Teheran. Vergangenen Samstag erklärte Hossein Salami, Chef der iranischen Revolutionsgarden, dass der heutige Tag der letzte Tag der Demonstrationen sei und die Demonstrierenden nicht ihre Ehre an die USA und die „zionistische Regierung“ verkaufen sollten. Diese Ansprache erfolgte bei einer öffentlichen Begräbniszeremonie für die Ermordeten eines Anschlags beim schiitischen Schrein Schah‑e Cheragh in der südiranischen Stadt Schiras, das das Regime gleichzeitig als Machtdemonstration gegen die Kämpfe des iranischen Volkes nutzte – ohne Erfolg. Dieser „Aufruf“, der als Drohung zu verstehen ist, wurde mit noch zahlreicheren Protestkundgebungen und Konfrontationen in dutzenden Städten und Universitäten, mit lokalen Polizeieinheiten und Basijis – der islamistischen Jugendbewegung des Regimes – an den Universitäten beantwortet. ´
Mit wohl mehr als 200 Getöteten – verifizierte Todesangaben existieren nicht – und 14.000 Verhafteten, von denen ca. 1.000 sich bald in Schauprozessen verantworten müssen, stellen sich viele Fragen rund um die Hintergründe des Aufstandes und welche Rolle dabei die Arbeiterklasse spielt.
Die Krise der Islamischen Republik
Die knapp 50 Tage, in denen zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Arbeitslose in unterschiedlicher Form das iranische Regime herausgefordert haben, sind nicht zuletzt das Ergebnis neoliberaler Spar- und Privatisierungsprogramme des Regimes seit 2010. Ein wirtschaftlicher Krisenzyklus, welcher innenpolitisch von drei Entwicklungen markiert wurde: 1) die Erodierung der sozialen Basis, wodurch das Regime nur über eine Mischung aus Bestechung, Klientelpolitik, Einschüchterung und roher Gewalt regiert, 2) die Entlarvung des reformistischen Flügels des Regimes und letztlich, 3) das stetige Wachstum von Klassenbewusstsein und organisierter Arbeits- und Massenkämpfe angesichts der kapitalistischen Ausbeutung und neoliberaler Kürzungsmaßnahmen.
1) Die soziale Basis des iranischen Regimes ist erodiert; die Vorstellungen einer islamischen Fürsorge für die Verelendeten, Tagelöhner, Witwen, Kranken und Mütter hat spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhundert jegliche Legitimation verloren. Selbst sozialkonservativ geprägte Volksschichten der älteren Generationen, insbesondere unter der persischen Mehrheitsgesellschaft, welche die dekadente, unterdrückerische Schah-Regierung in Erinnerung hatten, zweifeln an der Legitimation der „Welayet‑e Faqih“ – zu Deutsch, der Herrschaft islamischer Rechtsgelehrter. Im Zusammenhang von Korruption, Vetternwirtschaft und einer tiefen sozialen Polarisierung, da Arbeits- und Sozialrechte immer weiter aufgeweicht worden sind, der Mindestlohn längst bedeutungslos und die kapitalistische Verwaltung auch in Bereichen der Bildung, Kultur, Ökologie und Familienpolitik katastrophale Konsequenzen nach sich zieht, überzeugt die antiimperialistische Rhetorik des Regimes immer weniger. Zwar ist die Existenz des imperialistischen Sanktionsregimes in der Misere des Landes immer zu nennen, aber das Regime benutzt die Sanktionen als Ausrede für ihre eigene volksfeindliche Politik.
2) Der reformistische Flügel des islamischen Regimes („Eslah Talaba“) wurde von Teilen der iranischen Bourgeoisie, insbesondere der kleineren Gewerbetreibenden auf den Basaren und im Export tätigen Unternehmen, jahrelang als kleineres Übel dargestellt und gegenüber klerikalen Hardlinern in Stellung gebracht. Die sogenannte „grüne Revolution“ 2009 rund um den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Musawi beispielsweise repräsentierte nicht zuletzt einen Konflikt regimenaher Kräfte und Anhänger eines „schiitischen Reformismus“ innerhalb des iranischen Klerus mit den Hardlinern rund um Ayatollah Khamenei. Die Musawi-Clique verlor den internen Machtkampf und ließ ein desillusioniertes iranisches Volk zurück, für die die Islamische Republik von Korruption, Repression und zunehmender Verelendung zerfressen war. Dass dieser Aufstand scheitern musste, lag auch daran, dass die Arbeiterklasse als Klasse für sich – also in Form von Streiks, Betriebsversammlungen, Arbeitskämpfen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung der Kapitalistenklasse – nicht präsent war. Mehr noch, die von westlichen Medien und Regierungen romantisierte „grüne Revolution“ beinhaltete keinerlei soziale Programmatik für die Arbeiterklasse, gegen die rasant ansteigende (Jugend-)Arbeitslosigkeit bis 2010 oder Auswege aus der Misere der wirtschaftlich unterentwickelten Grenzprovinzen wie Kurdistan, Chusistan und Belutschistan.
Die Rückkehr des organisierten Klassenkampfes
Doch, und dies führt zum dritten Punkt (3), haben die kleineren, isolierten Arbeiter- und Armenaufstände seit den 2010er-Jahren ein wachsendes Klassenbewusstsein gefördert, welches die Gründung von Betriebsgruppen, Gewerkschaften, Streikkomitees in verschiedenen Sektoren bis hin zu halblegal operierenden marxistischen Arbeiterzirkeln ermöglicht haben, wie das Komitee Sazmandehi‑e Amal‑e Kargari und die klassenkämpferische Gewerkschaft in der Zuckerrohrfirma Haft Tapeh in Ahwas, die Arbeiterführer wiederum hervorgebracht haben, welche in öffentlichen Ansprachen für Arbeiterkontrolle und die Verstaatlichung strategischer Sektoren plädieren. Dieser Betriebsrat in der Stadt Shush und der Betriebsrat des Stahlriesen INSIG Group vertreten mehrere tausende Arbeiterinnen und Arbeiter in der verarmten Provinz Chusistan und haben trotz ihres halblegalen Status‘ es geschafft, korrupte Geschäftsleiter zu feuern, Lohnrückstände und sicherere Arbeitsbedingungen einzufordern und im Falle Haft Tapehs, dem Regime sogar die Verstaatlichung aufzuzwingen. Diese Kampagne wurde erfolgreich durchgeführt, indem in der nahe liegenden Stadt Shush Protestversammlungen abgehalten wurden, an denen sich viele der Familien, aber auch junge Arbeitslose und Pensionisten beteiligten. Durch den Einbezug des Volkes in den konkreten Betriebskampf konnten auch im Falle von Streikbemühungen des Betriebsrates der INSIG Group Siege errungen werden.
Obwohl viele streikende Arbeiterinnen und Arbeiter samt ihrer Führungsfiguren Polizeigewalt, Spionage und Inhaftierungswellen ausgesetzt sind, haben diese Organisationen es geschafft, den schmalen legalen Raum und die Legitimationskrise des Regimes auszunutzen, um ihren organisierten Kampf weiterzuführen. Dieses wachsende Klassenbewusstsein läuft also parallel zu den Offensiven des iranischen Regimes. Im Jahr 2019 explodierte der soziale Sprengstoff, der sich über die jahrelange Verschlechterung der ökonomischen, demokratischen und ökologischen Lage angehäuft hatte. Als die Regierung des abgewählten Präsidenten Hassan Ruhani Subventionen für Benzin und kurz davor die Kürzung von Subventionen für Weizen durchpeitschte, wurde das Regime mit Klassen- und Massenkämpfen konfrontiert, die auch in Streiks mündeten. Streiks aber, die, ähnlich wie bei den aktuellen Klassenkämpfen, sofort in politische Streiks mündeten und gemeinsam mit Pensionistinnen und Pensionisten, Studierenden, Arbeitslosen und kleinen Selbstständigen den Sturz des Regimes forderten. Denn Abschaffung der Subventionen gekoppelt mit weiteren Austeritätsmaßnahmen, z.B. im Bildungsbereich und der öffentlichen Infrastruktur, vernichteten die Kaufkraft relevanter Volksschichten und verschlimmerten die Inflationsentwicklung, was bis zum heutigen Tage verheerend ist. In einem der ölreichsten Länder der Erde verdoppelte bzw. vervierfachte sich der Preis für Treibstoff und damit auch Transport- und Produktionskosten schlagartig. Dies betraf nicht nur die Arbeiterklasse, sondern ruinierte auch kleine Gewerbetreibende. Vom 14. bis zum 19. November organisierten Gewerkschaften, darunter auch Betriebsgruppen der regimenahen „Islamischen Arbeiterräte“, gemeinsam mit halb- und illegalen Betriebsgruppen, Streikkomitees und Studentenkomitees für eine Rücknahme aller neoliberalen Austeritätsprogramme.
Diese Klassenkämpfe resultierten in einer Niederlage, tausenden Verhafteten und bis zu 1.500 Toten. Die beispiellose Welle der Repression kam nicht überraschend, denn das Regime weiß um die Macht der organisierten Arbeiterklasse, waren es doch die „Shoras“, also Arbeiter- und Betriebsräte, welche die bewaffneten Kämpfe in Betrieben, Sektoren, aber auch Arbeiter- und Armenvierteln organisierten. Viele Kommunistinnen und Kommunisten der Tudeh-Partei spielten gemeinsam mit klassenkämpferischen Arbeitern bis zum bitteren Ende ihrer physischen und organisatorischen Vernichtung durch das Regime eine herausragende Rolle.
Von verstreuten Streiks bis zum revolutionären Generalstreik?
Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter kämpfen auch seit der Ermordung Jina (Mahsa) Aminis, wiederum ist eine starke Konzentration von Arbeitskämpfen, Sit-ins, Straßenschlachten etc. in den Provinzen Kurdistan und Chusistan festzustellen. Doch entgegen den Behauptungen bürgerlicher Medien und gewisser linker bzw. kurdischer Gruppen kann diese Konzentration nicht allein durch die gerechtfertigte Wut über die Unterdrückung der kurdischen Minderheit im Iran erklärt werden. Auch in der Industriestadt Arak, im von Arabern, Kurden, afghanischen Wanderarbeitern und Luren bewohnten Chusistan bis hin zum völlig desolaten Belutschistan sind neben Studierenden viele Arbeiterinnen und Arbeiter mit Repressionen überzogen worden. Die erfolgreichen Streikaktionen von Schoras, also der Schaffung von Arbeiterräten, in den Öl- und Gasfeldindustrien in Asaluyeh, den Raffinerien in Abadan bzw. der petrochemischen Industrie in Bandar Abbas sind eine reale Bedrohung für das Überleben des Regimes. Doch blieben die Streiks verstreut und konnten nie den Charakter eines sektoralen, unbegrenzten Arbeitskampfes in Verbindung mit den Massendemonstrationen erreichen. Viele der heute privatisierten bzw. staatlichen, vom Regime gelenkten Betriebe wie im Bergbau, der petrochemischen Industrie und in den Ölraffinerien wurden bis Anfang der 1980er-Jahre praktisch unter Arbeiterkontrolle betrieben. Ohne die Arbeiterräte und die Intervention der kommunistischen Tudeh-Partei wäre die Revolution gegen das volksfeindliche Schah-Regime nicht gelungen.
Seit 2018 existiert zudem ein zentrales Koordinationskomitee klassenkämpferischer Lehrerinnen und Lehrer, die es geschafft haben, die landesweit am besten vernetzte Arbeiterorganisation zu gründen, und in den aktuellen Protesten eine herausragende Rolle dabei spielen, die demokratischen Forderungen der Schülerinnen und Schüler gegen die islamischen Sittenregeln mit den Forderungen für eine Erhöhung der Löhne, der Renovierung und Ausstattung der Schulen etc. zu verbinden. Viel herausragender als noch 2019, haben die involvierten klassenkämpferischen Lehrerinnen und Lehrer in dieser Protestwelle versucht, den Widerstand gegen die brutale Repression gegen die Schülerinnen und Schüler zu organisieren, sei es durch Sit-ins, Fotoaktionen oder offiziell verlautbarte Streiks, welche das Regime prophylaktisch dazu bewegten, in etlichen Städten Schulen vorzeitig wegen „Luftverschmutzung“ oder „Grippewellen“ zu schließen. Berichten vor Ort zufolge, haben Lehrende an Schulen, wo regimenahe Schulleiter die Lehrerstreiks durch Androhung von Massenentlassungen und persönlichen Drohungen verhindert haben, schlicht die Unterrichtsstunden dafür genutzt, um über die Proteste zu reden. An anderen Schulen wurde Geld gesammelt, um hohe Geldstrafen für Verstöße von Schülerinnen gegen die islamischen Sittenregeln zu bezahlen.
Dieses hohe politische Bewusstsein erwuchs über Jahre hinweg und fand noch vor Ausbruch der Proteste am nationalen „Lehrertag“ am 2. Mai ihren Höhepunkt. An dutzenden Schulen beteiligten sich landesweit Lehrerinnen und Lehrer an Streikaktionen, die brutal vom Regime unterdrückt wurden, jedoch mit einer ebensolchen Gegenwehr beantwortet wurden. Studentenkomitees an Universitäten beteiligen sich insofern an diesen Streikversuchen, als fortschrittliche Dozierende und Studierende gemeinsam die Abhaltung des Unterrichts blockieren. An den größten Universitäten des Landes herrschte wochenlang der Ausnahmezustand, insgesamt haben an etwas über 100 Universitäten Protestversammlungen, Kämpfe mit den Paramilitärs des Regimes, mit den Basijis, und Schließungen von Universitäten den Normalbetrieb verunmöglicht. In den kommenden Tagen wird versucht werden, die Abhaltung von virtuellen Lehrveranstaltungen und solchen in Präsenz zu sabotieren.
Doch, wie die Tudeh-Partei von Anfang an gefordert hat, bleibt eine Verbindung all dieser Kämpfe, ein koordinierter Volkskampf der Streikkomitees der Arbeiter und Studierenden mit den Straßenkämpfen aus. Dies ist mitunter der Repression des Regimes geschuldet, welches den Internetzugang wirksam unterbindet. Sogenannte Filterbrecher, die erworben werden, um Sperren zu umgehen, werden zunehmend unwirksam. Abgesehen davon ist die Abwesenheit einer marxistisch-leninistischen Kampfpartei der Arbeiterklasse ein verstärkender Faktor.
Auch Stimmen aus dem Iran, wie das Komitee Sazmandeh‑e Amal‑e Kargari, betonen, dass die Durchführung eines Generalstreiks ohne eine politische Avantgarde unter den heutigen Bedingungen im Iran schwerlich durchzuführen ist. Die fortschrittlichen Kämpfe 1979, bevor diese ab 1980 in eine Konterrevolution der Mullahs degenerierten, wie auch die Klassenkämpfe seit 2019 bieten ein Lehrstück darin, dass kein politischer Aufstand, ohne die Zentralität der Arbeiterklasse in den Kämpfen voranzustellen, Massencharakter gewinnen kann. Wilde Streiks, Straßenschlachten und die Kämpfe auf kultureller Ebene sind notwendig, auch die Opferbereitschaft der Jugend im Kampf mit dem hochgerüsteten Regime und ihrer Folterknechte ist beeindruckend. Doch die objektiven Grundlagen im Iran drängen geradezu nach einer Revolution gegen das Kapital und seine Regierung, aber auch gegen das von den USA aufgesetzte Sanktionsregime, das erheblich zum Mangel an Medikamenten sowie Produktionsmitteln beigetragen hat. Da die Arbeiterklasse aber nicht über ihre Kampfpartei verfügt, um in die Offensive zu gehen und das Regime zu stürzen, sind die Aussichten eines erfolgreichen Ausgangs dieser Kämpfe mehr als düster.
Dennoch bedeutet das nicht, dass diese Volkskämpfe umsonst wären, das Gegenteil ist der Fall. Denn die Kämpfe, welche insbesondere die Jugend und die Frauen tragen, werden die Massen politisieren, sie können den Kampfwillen stählen und die Legitimationskrise des Regimes gegenüber breitesten Volksschichten vertiefen. Die Unfähigkeit des Regimes, auch nur progressive Reformen, angesichts der erschütternden Mobilisierungen seit Mitte September, vorzuschlagen, spricht Bände für die parasitäre Entwicklung der Islamischen Republik und der iranischen Bourgeoisie. Möglicherweise folgt, wie so oft in der iranischen Geschichte, ein harter Winter der Repression und der Unterdrückung auf die fortschrittliche Eruption des Volkes. In jedem Fall aber wird das Regime mit der Gewissheit leben müssen, dass für etliche Iranerinnen und Iraner die Angst gebrochen ist.
Quelle: Tudeh Partei/Tudeh Partei/ksazmandeh/ksazmandeh/ksazmandeh/Middle East Eye