Hermann Duncker (1874–1960) war Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD. Insbesondere machte er sich um die marxistische Schulungsarbeit verdient, die er auch noch im hohen Alter an der FDGB-Gewerkschaftshochschule der DDR leitete. In der 9. Ausgabe (4. Jahrgang) der „Jugend-Internationale“ erschien zum 1. Mai 1923 der folgende Aufruf Dunckers an die revolutionäre Arbeiterjugend.
In erhöhter Alarmbereitschaft steht das revolutionäre Proletariat der Welt. In den Schützengräben des Klassenkampfes, in denen es so lange stille geduckt gewartet hatte – ängstlich, ob ein feindlicher Überfall gelänge, misstrauisch, ob die eigene Kraft zum Vorstoß genüge – flutet neues Leben. Vorwärts geht es!
Allen voran die kommunistische Jugend!
Wie die Signalhörner in den Maientag locken, wie die roten Fahnen schwellen, als wollte die Kraft geblähter Segel das Schiff zu noch schnellerer Fahrt anspornen! Die klassenbewusste Arbeiterschaft der Welt marschiert. Hört ihr den Schritt der Millionen?
Der 1. Mai ist stolzer Kampftag.
Jahrzehntelanges Dahindämmern ohne rechten Ausblick auf entscheidende revolutionäre Situationen, bei einem wachsenden Teil großer und auch kleiner Führer der Arbeiterklasse, ohne rechten Willen zum völkerbefreienden Massenkampf hatten die Maifeier zum spießbürgerlichen Volksfest herabgewürdigt. Mit schönen Reden bei reichlichem Biergenuss und nachfolgendem Tanzvergnügen wurde des Frühlings Sieg über den kalten Winter mehr oder weniger poetisch gedacht. Und wenn dann gar der Gesangverein anstimmte: „O wag es doch nur einen Tag, nur einen, frei zu sein“, dann empfanden die feiernden Kapitalsklaven, dass sie doch einen Tag frei gewesen waren – und gingen um so williger wieder zur Arbeit.
Was in begeisterter Aufwallung der I. Kongress der II. Internationale in Paris 1889 als trotziges Fanal der ganzen bürgerlichen Welt entgegengestellt hatte: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch zur revolutionären Feier des 1. Mai!“, war in der sozialdemokratischen Praxis verschüttet wie der Koloss der ägyptischen Sphinx unter den rieselnden Sandbergen der Wüste.
Erst als es dem revolutionären Massensturm der russischen Bolschewisten gelungen war, durch die erste siegreiche proletarische Revolution der Welt der Arbeiterschaft aller Herren Länder wieder Selbstvertrauen und Zukunftsglauben einzuflößen, da wurde mit den wissenschaftlichen Grundmauern des Marxismus auch der Kerngedanke der revolutionären Maifeier wieder ausgegraben.
Der 1. Mai der III. Internationale!
Nicht mehr auf die lange Bank der Jahrhunderte verschiebt dieser 1. Mai das Endziel der revolutionären Arbeiterbewegung. Nicht mehr auf die Schultern von Enkel und Urenkel legt er, was die gegenwärtige Generation sich nicht zu schaffen getraut. Er sieht auch nicht mehr den Weg zum Endziel als einen idyllischen Frühlingspfad vor sich, mit Blumen und Sonnenschein, auf dem man so ganz allmählich und unversehens aus den raueren Gefilden des Kapitalismus in das gelobte Land des Sozialismus hineinspaziert. Weg mit sozialdemokratischen Maiillusionen!
Von uns fordert der 1. Mai: nicht im Ausblick auf dunstige Fernen die Hände träumerisch in den Schoß zu legen, aber ebenso nicht mit zugekniffenen Augen müde am Wege liegen zu bleiben. Vorwärts! Überall, wo du stehst und gehst, winkt das revolutionäre Kampffeld.
Was du aber heute versäumst, ist aller Zukunft verlorengegangen! Denn auch das ist eine ernste Lehre der kommunistischen Maifeier. Nicht ist der Sieg des Kommunismus von vornherein notariell verbrieft und verbürgt. Nicht kommt das Endziel automatisch ohne unser Zutun, wie der Komet auf astronomisch zu bestimmender Bahn zu vorherberechneter Stunde. „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst!“ Gewiss machen sie sie nicht als Schöpfer und Wundertäter aus dem Nichts heraus. Aber es vollzieht sich auch kein historisches Geschehnis von selbst. Der Utopismus eines sich allmächtig dünkenden Übermenschen ist ebenso falsch, wie der Fatalismus des sich für ohnmächtig haltenden Menschleins. Wo ein Wille, da ein Weg – und auch Erfüllung. Denn wenn schon Willensziele vor den Augen der Masse aufblitzen, so ist damit auch der Beweis gegeben, dass ihre Erreichung in der Armweite der Möglichkeit liegt. Wären nicht die entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme herangereift, könnten im Menschenhirn nicht Gedanken ihrer Lösung gewälzt werden.
„Die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.“ (Marx 1859)
Der Kommunismus ist aber nicht nur eine „Möglichkeit“, das war er schon seit langem. Er ist heute dringendste Notwendigkeit und dadurch erhält der l. Mai 1923 seine besondere Note. Es ist die verzweifelte Offensive des Kapitals gegen das Proletariat, das den Kommunismus zur Frage des Tages macht. Vorbei sind die Zeiten, wo ein aufsteigender, aus dem Vollen wirtschaftender Kapitalismus versuchen konnte, ungebärdige Arbeiterschichten durch klug gespendete Trinkgelder von revolutionärer Einstellung abzubringen und sie mit der bürgerlichen Gesellschaft zu versöhnen. Wer kann heute noch ernsthaft glauben, dass das Elend im Kapitalismus reformierbar sei, dass man aus einem wilden Kapitalismus einen gezähmten zivilisierten Kapitalismus machen könne? Wer hofft noch, Feigen von den Disteln zu ernten?
Die Entwicklung verläuft freilich nicht gradlinig und eindeutig. In ungeheuren Wellenlinien – jeweils von der Krise bis zur Hochkonjunktur – stieg der Kapitalismus an bis zum Siege des Imperialismus in allen kapitalistischen Ländern und damit bis zum Weltkrieg. Und wiederum in Wellenlinien – von akut zugespitzten Krisen über Teil- und Scheinkonjunkturen bis zur Fortsetzung der Krise – sinkt jetzt der Kapitalismus zurück, vollzieht sich der ökonomische Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft. Aber der Kapitalismus dankt nie freiwillig ab. Er neigt nicht zum Selbstmord aus auswegloser Verzweiflung, wie er jetzt das Dulderleben so manches zermürbten, politisch indifferenten Proletariers beschließt. Im Gegenteil: ihm ist der Hieb die beste Parade. Und so tritt uns die Offensive des Kapitals überall und in den verschiedensten Formen entgegen: im rücksichtslos erzwungenen Lohnabbau, in der Abwälzung aller Staats- und Steuerlasten auf die Schultern des Proletariers, in der kapitalistischen Unterminierung von Sowjetrussland, des einzigen Hortes kommunistischer Freiheit in der Welt, und vor allem in dem Schreckensaufgebot des Faschismus. Die Kapitalistenklasse, der die Diktatur des Proletariats in Sowjetrussland leibhaftig gegenübertrat, hat rasch begriffen, dass ein Hüben und Drüben nur gilt, dass sie mit eiserner Ferse das Proletariat politisch und geistig niedertreten muss, damit es wirtschaftlich in noch ungeheuerlichere Verkürzung der Lebenshaltung und des Lebens sich füge. Millionen und aber Millionen stiftet der Weltkapitalismus für diese Zwecke. Gigantisch entwirft er seine Feldzugspläne, geschlossen stehen seine Reihen! Und das Proletariat? Kein Land – Sowjetrussland ausgenommen -, wo es schon einmütig zur Abwehr entschlossen! Kein Land – außer Sowjetrussland -, wo es nicht im leidigen Bruderkrieg sich selbst zerfleischt! Das gleiche furchtbare soziale Schicksal steht vor jedem einzelnen Proletarier, aber wo ist die Einheitsfront, die mit gewaltigem Ruck den Felsblock von des Grabes Türe wälzt?
Der 1. Mai will dein Gelöbnis, junger Proletarier: allen voran dich in den Befreiungskampf zu stürzen, rastlos und entschlossen mit dem Kapitalismus zu ringen um jede Minute, jeden Schweißtropfen, der der marxistischen Selbstbildung und der revolutionären Propaganda gehört.Dir rufen die in Elend und Verzweiflung zugrunde gegangenen Proletariergenerationen zu: Räche uns! Es blicken auf dich die im Freiheitskampfe gefallenen Helden des Kommunismus: Folge uns! Auf dich hoffen die Millionen der lebenden revolutionären Kämpfer Russlands, die im gewaltigen Ringen gegen das Weltkapital und die kapitalistischen Instinkte der Vergangenheit heroisch durchgehalten haben: Helft uns, indem ihr euch selbst helft! Die kommunistische Jugend kennt ihre Pflicht. Allen voran am 1. Mai!
Quelle: Hermann Duncker: Einführung in den Marxismus, Bd. 1, Berlin 1958, S. 412–416