HomeFeuilleton"Das System verfluchen": Zum 150. Todestag von Charles Dickens

„Das System verfluchen“: Zum 150. Todestag von Charles Dickens

Am 9. Juni 1870 starb der epochale Schriftsteller Charles John Huffam Dickens. In vielen seiner Romane thematisierte er das Elend und den Überlebenskampf des britischen Proletariats. Vieles davon war autobiographisch.

In medias res

Dickens wurde 1812 als zweites von acht Kindern in Portsmouth geboren. Schon in jungen Jahren erlebte er die sukzessive Verarmung seiner Familie. Mit zwölf Jahren musste die ganze Familie ins Schuldgefängnis, weil sein Vater Schulden angehäuft hatte, die er nicht zurückzahlen konnte. Nur Charles blieb zurück. Er verließ die Schule, um in einer Lagerhalle mit anderen Kindern zu arbeiten, bald darauf wechselte er in eine Schuhcreme-Fabrik. Dort musste er zehn Stunden am Tag mit anderen Kindern in einem halbverlassenen Haus an der Themse Etiketten auf Flaschen kleben. Die Jahre in der Fabrik dienten als Vorlage und Inspiration für seine bekannten Romane David Copperfield, Great Expectations (Große Erwartungen), aber auch Oliver Twist. Nach der Entlassung seines Vaters aus dem Gefängnis besuchte Charles wieder die Schule. Die Trennung von seiner Familie sowie die Brutalität des Lehrpersonals in der Schule verarbeitete er in Nicholas Nickleby.

1827 wurde er als Schreiber bei einem Rechtsanwalt angestellt, wo er Menschentypen studieren und nebenher im Britischen Museum literarische Studien betreiben konnte. 1829 wurde er zum Parlamentsstenographen befördert und meisterte das Stenographiesystem von Thomas Gurney. Ab 1831 arbeitete er für die Zeitschrift The Sun, bald darauf bei Morning Chronicle. Mit den Pickwick Papers von 1836/1837 begann seine offizielle literarische Karriere, weitere, oben bereits genannte Werke, folgten, zumeist in Form von wöchentlichen Fortsetzungsromanen, an denen er oft parallel schrieb. Auch dank der Illustrationen von Hablot Knight Browne wurden die Pickwick Papers zu seinem ersten großen Erfolg. Sie erreichten bis zu 40.000 Auflagen.

Weltberühmt machte ihn sein Roman Oliver Twist, wo die gesellschaftlichen Zustände des viktorianischen Englands mit äußerstem Realismus beschrieben werden: Hunger, Tod und Ungerechtigkeit sind nicht die Ausnahmen, sondern die Regel im Kapitalismus. Aber bei dieser Feststellung blieb er nicht stehen.

Herbe Sozialkritik

1842 bereiste Dickens bereits als bekannter Autor die USA, wo er u.a. Präsident John Tyler, aber auch Schriftstellerkollegen wie E. A. Poe traf. Besonders erschütterte ihn die Sklaverei in den Südstaaten, über die er nach seiner Rückkehr in den American Notes schrieb und für deren Beendigung er plädierte. Die Erfahrungen in den USA schärften seinen Blick auf die profitbasierte Logik seiner und unserer Zeit. Da er kaum Unterschiede in der Willkürherrschaft des englischen Bürgertums gegenüber den Proletariern sah, wie sie auch von der Aristokratie ausgeübt worden war, radikalisierte sich Dickens´ Denken allmählich. Immer weniger hegte er Illusionen in Reformen: „Ich kann nicht anders, als das gegenwärtige System und seine verhängnisvolle Rolle bei der Unterdrückung Tausender und Abertausender Menschen zu verfluchen.“, so sein ausdrucksstarkes Fazit.

Härter und kompromissloser schrieb er seine darauffolgenden Romane Bleak House und Hard Times. Für Hard Times reiste er sogar nach Preston, um sich mit der Lage der Baumwollspinnereiarbeiter vertraut zu machen und sich mit deren Streiks zu solidarisieren. Die dortigen Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitete er in ein Werk, das ganz dem Kampf gegen eine Logik der vermeintlichen Alternativlosigkeit zum bestehenden Ausbeutungssystem gewidmet ist.

Vermächtnis

Sein letzter Roman The Mystery of Edwin Drood blieb leider unvollendet. Am 9. Juni 1870, genau vor 150 Jahren, starb Charles Dickens an einem Schlaganfall. Für sich selbst wünschte er sich ein unauffälliges Begräbnis.

Er hinterlässt nicht nur ein einzelnes gelungenes Buch, sondern eine ganze Auflistung an Werken, die ihren wohlverdienten Platz in der Weltliteratur gefunden haben. Lew Tolstoj etwa sah in Charles Dickens den größten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Gerne wird er heutzutage herangezogen, um literarische Einblicke in die Industrialisierung zu erlangen und eine Krokodilsträne für die erbärmlichen Zustände des damaligen Proletariats zu vergießen. Der Realismus in seinem Schaffen verblasst zum Teil selbstverschuldet an seinem bissigen Humor und den humoristischen Zügen seiner Schreibkunst. Es wäre aber falsch, sich davon blenden zu lassen. Dickens meinte es bitterernst mit seiner Sozialkritik, die einerseits auf autobiographischen Erlebnissen basiert, andererseits auf Unmengen an Recherchearbeit und ernstgemeinter, profunder journalistischer Tätigkeit, die darauf abzielte, die Wahrheit hervorzukehren: „Er gehört zu jener glänzenden Schule der Romanschriftsteller in England, deren fein gezeichnete und beredte Schilderungen der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten enthüllt haben als alle professionellen Politiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen.“, so Karl Marx über Charles Dickens.

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