Mitten in einer von Banden beherrschten Hauptstadt übernimmt Laurent Saint-Cyr als neuer Präsident Haitis die Macht – doch Gewalt, Misstrauen und eine geschwächte UN-Mission lassen Zweifel am Weg zur Stabilität aufkommen.
Port-au-Prince. Laurent Saint-Cyr wurde am Donnerstag als Präsident des haitianischen Übergangspräsidialrats vereidigt und übernahm die Macht neben Premierminister Alix Didier Fils-Aimé. Die Amtseinführung erfolgte unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einer Hauptstadt, die zu 90 Prozent von bewaffneten Banden kontrolliert wird. Die Ernennung markiert das erste Mal, dass Vertreter des Privatsektors beide höchsten Exekutivämter des Landes besetzen.
Saint-Cyr, ehemaliger Präsident der Amerikanischen Handelskammer in Haiti und der haitianischen Industrie- und Handelskammer, betonte in seiner Antrittsrede: „Unser Land durchlebt eine der größten Krisen seiner Geschichte. Jetzt ist nicht die Zeit für schöne Reden, sondern zum Handeln.“
Bedrohung durch Gangs und Gewaltausbrüche
Kurz vor der Vereidigung veröffentlichte Jimmy Chérizier, Anführer der Gang-Koalition Viv Ansanm und bekannt unter dem Spitznamen „Barbecue“, ein Video, in dem er den Sturz der Regierung ankündigte. Bewaffnet mit einem Sturmgewehr und in einer schusssicheren Weste forderte er die Bevölkerung auf, seinen Kämpfern freie Durchfahrt zu gewähren: „Helft uns im Kampf für die Befreiung des Landes.“
In mehreren Stadtteilen Port-au-Princes kam es zu Schusswechseln. Lokale Medien berichteten von einer Toten und einer Verletzten bei einem Angriff auf ein Fahrzeug. Ein weitverbreitetes Video zeigt eine leblose Frau in einem Auto. Auch am Dienstag gab es weitere Gefechte, darunter Explosionen durch Polizeidrohnen.
Geteiltes Echo in der Bevölkerung
Vor dem Amtssitz des Übergangsrats versammelten sich Anhänger Saint-Cyrs in weißen T‑Shirts, während es später zu Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern kam. Saint-Cyr nannte die Wiederherstellung der Sicherheit als oberste Priorität und forderte mehr Einsatz der Sicherheitskräfte sowie internationale Unterstützung. Die von kenianischen Polizisten geführte, UN-gestützte Sicherheitsmission (MSS) bestätigte unterdessen schwere Engpässe: Mit nur 991 von geplanten 2.500 Einsatzkräften und fehlender Luftunterstützung sind die Kapazitäten stark eingeschränkt. Zwei gepanzerte Fahrzeuge fielen Banden zum Opfer, nachdem sie in von diesen gegrabene Gräben gerieten. In Kenscoff wurden kenianische Beamte mit Molotowcocktails angegriffen; drei erlitten leichte Verletzungen.
In sozialen Medien verhöhnten mutmaßliche Gangmitglieder die Sicherheitskräfte: „Kommt und holt es euch, wenn ihr könnt!“, rief ein Bewaffneter neben einem zerstörten Fahrzeug.
Humanitäre Krise und Vorwürfe gegen die Regierung
Die Gewalt hat über 1,3 Millionen Menschen vertrieben, seit Präsident Jovenel Moïse 2021 ermordet wurde. Allein zwischen April und Juni 2025 wurden mindestens 1.520 Menschen getötet und über 600 verletzt – 60 Prozent davon bei Anti-Gang-Operationen.
58 internationale Organisationen warfen dem Übergangsrat in einem Brief Versagen beim Schutz von Frauen und Mädchen vor: „Vergewaltigungen sind endemisch, der Staat ist in Schutzorten kaum präsent.“ Marline Jean-Pierre, eine Lehrerin, die eine Konfliktzone durchquerte, um ein Krankenhaus zu erreichen, zeigte sich resigniert: „Die Eliten wollten immer die Macht – und jetzt haben sie sie. Aber bisher hat sich nichts geändert.“
Mit einer schwachen Regierung, eskalierender Gewalt und mangelnder internationaler Hilfe bleibt Haitis Weg zur Stabilität ungewiss. Die MSS warnte in einem Bericht vor internen Machtkämpfen, die die Gang-Kriminalität weiter anheizen. Während Saint-Cyr und Fils-Aimé ihr Amt antreten, bleibt die Frage, ob sie das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen – und die Ressourcen, um das Land zu stabilisieren.