Die erstaunliche Orientierung der Zugvögel beruht offenbar auf quantenphysikalischen Prozessen im Auge – ein faszinierender Einblick in die Natur, der Biologie und Quantenmechanik miteinander verknüpft.
Oldenburg/Oxford. Jedes Jahr machen sich Millionen Zugvögel auf eine oft tausende Kilometer lange Reise – und das ganz ohne Navigationsgerät, Straßenschilder oder elterliche Begleitung. Schon junge Rotkehlchen finden ihre Route zuverlässig in den Süden, ebenso wie Störche, die oft Wochen vor ihren Eltern abfliegen. Die Basis für diese spektakuläre Leistung scheint nun in einem bisher kaum verstandenen Mechanismus zu liegen: der Quantenphysik.
Drei Kompasse, ein Ziel
Zugvögel verfügen über ein beeindruckendes Repertoire an Navigationshilfen: Sie orientieren sich nachts an Sternen, tagsüber an der Sonne und können selbst bei bewölktem Himmel mithilfe des Erdmagnetfelds ihre Richtung finden. Diese drei „Kompasse“ – Sternen‑, Sonnen- und Magnetkompass – helfen ihnen, die geografische Lage zu bestimmen und ihren Kurs zu halten.
Während die Orientierung an Himmelskörpern vergleichsweise gut erforscht ist, blieb der sogenannte Magnetsinn lange ein Rätsel. Wie können Vögel das extrem schwache Erdmagnetfeld überhaupt wahrnehmen? Der Biologe Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg hat sich genau dieser Frage verschrieben – und dabei überraschende Hinweise auf einen quantenmechanischen Prozess im Vogelauge gefunden.
Quantenphysik im Netzhaut-Zapfen
Lange wurde vermutet, dass Magnetitkristalle – winzige eisenhaltige Partikel im Schnabel – als Sensoren dienen. Doch Mouritsens Forschung ließ daran Zweifel aufkommen. Stattdessen richtet sich der Fokus zunehmend auf lichtempfindliche Pigmente im Auge, genauer: auf das sogenannte Cryptochrom‑4 (Cry4). Dieses Protein sitzt in den Zapfen der Netzhaut – und reagiert besonders empfindlich auf blaues Licht, etwa von Mond oder Sternen.
Zusammen mit dem Chemiker Peter Hore von der University of Oxford untersuchte Mouritsens Team, wie Cry4 auf magnetische Felder reagiert. Der Schlüssel liegt in einer bizarren Eigenschaft von Elektronen: dem sogenannten Spin. Wenn Cry4 durch Licht aktiviert wird, kommt es zu einer Elektronenwanderung, bei der ein sogenanntes Radikalpaar entsteht – zwei Molekülteile mit je einem ungepaarten Elektron. Diese Elektronen „spinnen“ nun im quantenphysikalischen Sinn, und genau dieser Spin wird vom Magnetfeld der Erde beeinflusst.
Noch viele offene Fragen
Klingt nach Science-Fiction? Ist aber solide Wissenschaft – mit noch einigen Fragezeichen. Bislang konnte der Effekt nur in Laborexperimenten mit künstlich hergestelltem Cry4 nachgewiesen werden – und unter Magnetfeldern, die deutlich stärker sind als das natürliche Erdmagnetfeld. Ob der Mechanismus auch in lebenden Tieren unter realen Bedingungen funktioniert, ist noch nicht abschließend geklärt.
Trotzdem sind die Forschenden optimistisch. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass Vögel das Magnetfeld womöglich sogar „sehen“ könnten – in Form eines zusätzlichen Wahrnehmungskanals, der ihnen die Richtung anzeigt. Das Verständnis solcher natürlichen Quantenprozesse könnte nicht nur die Vogelforschung revolutionieren, sondern auch neue technologische Entwicklungen inspirieren – etwa in der Navigation oder Sensorik.
Ein Blick in die Zukunft
Mouritsen und Hore arbeiten aktuell daran, den Mechanismus in biologischen Systemen wie Zellkulturen nachzubilden, um dem Rätsel endgültig auf den Grund zu gehen. Was schon jetzt klar ist: Die Natur nutzt offenbar raffinierte physikalische Prinzipien, die der menschlichen Vorstellungskraft bislang kaum zugänglich waren. Und Zugvögel zeigen uns, dass selbst winzige Augenblicksphänomene – im wahrsten Sinne des Wortes – den Weg über Kontinente weisen können.
Quelle: Der Standard