Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Ältere Auflagen von Meyers Lexikon definieren „Amoklaufen“ als Töten „in blinder Wut“ und geben zur Überlegung, dass dieses vielleicht als eine „akute Geisteskrankheit“ aufzufassen sei. In einer Schule in Graz wurden am 10. Juni durch den Amoklauf eines Jugendlichen 11 Menschen getötet. Die politischen Eliten Österreichs, in die sich die Bürgermeisterin von Graz Elke Kahr erfreulicherweise nicht einreiht, zelebrieren, wenn Medien anwesend sind, ihre persönliche Anteilnahme. Wissenschaftliche Fachleute in Psychologie und Psychiatrie argumentieren im Großen und Ganzen in der Nachfolge von Sigmund Freud und auch von Stefan Zweig, der nach dem ersten Weltkrieg mit seiner im Deutschland der Faschisten verbotenen Meistererzählung „Der Amokläufer“ die durch bürgerliche Vorgaben verursachten Deformationen mit ihrem Zwang zur Nivellierung an einem Individuum aufgegriffen hat
Mit dem Amoklauf in Graz finden zeitgleich staatliche Amokläufe mit massenhaften Tötungen statt, über die in Österreich nur wenig kolportiert wird. In dem in den österreichischen Medien totgeschwiegenen Statement vom 27. Mai 2025, also vierzehn Tage vor dem Grazer Amoklauf eines Individuums, hat Edouard Beigbeder, UNICEF-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika, über den anhaltenden Amoklauf des israelischen Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung festgehalten:
„Innerhalb von 72 Stunden an einem Wochenende haben die Bilder von zwei grausamen Angriffen einmal mehr gezeigt, wie unbarmherzig dieser rücksichtslose Krieg gegen Kinder im Gaza-Streifen ist.
Am Freitag sahen wir Videos, auf denen die Leichen verbrannter und zerstückelter Kinder der Familie al-Najjar aus den Trümmern ihres Hauses in Khan Younis gezogen wurden. Von zehn Geschwistern unter 12 Jahren hat Berichten zufolge nur eines überlebt, allerdings mit schweren Verletzungen.
Am frühen Montag sahen wir Bilder von einem kleinen Kind, das in einer brennenden Schule in Gaza-Stadt eingeschlossen war. Bei diesem Angriff in den frühen Morgenstunden wurden Berichten zufolge mindestens 31 Menschen getötet, darunter 18 Kinder.
Diese Kinder – Leben, die niemals auf Zahlen reduziert werden sollten – sind nun Teil einer langen, erschütternden Liste unvorstellbarer Schrecken: die schweren Verstöße gegen Kinder, die Blockade von Hilfsgütern, der Hunger, die ständige Zwangsvertreibung und die Zerstörung von Krankenhäusern, Wassersystemen, Schulen und Häusern. Im Grunde genommen wird das Leben im Gazastreifen selbst zerstört.
Seit dem Ende des Waffenstillstands am 18. März sind Berichten zufolge 1 309 Kinder getötet und 3 738 verletzt worden. Insgesamt wurden seit Oktober 2023 mehr als 50 000 Kinde getötet oder verletzt. Wie viele tote Mädchen und Jungen braucht es noch? Wie viel Grauen muss noch geschehen, bevor die internationale Gemeinschaft ihren Einfluss geltend macht und mutige, entschlossene Maßnahmen ergreift, um diesem rücksichtslosen Töten von Kindern ein Ende zu setzen?“
In einem Statement vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) vom 10. Juni 2025 heißt es:
„In den letzten zwei Wochen musste das Feldkrankenhaus des Roten Kreuzes in Rafah zwölf Mal sein Verfahren für Massenanfälle von Verletzten aktivieren und eine große Anzahl von Patienten mit Schuss- und Schrapnellwunden aufnehmen. Die Zahl der in diesem Zeitraum aufgenommenen Patienten (933 Fälle, darunter 41, die bei der Ankunft für tot erklärt wurden) ist höher als die Zahl aller Massenanfälle in den zwölf Monaten zuvor zusammen.
Die überwältigende Mehrheit der Patienten bei den jüngsten Vorfällen gab an, dass sie versucht hatten, Hilfslieferungen zu erreichen.“
Unsere politischen Eliten lassen die Opfer des israelischen Amoklaufes gegen das palästinensische Volk unberührt, sie schauen weg!
Das Grazer Ereignis ist bedrückend. Desanka Maksimovic hat über den Tod von 400 Gymnasiasten infolge eines gezielten Amoklaufes deutscher Faschisten in dem etwa 700 km von Graz entfernten Kragujevac erschütternd geschrieben:
„Es ist geschehen und wahr,
dass an einem Tag in einem Land
auf dem bergigen Balkan,
eine Schülerschar den Märtyrertod fand.
Alle geboren im selben Jahr,
in der Schule die gleiche Freude und Plage,
zu den gleichen Festlichkeiten geführt,
zugleich gegen die selben Krankheiten geimpft
und alle starben
am selben Tag …
Noch fünfzig Minuten
bevor sie starben,
saßen die Schüler
in ihren Bänken,
mussten Aufgaben lösen, denken.
Wie weit kommt ein Wanderer mit Begleiter,
wenn er in fünf Stunden … Er soll
und so weiter…
Die Köpfe voll
gleicher Zahlenreihen,
und in Heften, in den Mappen
viele sinnlose
Einser und Dreier.
Gestopft voll die Taschen
mit gleichen Träumen
von Heimatliebe und von Freunden,
wie man als Schüler träumt im geheimen.
Und jeder glaubte,
er hätte vor sich,
noch endlos vor sich
ein weites Feld,
um endlich zu lösen
alle Aufgaben der Welt.
Ganze Reihen von Jungen
standen dann bereit,
fassten sich an den Händen
nach dem letzten Unterricht
und liefen zum Erschießen,
als berühre der Tod sie nicht.
Sie alle gingen ein zur selben Stunde
in die Ewigkeit.
Es ist geschehen und wahr,
dass an einem Tag in einem Land
auf dem bergigen Balkan
eine Schülerschar den Märtyrertod fand.“
Nachweis: Aussendungen der palästinensischen Botschaft; Gedicht von Desanka Maksimovic zitiert nach Zoran Konstantinovic: Deutsch-serbische Begegnungen.Überlegungen zur Geschichte der gegenseitigen Beziehungen zweiter Völker. Edition Neue Wege 1997, S.132 f.