alle Angaben zeugen davon, daß die Sache in dieser Zeit aufwärts ging. Damals trug der Umbau noch einen sozialistischen, sowjetischen Charakter. Die Industrieproduktion wuchs um 4 bis 5 Prozent im Jahr. Und der Maschinenbau erreichte sogar 7 bis 8 Prozent Zuwachs, die Landwirtschaft 3 bis 3,5 Prozent. 128 Millionen Quadratmeter Wohnfläche wurden übergeben. Die positiven Prozesse entwickelten sich meiner Ansicht nach anfangs auch in der Partei, in der Gesellschaft insgesamt, deshalb hat das Volk die Sache zunächst unterstützt. Aber dann …
Und was geschah danach?
Es ereignete sich ein regelrechter Erdrutsch. Ein Absinken. 1991 – im letzten Jahr der Sowjetmacht – hat sich die Industrieproduktion um 10 Prozent verringert. Die Landwirtschaft fiel um 5 Prozent zurück, der Bau von Schulen um 15 Prozent. Die Hauptursache bestand darin, daß wir die ökonomischen Gesetze der Entwicklung der Gesellschaft verletzten. Und was war das Resultat? Wenn 1985 die Geldüberschüsse der Bevölkerung rund 20 Milliarden Rubel betrugen, was sich noch ertragen ließ, dann waren es 1989 schon 63 Milliarden, 1990 sogar 81 Milliarden und 1991 schließlich 125 Milliarden – eine kolossale Konzentration an „überflüssiger“ Geldmasse, für die keine Waren zur Verfügung standen. Alles, was es in den Läden gegeben hatte, war hinweggefegt. Die Regale waren leer.
Wie konnte das passieren?
Ende 1987. Sitzung des Politbüros. Wir diskutieren den Plan für das kommende Jahr. Ryshkow macht im Namen des Ministerrats den Vorschlag, 1988 den Übergang zu frei vereinbarten Preisen zu beginnen. Er sagt: Laßt uns anfangen, wenn auch in geringem Maßstab – mögen 95 Prozent der Produktion nach wie vor über Staatsauftrag laufen, und bei fünf Prozent werden wir die Möglichkeit geben, daß sie durch die Betriebe so realisiert werden, wie sie es selbst für nötig halten. Um sie materiell zu interessieren. Und was nun? Es kommt zur Debatte. Gorbatschow, Jakowlew, Medwedjew sagen wie aus einem Mund: Was sind schon 5 Prozent – Minimum 30! Für den Anfang so: 30 Prozent der Produktion – nach frei vereinbarten Preisen. Das heißt faktisch Einführung des freien Marktes! Ohne jede Vorbereitung darauf, ohne jede Marktstruktur. Wir (Ryshkow, ich und andere) antworten: Man muß behutsam vorgehen, experimentieren, irgendwelche Zweige auswählen, irgendwelche Regionen. Als Antwort – nein, nichts auf die lange Bank schieben! Wie war dann der Gang der Ereignisse? Die Betriebe übten Druck aus, verlangten kolossale Preise, erhielten sofort gewaltige Gelder. Statt die Mittel auf die technische Neuausrüstung und Erneuerung der Grundfonds zu richten, weiteten sie die Lohnfonds aus. So erschien jene gewaltige Geldmasse.
Der Zerfall wurde in der Politik fortgesetzt?
Alles gemäß Lenin: Politik und Ökonomie sind untrennbar. Die antisozialistischen Kräfte, die zu dieser Zeit immer aktiver zur Offensive übergingen, bemühten sich, jede beliebige Möglichkeit zu nutzen. In dieser Phase ist die sogenannte Kooperativenbewegung entstanden. Das geschah unter dem Vorwand der Verwirklichung des maßlos verzerrten Leninschen Erbes.
Wohin hat das geführt?
Schon 1989 erhielten diese „Genossenschaften“ 19 Milliarden Rubel an verfügbaren Mitteln. Bald kam es zur Desorganisierung des gesamten Verbrauchermarktes und danach zur Empörung einer gewaltigen Zahl von Menschen, die ihr Vertrauen in die Partei und den Staat verloren hatten. Warum geschah das? In der Person Gorbatschows und der Mehrheit seiner Helfershelfer haben wir es mit typischer politischer Entartung zu tun. Sie haben die Sache verraten, der zu dienen sie berufen waren, und sind letzten Endes auf die Positionen des Antikommunismus, des Antisowjetismus, des Antipatriotismus übergelaufen.
Warum?
Ich bin zu der Schlußfolgerung gekommen: Dies geschah aus dem Drang nach Privateigentum. Jetzt sind sie doch alle Dollarmillionäre, und viele sogar Dollarmilliardäre. Das trifft sowohl auf Nasarbajew als auch auf Gorbatschow, Jelzin, Karimow, Nijasow, Schewardnadse und andere zu. Sie alle besitzen ein gewaltiges Vermögen. Dafür sind die Völker eines großen Landes zu Opfern ihrer Politik geworden.
Übersetzung: Eberhard Bock
Quelle: Rotfuchs