Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck
Im Jänner 1946 erschien „Weg und Ziel“ wieder als „Monatsschrift für Fragen der Demokratie und des wissenschaftlichen Sozialismus“. Ein mit „F.M.“ gezeichneter Artikel beschrieb die Anfänge 1935/36: „Die erste illegale Nummer von ‚Weg und Ziel’ lasen wir im September 1936. Sie stand im Zeichen der Julitagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die zum Kampf ‚gegen die Zersplitterung, für die demokratische Einigung der Volkskräfte, für die demokratische Republik’ aufgerufen hat. (…) ‚Weg und Ziel’ lehrte uns, dass der Kampf für die Demokratie untrennbar verbunden ist mit dem Kampf für die österreichische Unabhängigkeit. Nur ein demokratisches Österreich kann Österreichs Freiheit wirksam verteidigen.“
Der Artikel erinnerte an die vom Faschismus ermordeten Mitarbeiter: „Der Großteil der Redakteure und Mitarbeiter ist im Kampf gegen Hitler gefallen. Zu Tode gefoltert wurde Oskar Großmann, der unter dem Pseudonym Schönau die Verantwortung für die Zeitung trug; von der Gestapo erschossen wurde Alfred Klahr, der das entscheidende Verdienst in der Diskussion zur nationalen Frage in Österreich hatte; in Auschwitz gehängt wurde Ernst Burger, in Mauthausen wurde Hermann Köhler erschlagen; Ferdinand Strasser und Gustav Schmidt sind als ‚Volksverräter’ hingerichtet worden. Aufrechte Kommunisten, tapfere Österreicher, sind sie auf dem Weg zum Ziel gefallen.“
Der Artikel erinnerte auch an das „historisches Verdienst“ von „Weg und Ziel“, nämlich „die Klarstellung der nationalen Frage in Österreich“ durch die KPÖ: „Im März 1937 kündigte die Redaktion ihre Absicht an, eine Diskussion ‚Zur marxistischen Überprüfung des Verhältnisses der Österreicher zur deutschen Nation’ einzuleiten. Die Diskussion wurde von Alfred Klahr (unter den Pseudonymen Rudolf und Philipp Gruber) in der Artikelserie ‚Zur nationalen Frage in Österreich’ eröffnet. Klahr gab einen Überblick über die Entwicklungstendenzen der österreichischen Geschichte und gelangte zur Schlussfolgerung, dass die Österreicher sich zu einer eigenen Nation entwickelt haben und dass der Freiheitskampf des österreichischen Volkes nationalen Charakter trage: ‚Die Arbeiterschaft stellt sich an die Spitze des österreichischen Volkes im Kampf für die nationale Unabhängigkeit.’ (…) Auch in diesem Bekenntnis zu Österreich standen die Kommunisten im ‚Weg und Ziel’ allein. Die Ständefaschisten sprachen von der ‚deutschen Mission’ Österreichs und hatten am 11. Juli 1936 jenen unglückseligen Pakt mit Hitler geschlossen, in dem sie unser Land als ‚zweiten deutschen Staat’ opferten. Auf der Linken aber waren die Sozialdemokraten ihrer großdeutschen Ideologie treu geblieben.“[1]
Die bürgerlichen Universitätshistoriker, entweder an der Oberfläche „entnazifiziert“ oder weiterhin der Ideologie des Austrofaschismus verbunden, schrieben in ihrer überwiegenden Mehrheit auch nach 1945 ihre autoritär rückschrittlichen, großdeutschen und habsburgischen Geschichtsirrationalismen fort.
„Der Hantsch“ (1947): Fortschreibung reaktionärer Reichsmythologien nach der Befreiung vom Faschismus
1947 legte der Melker Benediktiner Hugo Hantsch (1895–1972) den ersten, bis 1648 reichenden Band einer Geschichte Österreichs aus 1937 fast unverändert in zweiter Auflage vor. Hantsch, 1938 als Vertrauensmann des „Ständestaats“ von den NS-Faschisten seiner Grazer Professur enthoben, knüpfte an die austrofaschistische Deutung der Erstauflage von 1937 an. Hantsch betrachtete die österreichische Geschichte auch nach der Befreiung von der Perspektive einer reaktionär habsburgisch „abendländischen Kulturidee“, vom Standpunkt einer „res publica christiana“.
Der katholische „Reichsdenker“ Hantsch, der 1946 den „gesamtdeutsch“ orientierten NS-Anhänger Heinrich Srbik in der Wiener Professur für Neuere Geschichte abgelöst hatte, legte keine wirklich österreichische Geschichte vor. Otto Langbein hat in „Weg und Ziel“ 1947 (644–649 und 720–724) darauf hingewiesen, dass Hantschs Festhalten an einer katholisch „reichsuniversalistisch“, habsburgisch legitimistischen Betrachtung selbst in antifaschistisch bürgerlichen Kreisen als unbelehrbares Fortschreiben imperialistischer Propagandamythen abgelehnt wird.
Mit der Österreichischen Republik vom November 1918 konnte Hantsch auch nach der Befreiung vom Faschismus nichts anfangen. Den Standpunkt eines republikanischen österreichischen Verfassungspatriotismus diffamierte Hantsch als „kleinösterreichisch“.
Hantsch deutete die Geschichte weiter in Kategorien wie „Bannung der slawischen Gefahr“, der „großen Aufgaben der Unterwerfung des Ostens“, des „Kampfes um das Volkstum“, des „deutschen Raumes“.
Vor dem Hintergrund des opferreichen Kampfes von Kommunistinnen und Kommunisten um ein unabhängiges Österreich war es unakzeptabel, dass ein Historiker wie Hantsch an führender Stelle ganze Generationen von Geschichtelehrern dahin doktriniert, „dass ‚österreichisches Wesen’ seit jeher darin besteht, Vorposten der deutschen Eroberungspolitik nach Osten zu sein“. In der „Weg und Ziel“-Rezension wird deshalb 1947 angemerkt, „dass Hantsch die Geschichte Österreichs nicht vom österreichischen, sondern vom großdeutschen Standpunkt lehrt. Mit einem ironischen Zynismus, den man 1945–46 noch nirgends lesen konnte, den sich aber gewisse Kreise 1947 schon erlauben, tut der Verfasser jede österreichische Geschichtsbetrachtung als unwissenschaftlich und ‚parteipolitisch’, ja als ‚österreichischen Mythos’ ab und bekennt sich unumwunden zum ‚deutschen Wesen’ Österreichs“.
Hantschs Darstellung der österreichischen Geschichte, die bis in die 1970er Jahre zu einem maßgeblichen Lehrbuch für Studierende werden sollte, war überdies von antidemokratischen Ressentiments durchzogen. Die unterdrückten Volksmassen bleiben unerwähnt. Die Geschichte des österreichischen Volks wird von Hantsch im Stil „der fürstlichen Hofhistoriographen“ ignoriert: Bei Hantsch besteht „die Geschichte lediglich aus ‚Herren’ – oder, moderner ausgedrückt, aus Führern. (…) Für diese reichlich überholte Geschichtsauffassung ist allerdings die Wiener Universität traditionell der passende Platz, das lässt sich nicht leugnen.“
Nicht nur der mit der Autorität des „Großordinarius“ ausgestattete „Hantsch“ folgte dem restaurativ bürgerlichen Denken von „Abendland“ und „Europäertum“, von Österreich als der „Mark des Abendlandes“. Zahlreiche weitere, unmittelbar nach 1945 erschienene Darstellungen der österreichischen Geschichte folgten undemokratischen Mustern, so präsentierte Erna Patzelt, eine Mitarbeiterin von Alphons Dopsch, in ihrem Buch über „Österreich bis zum Ausgangspunkt der Babenbergerzeit“ (1946) eine Ideologie von einem „rätisch-norisch-pannonischen Großstaat“.
Exemplarisch für das Wiederaufleben einer rückwärtsgewandten Geschichtsschreibung galt Otto Langbein Gottfried Franz Litschauers „Kleine Geschichte Österreichs“ (1946) mit ihren Verbeugungen vor der Habsburgerdynastie bis hin zum „Kaisersohn Otto“, mit ihrer Darstellung des ersten Weltkriegs vom Standpunkt des österreichisch deutschen Imperialismus, in der Diktion des Generalstabs, mit ihren Verneigungen vor nazistischen Universitätsprofessoren wie Heinrich Srbik oder Josef Nadler und vor anderen „Nutznießern der deutschen Unterdrückung“ wie einem Karl Heinrich Waggerl, mit ihrer völligen Ignoranz gegenüber allen sozialen Kämpfen von den Bauernkriegen (Michael Gaismairs) bis hin zu jenen der Arbeiter, mit ihrer Ausblendung des antifaschistischen Widerstands als zu zeitnah, was allerdings – so „Weg und Ziel“ – nicht verwundert, hatte sich doch Litschauer „1938 im Vorwort zur 2. Auflage seiner ‚Daten der österreichischen Geschichte’ begeistert zur nazistischen Illegalität bekannt“: „Wie Litschauer 1938 auf das Tausendjährige Reich spekuliert hat, so spekuliert er heute auf eine Restauration der Habsburger: Die ganze ‚Kleine österreichische Geschichte’ ist fühlbar als Propagandaschrift für die Familie Habsburg gedacht und gipfelt in der Behauptung, es sei nie ein ‚staatsrechtlicher Thronverzicht des Kaisers’ erfolgt, und die Gesetze, durch die ‚er samt seinem Hause des Thrones für verlustig erklärt’ wurde, seien seit Juli 1935 aufgehoben.“ Die „Dollfuß-Verfassung“ von 1934 spielt in Litschauers Werk eine weitaus größere Rolle als die republikanische Bundesverfassung von 1920: „Überflüssig schließlich, noch zu betonen, dass auch Litschauer sich der bewährten Kulisse eines betonten katholischen Bekenntnisses bedient.“
„Der Benedikt“ (1954): Republik- und Arbeitergeschichte im Licht der bürgerlichen „Koalitionsgeschichtsschreibung“
Die Zeit-Geschichte der österreichischen Republik wurde 1954 unter der Wachsamkeit des katholisch-konservativen Emigranten von 1938 Heinrich Benedikt (1886–1981), seit 1950 Professor der Neueren Geschichte an der Universität Wien, in halboffiziöser Weise dargestellt, geprägt von den Opportunitäten der bürgerlich sozialdemokratischen Regierungskoalition, vom Modell einer gleichsam „natur- oder gottgewollten Dreiteilung“ Österreichs in „drei Lager“, in ein christlichsozial-konservatives, ein sozialistisches und ein „nationales“, sprich großdeutsch-nazistisches. Dieses – so „Weg und Ziel“ 1955 – „eindeutig vom Klassenstandpunkt der Bourgeoisie“ geschriebene Sammelwerk wurde nicht zufällig nur von der bürgerlichen Presse, sondern auch von der „Arbeiterzeitung“ als geschichtswissenschaftlicher Standard gefeiert. Herausgeber Benedikt eröffnete den Band mit Klagen über die „unheilvolle Zerreißung“ der Habsburgermonarchie, die der Sowjetunion den Weg in den Osten Europas eröffnet habe, mit abergläubischem Gerede von der österreichischen „Märtyrermission“, mit kleinbürgerlichem Argwohn gegen die Ansprüche stellende Arbeiterschaft, der sich etwa in eigenartigen Bemerkungen über ein zugunsten eines Lehrlingsheims abgerissenes Rothschild-Palais äußert: „Der Übergang der Macht vom ‚Kapital’ zur ‚Arbeit’ wird in Wien in einer durch nichts überbietbaren Deutlichkeit sichtbar. Das eine Rothschildpalais wurde geschleift, um dem Franz-Domes-Lehrlingsheim Platz zu machen, auf den Gründen des andern wird die Arbeiterkammer stehen.“ [sic!]
Im zeitgeschichtlichen Überblick lobte Staatsarchivar Walter Goldinger (1910–1990) die Sozialdemokratie, soweit sie ihm als antisozialistische Kraft erschien. So sprach Goldinger vom „meisterhaften Schachzug“, mit dem die Victor Adler’sche SDAP den Jännerstreik 1918 abgefangen hat. In Bezug auf den November 1918 hält Goldinger fest: „Es war ein großes Verdienst der Sozialdemokratie, damals durch geschickte Einwirkung auf die Volksmassen das Schlimmste [nämlich die proletarische Revolution – Anm.] verhütet zu haben.“
Die Konfiskation des Habsburger-Vermögens wird von Goldinger mit einem, das sei „mit dem Prinzip des Rechtstaates unvereinbar“, kommentiert. Die Ausweisung der Habsburger wird als fern „jeder Würde“ bezeichnet. Nur der vorrangige Kampf gegen die drohende Rätediktatur, eine Frage von „Sein oder Nichtsein“, konnte diesen Umgang mit den Habsburgern nach Goldinger allenfalls rechtfertigen. 1990 sprach Adam Wandruszka in einem Nachruf davon, dass der „gläubige Katholik“ Goldinger von „großer, aber nicht blinder Liebe zum untergegangenen Habsburgerreich“ angeleitet war.
Über die hungernde Arbeiterklasse, über die Rätebewegung und die Kommunisten spricht Goldinger im bürgerlichen Herrenton, klagt, dass die Republik dem „Diktator Bela Kun“ Asyl gewähren musste. Kommunisten schätzt er als machtgierig, auf potentielle „Volkskommissariatsposten“ schielend ein. Goldinger bedauert, dass „im Juli 1919 der Generalstreik zur Unterstützung des um seine Existenz kämpfenden Sowjetstaats in Österreich lückenlos war“.
Goldinger klagte über den „Terror“ der sozialistischen Arbeiter gegen „Andersgesinnte“ in den Betrieben. Das die gewerkschaftliche Organisation behindernde „Antiterrorgesetz“ von 1929/30 war dementsprechend notwendig. Er rechtfertigte die faschistische „Heimwehr“-Gewalt, verniedlichte die Schattendorf-Morde. Aus Seipel und Schober machte Goldinger edle, tragisch ringende Staatsmänner, z.B.: „Man hat Schober den letzten Bürokraten der alten österreichischen Schule genannt. In ihm lebte ein gutes Stück alter Beamtentradition und bedingungsloser Hingabe an die Staatsautorität.“ Am 15. Juli 1927 musste „die Staatsgewalt gegen verbrecherische Handlungen einschreiten“, usw.
Über die NS-Faschisten wird vornehm als von den „nationalen Kreisen“ gesprochen. Nur die NS-Clique in München habe einen „evolutionären Weg“ zum „Anschluss“ verhindert, kritisiert werden nur die „Gewaltmethoden“, der „Totalitätsanspruch“ der NS-Partei, aber so Franz West in „Weg und Ziel“: „Mit deutlicher Sympathie schildert das Buch die Bemühungen der Dollfuß und Schuschnigg, mit den Nazis zu einer Verständigung zu gelangen. Von diesem Gesichtspunkt aus wird Papen als Vermittler begrüßt und auch die diesbezügliche Rolle des Vatikans erwähnt.“ Mit dem Einfühlungsvermögen eines bürgerlichen Historikers wird das Wirken österreichischer NS-Kreise um Seyß-Inquart, Glaise-Horstenau oder Srbik und Hudal geschildert. Die Anbiederung an den Mussolini-Faschismus wird in den Kategorien bürgerlicher Staats- und Diplomatiegeschichtsschreibung beschönigt.
In der von Heinrich Benedikt herausgegebenen, von Walter Goldinger und Adam Wandruzska maßgeblich verfassten Republikgeschichte werden 1954 Arbeitslosigkeit, die sukzessive Zerstörung der Arbeiterrechte von 1918/19, der Heimwehr- und Polizeiterror gegen die Linken ignoriert. Die sozialistischen Arbeiter sind allenfalls Objekt von „Befriedungsaktionen“. Der Kampf österreichischer Sozialisten und Kommunisten gegen den Austrofaschismus und dann gegen den NS-Faschismus wird unzulänglich dargestellt, so Franz West in „Weg und Ziel“: „Es ist bei einer solchen Geschichtsschreibung nicht verwunderlich, dass der zutiefst faschistische und arbeiterfeindliche Charakter der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur einfach verschwiegen wird.“ Der politisch organisierte Widerstand der KPÖ gegen den NS-Faschismus wird im Zeichen des antisowjetischen „Kalten Kriegs“ opportuner Weise vergessen.
Von Goldinger und Wandruszka wird die „Abkehr der SP vom Marxismus“ als Erfolg qualifiziert. Sie begrüßen, dass „die rechten staatsbejahenden Politiker vom Typ Renners über die linken Theoretiker vom Typ Otto Bauers gesiegt haben“, dass die SPÖ eine „von ihren revolutionären ‚Krankheiten’ gereinigte und geläuterte, und damit im Interesse der Bourgeoisie koalitionsfähige Partei“ geworden ist.
Der durch seinen Einsatz für das NS-Regime „belastete“ Historiker und „Presse“-Redakteur Adam Wandruszka (1914–1997), mittlerweile pro-westlich gewendet auf dem Weg zum Wiener Geschichtsordinarius sich befindend, trat an die Geschichte der Arbeiterbewegung mit der These heran, dass diese ihre revolutionäre Perspektive zugunsten unvermeidbarer Integration in die bürgerliche Gesellschaft verliert, weshalb auch der als eschatologischer „Gnostiker“ geschilderte Otto Bauer dem „Pragmatiker“ Karl Renner und dessen „Politik der klugen Anpassung“ unterlegen ist, weshalb auch der Kampf der Wiener Schutzbündler vom Februar 1934 „tragisch“ sinnlos gewesen sei.
Kurz: Wandruszka schreibt die Geschichte des österreichischen Sozialismus als einer Bewegung, die gleichsam über den schmerzvoll irrtümlichen Umweg des 12. Februar 1934 zu einer Reformpartei der „Sozialpartnerschaft“ und der „Mitarbeit und Mitverantwortung“ geworden ist. Wandruszkas Standpunkt stieß folgerichtig auf das Wohlgefallen in der rechten Schärf-Kreisky-SPÖ.
Wandruszka begrüßte 1954 den Niedergang der „Revolutionären Sozialisten“ nach 1945 und den Misserfolg des „aus Jugoslawien nach Österreich zurückgekehrten“ (sic!) Erwin Scharf, der „eine engere Zusammenarbeit mit den Kommunisten“ herbeiführen wollte. Viele ehemalige „Revolutionäre Sozialisten“ und Otto Bauer-Anhänger hätten in der englischen Emigration die Vorzüge der bürgerlichen Demokratie vor der Diktatur des Proletariats erfahren.
Wandruszka beobachtet zustimmend, dass der SPÖ-nahe Hochschulprofessor Adalbert Duschek die Frage „Sind wir noch Marxisten?“ „mit einem klaren und eindeutigen Nein“ beantwortet“ hat, indem er die materialistische Geschichtsauffassung für erledigt erklärt und einen „ethischen Sozialismus“ einfordert. Wandruszka schloss daraus, dass nach einem dreiviertel Jahrhundert des österreichischen Sozialismus die „Marx-Exegese“ endlich zugunsten einer „empirischen Behandlung der Tages- und Machtfragen zurückgetreten ist“, dass Otto Bauers „marxistische Siegeszuversicht“ und sein „integraler Sozialismus“ irrelevant geworden sind. Franz West resümiert in „Weg und Ziel“, dass mit „dem Benedikt“ eine Republikgeschichte geschaffen wurde, die „ganz auf die Bedürfnisse der reaktionären Kräfte der heutigen Zeit abgestimmt ist“.[2]
„Der Gulick“ (1950): Republik- und Arbeitergeschichte für sozialdemokratische Vertrauensleute?
„Der Benedikt“ war in inhaltlicher und politischer Hinsicht sogar ein weiter Rückfall hinter die 1948/50 erschienene fünfbändige Republikgeschichte von Charles Gulick. Dieses vom Standpunkt der „amerikanisch-angelsächsischen Demokratie“ geschriebene Werk des mit der reformistischen Sozialdemokratie sympathisierenden US-Historikers Charles Gulick (1896–1984) wurde auf Initiative des SPÖ-Vorsitzenden Adolf Schärf übersetzt. Es entsprach nämlich unter den Bedingungen des „Kalten Krieges“ den Anforderungen einer „westorientierten“, das linkssozialistische Erbe liquidierenden SPÖ.
Gulicks Darstellung des „Austromarxismus“ kam der seit 1945 dominanten SPÖ-Parteirechten gelegen. Er würdigte den anti-räterepublikanischen Einsatz der SDAP 1918/19. Er verteidigte das Linzer Programm von 1926 gegen den bürgerlichen Vorwurf, die Diktatur des Proletariats sei in einem bolschewistischen Sinn gefasst gewesen. Gulick würdigte zwar Max Adlers Bruch mit dem „philosophischen Materialismus“, begrüßte es aber, dass Adlers linkssozialistische Konzeption vom sozialdemokratischen Parteitag 1927 im Interesse „der Demokratie“ zurückgewiesen wurde. Otto Bauers Sympathien mit der Sowjetunion sieht Gulick mit Misstrauen und versucht Bauer als Mann der „geistigen Freiheit“ hiervon wegzurücken. Gulick kommt den ideologischen Ansprüchen der Schärf-SPÖ gerade darin entgegen, dass er Bauers Modelle, wie die Theorie einer nach 1919 einsetzenden, aber nur vorübergehenden „Pause“ von der sozialen Revolution und vom Gleichgewicht der Klassenkräfte anzweifelte und Karl Renners „Staats- und Koalitions-bejahende“ Sicht unterstützte.
In „Weg und Ziel“ wurde gegen Gulick eingewandt, dass er die materialistische Geschichtsauffassung nur als Karikatur eines „mechanistischen Popanz“ kennt, dass er „genau all das zur Rechtfertigung der Politik der Bauer, Deutsch, Renner usw. vorbringt, was wir Kommunisten ihnen als Verrat vorgeworfen haben und vorwerfen“. Gulick wollte vor allem die bürgerlichen Leser dahin beruhigen, dass „die SP-Führer, auch die ‚linken’, nie etwas anderes im Sinn hatten, als die kapitalistische Wirtschaft, den bürgerlichen Staat vor der revolutionären Arbeiterschaft zu retten. Er entschuldigt die Otto Bauer und Julius Deutsch wegen ihrer ‚revolutionären’ Phrasen: sie haben sie nie ernst gemeint, sondern mussten nur so reden, um dem ‚Bolschewismus’ den Wind aus den Segeln zu nehmen und die radikalisierten Arbeiter bei der Stange zu halten.“ Nur unter dem Druck der Rätebewegung (München, Ungarn) hätten die SPler 1919 Sozialisierungen angestrebt, die sie dann nach Eintreten „revolutionärer Ebbe“ versanden ließen.
Gulick verfolgte also „ganz eindeutig den Zweck, den interessierten Kreisen in den USA (für die [das Buch] ja geschrieben wurde) zu beweisen, dass die Führung der SPÖ schon immer die verlässlichste und sicherste Stütze des Kapitalismus in Österreich war“. Gulick sammelt aber immerhin wertvolles Material. Er dokumentiert linke Zeitschriften und Flugblätter, wenn auch fast ausschließlich auf die Sozialdemokratie konzentriert, wo er etwa für die illegale Zeit von 1934 bis 1938 den „Kampf“ oder die „Arbeiterzeitung“ auswertet, während er den Standpunkt der illegalen KPÖ von der „demokratischen Republik“, von der österreichischen Nation allenfalls streift. Im „Gulick“ war aber immerhin erstmals der Klassencharakter der faschistisch paramilitärischen Verbände angedeutet, die Unterstützung der Heimwehr „durch die deutsche Hochfinanz und die bayrische Konterrevolution“.[3]
Den antikommunistischen Charakter „des Gulick“ strich Jacques Hannak in der SPÖ-„Zukunft“ 1950 (179–185) in dem Sinn hervor, dass die Sozialdemokraten die wirklichen Wahrer von bürgerlicher Humanität und Geistigkeit, von bürgerlicher Zivilisation und Demokratie seien.
Otto Molden (1958): Widerstand ohne Arbeiterklasse
War schon die Geschichte der Ersten Republik von bürgerlichen Vorurteilen aus, von „versteinert, volks- und lebensfremden Österreich feindlichen und antidemokratischen, schwarzgelb schillernden großdeutschen“ Mythen – so „Weg und Ziel“ 1949, 468 – also von einer „Scheinwelt aus Walhalla und Kapuzinergruft“ aus geschrieben, so wurde auch der Widerstand gegen den NS-Faschismus vom Standpunkt des „bornierten Antikommunismus“ dargestellt, so das 1958 unter dem zweifelhaft moralisierenden Titel „Der Ruf des Gewissens“ erscheinende, massiv propagierte Buch Otto Moldens über den „österreichischen Freiheitskampf“, – ein Buch, das in mühevoller Apologetik den konservativen „Widerstand der letzten Minute“ zum zentralen Widerstand anhob.
Die „Weg und Ziel“-Rezension gestand Molden einige brauchbare Informationen über den religiösen Widerstand um den Theologen Karl Roman Scholz, einige neue Details zur Widerstandsgruppe in der Wehrmacht um Karl Biedermann und Carl Szokoll zu. Insgesamt bot Molden aber eine maßlose Übertreibung des bürgerlichen Widerstands: „Aber alles in allem ist es ein liebevoller, manchmal ein bisschen schönfärberischer Bericht über katholische, bürgerliche und monarchistische Kreise, Gruppen, Gruppierungen und Kränzchen, die im großen und ganzen einen Teil dessen darstellten, was man in Frankreich – durchaus nicht ironisch – den ‚Widerstand in Pantoffeln’ genannt hat, einen Teil jener geistigen Abwehrfront, die vor allem diskutierte, Radio hörte, Pläne schmiedete, gar nicht wenig Opfer zu beklagen hatte – aber konkret, praktisch kaum in Erscheinung trat. Der Autor nennt sie alle, vergisst keinen seiner Freunde, Bekannten und Verwandten, Papa und Mama und sich selbst und auch seinen Bruder [Fritz], den durch seinen sauberen Kampf für die Sauberkeit der Presse bekannten Herausgeber der ‚Presse’. Abenteuer, wie sie jeder Partisan und Widerstandskämpfer hunderte Male erlebt hat, werden schrecklich aufgeregt und aufregend geschildert, wenn sie sich in der Familie des Autors abgespielt haben. Stellenweise wird das Buch zu einer peinlich unbescheidenen Familienchronik des Autors.“
Der politisch koordiniert agierende Arbeiter-Widerstand von Kommunisten und Revolutionären Sozialisten aus den Jahren unmittelbar ab dem März 1938 fehlt, da ein „provinzieller Antikommunismus“ Otto Molden zu massiver Geschichtsverzeichnung verleitet: „In diesem Buch fehlen die Arbeiter und der Kampf der Arbeiterbewegung. Der Autor glaubt ihnen Genüge zu tun, wenn er gelegentlich einen sozialistischen Mandatar erwähnt, wie ja überhaupt fast alle Mitglieder der Regierung vom erstaunten Leser als Freiheitskämpfer entdeckt werden. Der Respekt vor dem Proporz ist jedoch größer als der Respekt vor der Wahrheit. Es fehlen die Kämpfe der Partisanen im Ausseer Land, da hätte man von den Kommunisten [Sepp] Plieseis und [Karl] Feldhammer erzählen müssen; es fehlen die Kämpfe der Partisanen im Gebiet der Saualpe und Koralpe – da hätte man von den Kommunisten [Friedrich] Tränkler und [Josef] Spanner sprechen müssen; der Kampf der Wiener Straßenbahner unter der Führung von [Franz] Mager, der Wiener Feuerwehrler unter der Führung von [Johann] Zak, die prächtige Sabotagegruppe unter der Führung von Walter Kämpf, der vielleicht aktivsten Widerstandsgruppe zwischen 1938 und 1945, die mutigen Sabotageakte aus der Gruppe der Wiener Tschechen – all das wird verschwiegen.“ Die wenigen Bemerkungen zum kommunistischen Widerstand leitet Molden mit gespenstisch reaktionären Bemerkungen zur eigentlichen Illegitimität dieses Widerstands ein. Der kommunistische Widerstand könne nur „völlig losgelöst“ vom österreichischen Widerstand behandelt werden, da die „kommunistische Resistance für die Weltrevolution, die Diktatur des Proletariats“ gekämpft habe.
Auf Otto Moldens politisch bewusste Verzeichnung des österreichischen Widerstandes konnte von kommunistischer Seite mit den Arbeiten von Herbert Steiner („Zum Tode verurteilt. Österreicher gegen Hitler“, mit einem Vorwort von Friedrich Heer, 1963) oder von Hermann Mitteräcker („Kampf und Opfer für Österreich“, 1963) geantwortet werden. Hermann Mitteräcker (1908–1976) war als Spanienkämpfer in Dachau interniert gewesen. Nach 1945 arbeitete er in der Agitprop-Abteilung der KPÖ und dann als Landesparteisekretär in Kärnten.
Vorher war 1955 im Stern-Verlag ein Band „Kommunisten im Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs“ erschienen. (Vgl. Weg und Ziel 1955, 573) Später folgten Arbeiten wie jene von Max Muchitsch (1919–2005) über die Partisanengruppe Leoben-Donawitz (1966) oder von Walter Wachs (1913–1991, Spanienkämpfer, 1944 zu den steirischen Partisanen gestoßen) über die Kampfgruppe Steiermark (1968).[4]
Parallel erschienen in „Weg und Ziel“ zahlreiche Beiträge, die erstmals den von der universitären Geschichtswissenschaft völlig ignorierten Widerstand erforschten, so von ehemaligen Spanienkämpfern zur Geschichte der Österreicher in den internationalen Brigaden, etwa von Franz Honner über das „12.Februar“-Bataillon (in Weg und Ziel 1955, 449–453), von Walter Fischer (in Weg und Ziel 1961, 473ff.) oder von Leopold Spira (in Weg und Ziel 1964, 169ff.).
Max Stern (1903–1980), in späteren Jahren Leiter des Parteiarchivs, widmete seinen Kampfgenossen 1966 die erste geschichtliche Gesamtdarstellung „Spaniens Himmel. Die Österreicher in den internationalen Brigaden“.[5] „Weg und Ziel“ publizierte zahlreiche Beiträge zur Geschichte des österreichischen Freiheitsbataillons in Jugoslawien (Weg und Ziel 1959, 50–53), zur Geschichte der Österreicher in der belgischen und französischen Resistance.
„Weg und Ziel“ erinnerte wiederholt an Alfred Klahr, auch an seinen Konflikt mit der KPD in der nationalen Frage („eine Arbeit Alfred Klahrs in Auschwitz“, in Weg und Ziel 1957, 27–37). „Weg und Ziel“ erinnerte in den Jahren des antikommunistischen „Brecht-Boykotts“ an den aus der österreichischen Literaturlandschaft verdrängten, später oft nur als harmloser „Kleinbühnenkünstler“ und „Kabarettist“ akzeptierten Jura Soyfer. (Weg und Ziel 1959, 149–156)
Die von SPÖ-Seite initiierten Arbeiten zur Geschichte des Widerstands standen im Sog der Opportunität sozialdemokratischer „Regierungsbeteiligung“ und im Zeichen des Bemühens, den kommunistischen Widerstand zu marginalisieren. Eduard Rabofsky belegt 1962 in „Weg und Ziel“, wie die im Auftrag der SPÖ handelnden Autoren Karl R. Stadler und Maria Szecsi in ihrem Buch über die „NS-Justiz in Österreich und ihre Opfer“ die konkreten historischen Zusammenhänge verschleiern, indem sie die Namen der nazistischen Richter und Staatsanwälte löschten und die Namen der Opfer unter dem fadenscheinigen Vorwand des Persönlichkeitsschutzes anonymisierten, also die Dokumente frisierten: „Es dürfte in der historischen Literatur nicht häufig vorkommen, dass aus den Texten von Dokumenten Teile entfernt werden, ohne dies kenntlich zu machen. Die Strafprozessordnung sagt, dass jede Urteilsausfertigung die Namen der anwesenden Mitglieder des Gerichtshofes sowie den des Staatsanwaltes enthalten muss, und selbst jedes der mit ‚streng geheim’ bezeichneten Urteile der politischen Gerichte der Nazi enthält diese Namen. Aus den von Szecsi und Stadler als Dokumente bezeichneten und wiedergegebenen Urteilen der Nazigerichte in Österreich wurden die Namen der Richter und Staatsanwälte so kunstvoll entfernt, dass der unbeteiligte Leser glauben muss, ein imaginäres Nazigericht und nicht Nazirichter von Fleisch und Blut hätten die rechtsbrecherischen Urteile gegen Österreicher gefällt.“
Eduard Rabofsky (1911–1994), selbst Opfer der Gestapo-Folter, kannte den in den 1960er Jahren als Vertrauensmann der SPÖ zum Linzer Universitätsprofessor aufsteigenden Karl R. Stadler aus der Zeit des gemeinsamen kommunistischen Kampfs gegen den Austrofaschismus, aus den Konflikten um die „trotzkistische“ „Ziel und Weg“-Gruppe (1936/37). Rabofsky warf dem in der englischen Emigration zur westorientierten Sozialdemokratie übergegangenen Stadler vor, den kommunistischen Widerstand lückenhaft darzustellen, um dessen Einsatz für die Unabhängigkeit Österreichs, um zahlreiche im „Kalten Krieg“ nicht mehr opportune Aktionsgemeinschaften von Revolutionären Sozialisten und Kommunisten gegen den Nazismus in das Vergessen zu drängen. In der Tat findet sich im Nachlass des Justizministers Christian Broda ein Dokument, in dem 1962 bestätigt wird, dass auf SPÖ-Wunsch der kommunistische Widerstand redaktionell gekürzt wurde: „Das konnte ich mit gutem Gewissen tun, da er auch mir überlang erschien. Ca ¼ wurde herausgekürzt.“[6]
Auch Herbert Steiner (1923–2001), 1945 aus England zurückgekehrt, Mitarbeiter der KPÖ, Mitbegründer des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, in innerparteilichen Geschichtsdebatten über den 12. Februar 1934 oder über Otto Bauer dem so genannten „reformkommunistischen“ Flügel nahe stehend, warf Stadler 1966 vor, die Geschichte des Arbeiterwiderstands rückwirkend vom Standpunkt der Sozialdemokratie zu schreiben: Die in vielen Widerstandsgruppen spontan zustande gekommene „Einheitsfront“-Aktionsgemeinschaft von Kommunisten und (Revolutionären) Sozialisten widersprach dem Antikommunismus der Nachkriegs-SPÖ und wurde dementsprechend von Stadler auch gering geschätzt. So urteilte Stadler über den vom Berliner Kommunisten Robert Uhrig im Nordtiroler Unterland 1940 bis 1942 mitorganisierten Arbeiter/innen-Widerstand vom akademisch professoralen Standpunkt, dass „nur die romantische Sehnsucht nach ‚proletarischer Einheit’“ erklären kann, warum erfahrene ehemalige Vertrauensmänner und ‑frauen der Tiroler Sozialdemokratie mit einem KPD-Funktionär kooperieren konnten.[7]
Für eine fortschrittliche österreichische Geschichtsschreibung (1945–1949): Eva Priester, Albert Fuchs
Die habsburgischen und großdeutschen Geschichtslegenden „der Hantsch, Srbik“ waren keine Harmlosigkeit, da diese auch nach 1945 über Lehrbücher, die Presse, Radio, über Filme, Romane, Theater massenhaft auf den Universitäten, in den Schulen als öffentliche „Allgemeinbildung“ verbreitet wurden.
Mit ihrer zweibändigen „Kurzen Geschichte Österreichs“, 1946 und 1949 im Globus-Verlag erschienen, hielt die 1933 der KPD beigetretene Schriftstellerin Eva Priester (1910–1982) den weit in die Geschichte zurückreichenden deutschnationalen und klerikalen Projektionen entgegen. Priester, die 1946 aus der englischen Emigration kommend in Wien in den KPÖ-Presseapparat eintrat, erklärte, dass die österreichische Geschichte völlig „vom Gestrüpp der großdeutschen Darstellung überwachsen ist“, dass die bürgerlichen Historiker damit grundlegend dem Faschismus zugearbeitet haben und dafür verantwortlich sind, dass es in Österreich einen „tragischen Mangel an Nationalgefühl“ gibt. Der elitär dünkelhaft akademischen Historikerzunft Österreichs stellte Priester die englische Geschichtsschreibung eines Edward Gibbon oder Thomas Macaulay gegenüber, die Geschichte auch lesbar demokratisch einer breiten Bevölkerung zugänglich machte und zeigte, „dass Geschichte nicht etwas Totes, Verstaubtes ist“, sondern „die Spur menschlichen Denkens und menschlichen Fühlens, Liebe, Hass, Fortschritt und Kampf“ in sich trägt.
Dementsprechend schrieb Eva Priester historisch materialistisch eine Geschichte von Klassenkämpfen: die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts, die Verfolgung der Anhänger der Französischen Revolution („Jakobinerprozesse 1794/95). Die Revolution von 1848 beschreibt Eva Priester nicht aus einer „Radetzky-Windischgrätz“-Perspektive, sondern in Kenntnis der Revolutionsanalysen von Marx und Engels aus den frühen 1850er Jahren, des „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ oder von „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“. Den tschechischen Aufstand, die Niederlage der Prager Revolution Mitte Juni 1848 – nur Tage vor dem Untergang der Pariser Juniinsurrektion – schätzte Priester als „Generalprobe für die Liquidierung der Wiener Revolution“ ein: „Und Wien – was tat Wien, als dicht neben ihm Prag verblutete? Wien schwieg.“
Priester beschrieb die nationalen und sozialen Widersprüche der Revolution, die Rolle der erstmals politisch organisierten Wiener Arbeiter, den Gesellen Friedrich Sander und seinen „Ersten Allgemeinen Arbeiterverein“. Sie beschrieb die Aufstände der Wiener Erdarbeiter im August, als die Nationalgarde mit den Bürgersöhnen der reichen Stadtteile in ihren Reihen mehrere Arbeiter tötete und damit die Revolutionsbewegung endgültig spaltete. Sie würdigte den Kampf der von Proleten, Taglöhnern, kleinen Handwerkern, von „Barfüßigen und Abgerissenen“ gestellten Arbeitergarden des Roten Wiener Oktober 1848, der mit dem Sieg der habsburgischen Konterrevolution endete.
Es folgen Abschnitte über den Kampf der österreichischen Arbeiter für das politische und gewerkschaftliche Organisations- und Streikrecht, die Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereins 1867, die Loslösung des Sozialismus von der liberalen Bourgeoise, die Verfolgung der Arbeitervereine im „Hochverratsprozess“ 1870, die Flügelkämpfe zwischen „Radikalen“ und „Gemäßigten“ in den 1880er Jahren, über die Schwierigkeiten des proletarischen Kampfs in der Periode des imperialistisch-monopolistischen Kapitalismus nach dem Parteitag von Hainfeld 1888/89 verbunden mit dem Eindringen nationalistischer und opportunistischer Ideologien, im August 1914 tief endend in der Schlagzeile der „Arbeiter-Zeitung“ vom „Tag der deutschen Nation“. Priester beschreibt aber auch die antiimperialistische Kriegsopposition innerhalb der Sozialdemokratie, würdigt den Einsatz Friedrich Adlers trotz seiner sozialpazifistischen Haltung, und dann vor allem die Aufstände der österreichischen Arbeiterklasse 1918, den Jännerstreik und den Matrosenaufstand von Cattaro.
Über den Charakter des Marineaufstands von Cattaro führte Eva Priester auch eine Debatte mit Bruno Frei, der 1927 die erste Geschichte der roten Matrosen geschrieben hat: „Cattaro ist nicht Kronstadt!“ – soll Otto Bauer gesagt haben. War in Cattaro nur die Ernährungs‑, die „Magenfrage“ relevant? War die Revolte nur nationalrevolutionär ausgerichtet, wie bürgerliche Historiker meinen? Welche Rolle spielte die Friedensfrage, der russische Oktober, also die sozialrevolutionäre Frage? Was wussten die Matrosen von den Arbeiterstreiks in Wien und Umgebung? Hatten sie Verbindung in das unmittelbare ländlich proletarische Hinterland, zu den Hafenarbeitern in Pola? Waren die Aufständischen um Franz Rasch im Ansatz organisiert?[8]
1949 konnte die Kommunistische Partei Österreichs im Globus-Verlag Albert Fuchs’ „Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918“ veröffentlichen. Albert Fuchs (Jg. 1905) war schon 1946 kurz nach der Rückkehr aus England verstorben. Fuchs’ österreichische Geistes- und Kulturgeschichte war unter den prekären Bedingungen einer mehrmaligen Verhaftung des Autors durch das Schuschnigg-Regime, der Flucht nach Prag 1938 und der Emigration nach England 1939 entstanden.
Albert Fuchs würdigte die fortschrittlichen Traditionen der österreichischen Geistesgeschichte: Ernst Mach, Ludwig Boltzmann, Friedrich Jodl, Josef Popper-Lynkeus, Sigmund Freud, die bürgerlich pazifistischen Strömungen um Bertha von Suttner, Alfred Hermann Fried und Heinrich Lammasch. Er stellte auch die reaktionären Denklinien dar, die Abgründe des bürgerlichen Liberalismus mit seinen hetzerisch chauvinistischen Feuilleton-Phrasen, festgemacht an der Person des von Karl Kraus verachteten „Presse“-Herausgebers Moritz Benedikt.
Mit einem glanzvollen Kapitel über die Geschichte der Arbeiterbewegung widersprach Fuchs vorab vielen nach 1945 von Oscar Pollak oder Jacques Hannak verbreiteten sozialdemokratischen Geschichtsklitterungen. Fuchs übte marxistische Kritik am so genannten „Hainfelder Weg“, der von der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung als das „Einigungswerk“ angebetet wurde. Mit Lenins Kritik am „Zentrismus“ erklärte Fuchs schon in den 1890er Jahren sichtbare „opportunistische Tendenzen“, so in der Massenstreikfrage, so in der nationalen Frage, in der sich die (deutsch-) österreichische Sozialdemokratie weigerte, den unterdrückten Nationen das revolutionär wirkende Recht auf nationale und staatliche Sonderexistenz zuzubilligen. Dem habsburgischen Balkanimperialismus trat die Sozialdemokratie schon im letzten Jahrzehnt vor 1914 nur zögerlich entgegen, so dass die Preisgabe des proletarischen Internationalismus im Sommer 1914 trotz aller antimilitaristischen Deklamationen der II. Internationale nicht überraschend kam. Die reformistischen Illusionen vom ständigen, evolutionär „friedlichen Kräftesammeln“ hat die Sozialdemokratie in die Kapitulation des „Burgfriedens“ von 1914 geführt, wie Fuchs mit Lenins „Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus“ belegt: „Die österreichische Sozialdemokratie erfuhr dasselbe Schicksal wie die Zweite Internationale in ihrer Gesamtheit: sie verfiel, politisch gesprochen, den korrumpierenden Einwirkungen der imperialistischen Epoche. (…) In ihrer ganzen Schwere stellten sich die Folgen des jahrelang wuchernden Opportunismus bei Kriegsausbruch ein. Die Partei degradierte sich zur aktiven Helferin des Imperialismus.“ In Otto Bauers und Friedrich Adlers Kurs, 1918/19 einen räterepublikanischen Weg zu verhindern, sah Albert Fuchs die Wurzel des Untergangs der Partei 1934.[9]
KP-Lehrhefte zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Mit eigenen Lehrheften reagierte die Schulungsabteilung der KPÖ gegen die sozialdemokratische Harmonisierung der Geschichte der Arbeiterbewegung. Für den Parteigrundschullehrgang legte die KPÖ bis 1955 in fünf Heften eine „Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung“ vor, – unter den Verfassern der 1961 aus Protest gegen die „Sozialdemokratisierung“ der Partei ausgetretene Franz Strobl oder die 1968 aus umgekehrtem Motiv zum so genannten „Reformkommunismus“ abgewanderten Leopold Spira und Franz West.[10]
1948 wurde in „Weg und Ziel“ entschieden der dritten Neuauflage von Julius Deutschs „Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung“ (1947) widersprochen. Die erste Auflage war schon 1914 als Lehrbehelf für die Wiener Arbeiterschule erschienen. In der zeitlich entsprechend erweiterten dritten Auflage bot Julius Deutsch eine völlig unkritische Darstellung der SDAP im Zug des Zusammenbruchs der II. Internationale 1914. Die Rolle der SDAP im Kampf gegen den Faschismus, am 15. Juli 1927 oder dann am 12. Februar 1934 war geglättet: „Über die für die SP-Führer peinlichen Stellen der Geschichte geht Julius Deutsch mit einigen nichtssagenden Bemerkungen zur Tagesordnung über. Bekanntlich wurde – um ein Beispiel zu nennen – 1912 am Internationalen Sozialistenkongress in Basel beschlossen, gegen die Entfesselung eines imperialistischen Kriegs zu kämpfen. Was taten jedoch die österreichischen SP-Führer, als 1914 der imperialistische Krieg tatsächlich ausgebrochen war? Sie gaben jene Erklärung ab, die sie für solche Fälle stets parat hatten: ‚Da kann ma halt nix machen.’ Tatsächlich heißt es bei Julius Deutsch: ‚Die Partei war sich also schon vor dem Kriege klar darüber, dass sie zu schwach sei, das Unglück zu bannen.’ Der Parteivorstand hatte sich jedoch wie auch Deutsch nicht verschweigen kann, ganz offen für die Unterstützung des ersten, imperialistischen Weltkriegs ausgesprochen.“ Den Widerstand des 15. Juli 1927 oder des 12. Februar 1934 reklamiert Deutsch für den SP-Vorstand, obwohl er gegen seinen Willen, ja oft sogar unter nachträglicher Denunziation der Aufständischen erfolgt war. Der Rezensent von „Weg und Ziel“ merkt ferner an: Sogar Otto Bauer hat in seiner nach dem Tod 1939 herausgegebenen Schrift über die „illegale Partei“ den Anteil der KPÖ am Widerstand gegen den Faschismus anerkannt. Deutsch retouchiert ihn 1947 wieder weg. (Weg und Ziel 1948, 152f.)
[1] Weg und Ziel 1946, 38f. – Vgl. zu den auf das Jahr 1935 zurückgehenden Anfängen Willi Weinert: 45 Jahre Weg und Ziel. Wurzeln des Kampfes der KPÖ für ein freies Österreich und die Frage der Einheitsfront, in: Weg und Ziel 1980, 192–195.
[2] Franz West: Geschichtsschreibung – für den Hausgebrauch der Koalition, in: Weg und Ziel 1955, 152–158. Vgl. Geschichte der Republik Österreich, hrg. von Heinrich Benedikt mit Beiträgen von Walter Goldinger, Adam Wandruszka, Stephan Verosta und Friedrich Thalmann, Wien 1954, 9, 12, 33, 49, 478.
[3] O.L.: Rezension von C.A. Gulick: „Österreich von Habsburg zu Hitler“, in: Weg und Ziel 1950, 731–734. Vgl. Charles A. Gulick: Österreich von Habsburg zu Hitler, 5 Bände, Wien [1950], Band 1: 8f., – Band 5: 24–33, 37, 42–48.
[4] M.: Rezension von Otto Molden, Der Ruf des Gewissens. Der österreichische Freiheitskampf 1938–1945, Herold Verlag, in: Weg und Ziel 1958, 590–592. Vgl. u.a. auch einen Beitrag von Ludwig Melchior [als Februarkämpfer vom Austrofaschismus verfolgt, aktiv in der Roten Hilfe, zuletzt bei den steirischen Partisanen]: Der Heldenkampf der steirischen Kommunisten 1938–1945, in: Weg und Ziel 1958, 931–935.
[5] Zu Stern vgl. Lisl Rizy/Willi Weinert: Bin ich ein guter Soldat und guter Genosse gewesen? Österreichische Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg und danach, Wien 2008, 32–47.
[6] Eduard Rabofsky: Die Blutjustiz des Dritten Reiches – ein unbewältigtes Kapitel des österreichischen Rechts, in: Weg und Ziel 1962, 818–828 und zu dieser SPÖ konformen Stadler’schen „Methode der Geschichtsschreibung“ noch einmal Eduard Rabofsky in: Weg und Ziel 1974, 171–173. Zum Erscheinen des Stadler/Szecsi-Buchs im konservativen Herold-Verlag und zur „Kürzung“ des KPÖ-Anteils vgl. Gerhard Oberkofler: Das Regierungsprojekt einer Dokumentation über den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft 3/2003.
[7] Vgl. Herbert Steiner: Rezension von Karl Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten, Herold-Verlag, Wien 1966, in: Weg und Ziel 1966, 645–649.
[8] Vgl. Claudia Trost: Eva Priester. Ein biographischer Abriss, in: Die Alfred Klahr Gesellschaft und ihr Archiv. Beiträge zur österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2000, 347–370 – weiter Eva Priester: Die Matrosen von Cattaro, in: Weg und Ziel 1955, 218–232 und aus Anlass der Neuauflage des Cattaro-Buchs Bruno Frei: Die Matrosen von Cattaro. Neue Forschungen, in: Weg und Ziel 1962, 447–452.
[9] Vgl. Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918, Wien 1949, 86–129. – Vgl. Willi Weinert: Zum Leben von Albert Fuchs. Aus dem Briefwechsel mit Erwin Chargaff, in: Die Alfred Klahr Gesellschaft und ihr Archiv. Beiträge zur österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2000, 259–275.
[10] Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Lehrgang für die Grundschulung, herausgegeben vom Zentralkomitee der KPÖ, 5 Hefte, Wien 1955. – Heft 1 und 2: Franz Strobl, Heft 3: Leopold Spira, Heft 4: Franz West, Heft 5: E. Lustmann.