Die SPÖ entsendet den Wiener Bürgermeister Michael Ludwig zum türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdoğan – Menschen‑, Minderheiten- und Frauenrechte sowie Demokratiedefizite sind kein Thema.
Wien/Ankara. Wien und die Türkei – das war und ist nicht immer eine einfache Beziehung. Man muss nicht bis zu den beiden (gescheiterten) militärischen Belagerungen der Donaumetropole durch osmanische Heere in den Jahren 1529 und 1683 zurückgehen – oder bis zur geteilten Niederlage im Ersten Weltkrieg, mit der zwei große Monarchien und Reiche, die über Jahrhunderte rivalisierten, schließlich Seite an Seite zugrunde gingen.
Mindestens 80.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben heute in der österreichischen Bundeshauptstadt, rund die Hälfte davon wurde eingebürgert. Damit stellen die Türken nach den Serben und etwa gleichauf mit den Deutschen die zweitgrößte Einwanderergruppe Wiens, was sich im multikulturellen Stadtbild je nach Bezirk mehr oder minder deutlich abzeichnet. In der Wiener SPÖ ist man sich dessen bewusst und buhlt auch ganz gerne um die Neuwähler. Das ist einerseits durchaus eine integrationspolitische Notwendigkeit, hat aber eben auch seine Schattenseite: Die meisten Menschen aus der Türkei in Österreich sind Anhänger der AKP, der islamisch-konservativen Partei des türkischen Machthabers Erdoğan – bei denjenigen, die auch in der alten Heimat noch wahlberechtigt sind, ist das an den Auslandsstimmenergebnissen immer deutlich ablesbar. Dazu passt, dass der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig am vergangenen Freitag nach Ankara reiste, um Herrn Erdoğan zu treffen.
Das Ziel seit die „Verbesserung der Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei“ gewesen, hieß es. Es ging auch um die türkischen Verhandlungsinitiativen im Ukrainekonflikt sowie um bilaterale Zusammenarbeit im wirtschaftlichen, kulturellen und touristischen Bereich. Was den mächtigsten Mann der österreichischen Sozialdemokratie bei seiner Erdoğan-Audienz nicht beschäftigt hat, sind allerlei unangenehme Aktivitäten des autoritären AKP-Regimes – man will ja diplomatisch höflich bleiben und sich vor allem auch nix verbauen.
Dabei hätte es genug Themen gegeben: Eine relevante Zahl der Menschen aus der Türkei in Wien ist deshalb hier, weil sie in ihrer Heimat verfolgt wurden oder werden: Linke, Kurden, Aleviten, Armenier – der lange Arm des Erdoğan-Regimes verfolgt sie zum Teil bis nach Österreich, wo die einheimischen Behörden zumeist auf schändliche Weise kollaborieren. Auch Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in der türkischen und rund um die kurdische Community Österreichs bleiben toleriert. Wo das nicht reicht, werden in Österreich lebende türkische Faschisten, Nationalisten und Islamisten auf eigene Faust tätig und greifen schon mal eine kurdische Frauendemo an.
Man hätte Erdoğan kritisch fragen können, wie es um die Rechte der Minderheiten in der Türkei steht, um politisch-demokratische und gewerkschaftliche Rechte, um Frauenrechte. Wie ist es mit der Repression gegen die HDP, gegen Arbeiterorganisationen und gegen Kommunisten? Wie weit soll der Staatsterrorismus gegen die kurdische Bevölkerung noch gehen? Nun ja, so etwas darf man nicht sagen, weil dann verhindert Erdoğan zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht einen österreichischen NATO-Beitritt.
Womit wir bei der internationalen Ebene wären: Wie kann es sein, dass die Türkei gänzlich ungestört immer wieder völkerrechtswidrige Militärschläge, Interventionen und Invasionen auf dem Staatsgebiet der Nachbarländer Irak und Syrien unternimmt? Was ist mit der Unterstützung der aserbaidschanischen Aggressionen gegen Armenien? Was mit den Provokationen gegen Zypern und Griechenland? Eigentlich müsste man die Türkei ja längst vom Eurovision Song Contest und der Eishockey-WM ausschließen. Gut, das würde Erdoğan wohl auch nicht übermäßig beeindrucken, aber Anstand, Moral und einheitliche Standards sehen eben anders aus.
Der Wiener SPÖ und Bürgermeister Ludwig ist das offenbar egal. Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Demokratie und Gleichberechtigung stehen nicht auf der Agenda, wenn man nach Ankara reist, ungeteiltes internationales Recht und die staatliche Integrität der Nachbarländer sowieso nicht. Erdoğan weiß das und kann tun und lassen, was er will. Die EU, die NATO, aber auch Österreich und Wien brauchen den türkischen Machthaber als Verbündeten – in der Flüchtlingsabwehr, bei der kapitalistischen Profitmacherei, als Okkupationspartner am Balkan, bei den weiteren imperialistischen und militärischen Plänen.
Und so verkommt der Staatsbesuch zur Unterwerfungsgeste. „Boyun eğme!“, lautet ein kämpferischer Aufruf der Kommunistischen Partei der Türkei, die sich nicht beugen will. Für die SPÖ Wien kommt der Hinweis zu spät – sie liegt schon auf dem Bauch vor Erdoğan.
Quelle: Der Standard