Im Gazastreifen sterben Menschen an Hunger. 82 Erwachsene und 93 Kinder sind nach Angaben von Ärztinnen und Ärzten in den vergangenen Wochen verhungert – nicht an Bomben, nicht an Krankheiten, sondern am absichtlichen Entzug von Nahrungsmitteln. „Der Tod durch Hunger ist barbarisch“, sagt eine Ärztin, die Kinder auf der Intensivstation betreut. „Er geschieht langsam und qualvoll. Und er geschieht mit voller Absicht.“
Die Vereinten Nationen sprechen inzwischen offen von einer „engineered famine“, einer menschengemachten Hungersnot. Mehr als eine halbe Million Menschen in Gaza gelten als akut vom Hungertod bedroht. Besonders dramatisch ist die Lage von rund 132.000 Kleinkindern unter fünf Jahren, deren Körper kaum mehr in der Lage sind, selbst auf minimalste Nahrung zu reagieren. Helferinnen und Helfer berichten, viele Kinder seien so geschwächt, dass sie aufgehört hätten zu weinen – das letzte Warnsignal des Körpers, bevor die Kräfte endgültig versagen.
Leugnung statt Hilfe
Die israelische Regierung weist diese Einschätzungen kategorisch zurück. Eden Bar Tal, Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, bezeichnete den jüngsten Bericht der IPC-Initiative – einem Zusammenschluss von UN-Organisationen und internationalen Hilfswerken zur Bewertung von Ernährungssicherheit – als „gefälscht“. Israel wirft den Autorinnen und Autoren vor, methodisch unsauber gearbeitet und ein „politisch motiviertes Ergebnis“ produziert zu haben.
Die Konsequenzen dieser Linie sind schwerwiegend. Israel hat der IPC-Initiative ein Ultimatum gestellt: Entweder sie legt innerhalb von zwei Wochen einen neuen Bericht vor, oder man werde die Geldgeber auffordern, ihre Unterstützung einzustellen. Damit würde nicht nur die Glaubwürdigkeit einer seit Jahren etablierten Institution untergraben, sondern auch ihre finanzielle Basis massiv geschwächt.
Die Macht der Bilder
Während internationale Organisationen Alarm schlagen, verbreitet das israelische Außenministerium ein anderes Bild. Auf YouTube kursieren professionell produzierte Videos, die angeblich Märkte voller Obst und Gemüse in Gaza zeigen. Sie sind auf Englisch, Spanisch und Deutsch verfügbar, wurden als Werbung geschaltet und erreichten innerhalb weniger Tage Millionen Aufrufe. Die Botschaft ist eindeutig: In Gaza herrscht keine Knappheit, internationale Warnungen seien übertrieben oder gar Lügen.
Das Problem: Diese Bilder zeigen nicht die Realität. Weder ist überprüfbar von wo die Aufnahmen tatsächlich stammen, noch wann sie aufgenommen wurden, oder ob sie gar mittels KI produziert wurden. An einigen Stellen erwecken die Videos zumindest den Eindruck, dass sie mit KI erstellt wurden. Der Text zu den Videos wurde automatisch mittels YouTube-KI in den verschiedenen Sprachen synchronisiert.
Hasbara – Propaganda mit Millionen
Dass diese Bilder so massiv verbreitet werden, ist kein Zufall. Die israelische Regierung hat für 2025 das Budget für ihre Auslandspropaganda, in Israel „Hasbara“ genannt, aufgestockt wie nie zuvor. 150 Millionen Dollar zusätzlich fließen in das Außenministerium – mehr als das Zwanzigfache der bisherigen Mittel. Möglich wurde dies durch einen Koalitionsdeal von Premierminister Benjamin Netanjahu mit Gideon Sa’ar, dem neuen Außenminister.
Das Ziel ist klar formuliert: die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Ausland. Presse, soziale Medien, Universitäten – überall dort, wo Israels Handeln kritisch betrachtet wird, soll gegengesteuert werden. Sa’ar sprach von einer „bewussten Bewusstseinskriegsführung“ und bezeichnete jeden in Propaganda investierten Schekel als „Investition, nicht als Ausgabe“.
Kooperiert wird dabei eng mit pro-israelischen Organisationen weltweit, von etablierten Diaspora-Verbänden bis hin zu Social-Media-Influencern. Auch US-amerikanische Universitäten stehen explizit im Fokus, nachdem dort 2023/24 massive pro-palästinensische Proteste stattfanden.
Diplomatischer Widerspruch aus Österreich
In Österreich regt sich Widerstand. 26 ehemalige Spitzen-Diplomatinnen und ‑Diplomaten wandten sich in einem offenen Brief an die Bundesregierung. Darin fordern sie ein Waffenembargo gegen Israel und Sanktionen, solange das Land internationale Gerichtsurteile ignoriert und Hunger als Kriegswaffe einsetzt.
„Die Aushöhlung des Völkerrechts trifft nicht nur Palästinenserinnen und Palästinenser“, heißt es in dem Schreiben. „Sie untergräbt auch die Sicherheit Europas, das auf Regeln und deren Einhaltung angewiesen ist.“ Die Bundesregierung in Wien steht damit vor einer Entscheidung: Will man an der Seite der EU-Staaten bleiben, die eine harte Linie gegenüber Israel fordern, oder hält man weiter an der bisherigen diplomatischen Zurückhaltung fest?
Alte Lügen, neue Muster
Die Strategie, mit unbelegten Vorwürfen oder emotional aufgeladenen Bildern politische Effekte zu erzielen, ist nicht neu. Schon in Folge des Angriffs von 7. Oktober 2023 diskreditierte Israel das UN-Hilfswerk UNRWA, indem es eine „beträchtliche Zahl“ seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschuldigte, Mitglieder terroristischer Organisationen zu sein. Die Folge: Zahlreiche westliche Staaten froren ihre Zahlungen ein, wodurch sich die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen weiter verschärfte.
Doch ein späterer UN-Bericht – die sogenannte Colonna-Untersuchung – kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Israel hatte keinerlei Beweise vorgelegt. UNRWA hatte seit 2011 regelmäßig Mitarbeiterlisten zur Überprüfung eingereicht, ohne dass jemals Einwände erhoben worden wären. Trotzdem blieb der politische Schaden und die sozialen Konsequenzen enorm.
Noch gravierender war die Propaganda um den Angriff des palästinensischen Widerstands auf Israel am 7. Oktober 2023. Kaum ein Bild hat sich so eingebrannt wie das der angeblich „enthaupteten Babys“. Die Geschichte wurde von Journalistinnen und Journalisten, israelischen Offiziellen und sogar US-Präsident Joe Biden verbreitet – nur um später zurückgenommen zu werden. Weder Fotos noch Belege existierten, und die Datenbank der investigativen Einheit von Al-Jazeera zeigte, dass in Kfar Aza überhaupt kein Kleinkind getötet worden war.
Auch im Kibbuz Beeri stellten sich zentrale Erzählungen als falsch heraus. Dort waren Geiseln in einem Haus von israelischen Panzern beschossen worden – ein Befehl des Brigadegenerals Barak Hiram. Zwölf von 14 Geiseln starben durch israelisches Feuer. Israelische Medien berichteten zudem, dass am 7. Oktober Teile der sogenannten Hannibal-Doktrin angewandt wurden – ein inoffizielles Protokoll, nach dem es „besser ist, einen Soldaten tot zu bergen, als ihn lebend in Feindeshand fallen zu lassen“. Augenzeugen berichteten, dass auch zivile Geiseln und Festivalbesucherinnen und ‑besucher durch israelischen Beschuss ums Leben kamen.
Muster der Desinformation
Die Parallelen sind frappierend. Zunächst werden dramatische, oft emotional aufgeladene Vorwürfe in die Welt gesetzt. Medien greifen sie auf, westliche Politikerinnen und Politiker wiederholen sie. Später zeigt sich, dass Beweise fehlen oder Darstellungen falsch waren – doch da ist die politische Wirkung längst erreicht.
Genau dieses Muster wiederholt sich nun bei der Hungersnot in Gaza. Israel präsentiert Bilder voller Märkte, während Kinder an Unterernährung sterben. Es diskreditiert internationale Berichte, während Ärztinnen und Ärzte vor Ort unmissverständlich dokumentieren, was geschieht.
Juristisch betrachtet steht der Vorwurf im Raum, dass Israel Hunger als Waffe einsetzt – ein schwerwiegendes Kriegsverbrechen nach internationalem Recht. Die Blockade von Hilfslieferungen, die gezielte Zerstörung landwirtschaftlicher Infrastruktur, die Verhinderung von Saatgut- und Düngemittelimporten – all dies sind Mechanismen, die dazu führen, dass eine ohnehin abhängige Bevölkerung in existenzielle Not gerät.
Dass gleichzeitig Milliarden in Propaganda gesteckt werden, ist Teil derselben Strategie. Wer die Realität im Gazastreifen nicht ändern kann oder will, versucht zumindest, die Wahrnehmung außerhalb zu kontrollieren.
Konsequenzen für Europa
Für Europa und Österreich ergibt sich daraus eine brisante Situation. Soll man die Augen vor den belegten Fakten verschließen und die israelische Propaganda übernehmen? Oder zieht man Konsequenzen – diplomatisch, politisch, wirtschaftlich?
Der Druck wächst. Internationale Gerichte beschäftigen sich längst mit dem Vorwurf des Völkermords. Menschenrechtsorganisationen warnen, die Glaubwürdigkeit des Westens stehe auf dem Spiel. Und je länger Hunger, Blockade und Desinformation fortgesetzt werden, desto klarer wird, dass es nicht nur um einen regionalen Konflikt geht, sondern um die Geltung universeller Regeln.
Die Bilder aus Gaza sind eindeutig: Kinder mit eingefallenen Gesichtern, Mütter und Väter, die verzweifelt nach Nahrung suchen, Kliniken, in denen Ärztinnen und Ärzte nur noch zuschauen können, wie ihre Patientinnen und Patienten sterben.
Die Bilder aus Israel sind ebenfalls eindeutig: professionelle Videos, Millioneninvestitionen in Hasbara, Politikerinnen und Politiker, die unbestätigte Geschichten als Wahrheiten verkaufen.
Zwischen diesen beiden Welten liegt der Kern des Problems: Die Wirklichkeit in Gaza ist Hunger eine Kriegswaffe. Die Reaktion Israels darauf ist nicht Hilfe, sondern Propaganda. Das Ende der Unterstützung Israels durch NATO, EU und Österreich kann nur durch eine entschiedene Solidaritätsbewegung und die organisierte Arbeiterklasse erzwungen werden. Streiks gegen Waffenlieferungen an Israel in Griechenland, Italien, Frankreich und anderen Ländern sind eines der wirksamsten Mittel, das Morden Israels in Gaza und in der gesamten Region zu beenden.
Quelle: AJ/AJ/ORF/APA/Times of Israel/jW/jW