Gastautor Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck
Rund zwei Monate nach dem Schutzbund-Arbeiteraufstand im Februar 1934 fuhr Anna Seghers durch Österreich, um für den 1935 in Paris erscheinenden Roman „Der Weg durch den Februar“ zu recherchieren. Sie besuchte Schwurgerichtsverhandlungen gegen Februaraufständische. Für die Erzählung „Der letzte Weg des Koloman Wallisch“ wanderte sie den Fluchtweg der Wallisch-Gefährten ab: „Zehn Wochen nachdem man den Koloman Wallisch in Leoben aufgehängt hat, fahre ich an einem Werktag in der Frühe von Graz nach Bruck an der Mur. Unermessliche Mengen von Flieder und Kastanien sind über dem Land Österreich aufgegangen. Fliederbüschel in Wassergläsern haben in Wien in den zerschossenen Gemeindehäusern auf allen Kommoden gestanden, in denen noch die Schrapnellsplitterchen steckten. (…) Die Gemeindehäuser waren nur außen wiederhergestellt, innen war alles unverändert geblieben, weil der Gemeinde das Geld ausgegangen war.“
Anna Seghers beschreibt in ihrer Novelle und auch in ihrem Februar-Roman, wie Grazer Sozialdemokraten Anfang 1934 – Tage vor dem Aufstand – den verehrten Landesparteisekretär Koloman Wallisch bedrängen. Dieser reagiert beruhigend: „‚Genosse Wallisch! Wir reden grad davon. Unsere Bürgermeister werden uns einer nach dem andern verhaftet, die Heimwehren rücken an, es geht an unsere Betriebsräte, es geht an unsere Abgeordneten. Da haben wir grad gesagt. Was denkt sich denn der Genosse Wallisch?‘ Der Genosse Wallisch hat gesagt: ‚Morgen kannst’s schwarz auf weiß lesen, was sich der Genosse Wallisch denkt.‘ Da hat der Melchior Senzer gesagt: ‚Wann schlagen wir los, Genosse Wallisch?‘ Da hat der Wallisch gesagt: ‚Wenn’s für die Arbeiterklasse nützlich ist.‘ Da hat der Senzer gesagt: ‚Der Arbeiterklasse ist es längst nützlich‘ Da hat der Wallisch ihn angesehen, so, und hat gesagt: ‚Sie hat immer noch viel zu verlieren.‘ Da war’s still, da habens alle hingehört, und da hat der Melchior Senzer giftig in die Stille reingesagt, dem Wallisch ins Gesicht: ‚Alles ist schon hin, einen Dreck hat sie zu verlieren.‘ Da hat der Wallisch den Melchior Senzer soo [!] angesehen und hat gesagt, ganz ruhig: ‚Seit wann ist dein Blut denn Dreck?‘ Da haben alle stillgeschwiegen, auch der Melchior Senzer.“ (Februar-Roman, 222f.)
Das Bild von Wallisch schwankte je nach Sicht, für die bürgerliche Reaktion war er ein verhasst hetzerischer Bolschewik. Einige linke Arbeiter kreideten ihm seine Nähe zur reformistisch zaudernden Parteileitung an. Manchen galt er gar als „Packler“ im Stil von Karl Renner. Der historische Koloman Wallisch war ein loyaler Sozialdemokrat, als solcher ein Gegner der Kommunisten. Er war aber auch der kampfbereite Arbeiterführer des Februar 1934, wie Grazer Gefährten Anna Seghers bei ihrer Reise durch Österreich Ende April 1934 berichten: „Wallisch hatte den Leuten in Bruck versprochen, aus Graz herüberzukommen, sobald es Ernst wird. Der Generalstreik wurde durchgegeben. Wallisch rief seine Frau, und sie fuhren. In Bruck war der Streik total, das Elektrizitätswerk lag still, die Brucker hatten seit Januar ihre Waffen in Kellern und Wohnungen eingemauert, die bewaffneten Formationen stellten sich, vor Pernegg wuchsen Barrikaden.“ (Wallisch-Erzählung, 159f.)
Auf dem Weg entlang der Fluchtroute hat Anna Seghers einen zwanzigjährigen Burschen „in schlechtem Hemd und speckiger Hose“ getroffen. Er ist arbeitsloser Sohn eines Eisenbahners, untergetaucht, der Februarverfolgung mit Glück entkommen. Der arbeitslose Schutzbündler berichtet von seinem Vater, von demoralisierten, nach der Niederlage des März 1933 nicht mehr kampfbereiten Eisenbahnern und von Wallisch, der ständig versucht hat, jeden (bewaffneten) Widerstand, jeden Generalstreik wenn schon nicht zu verhindern, dann wenigstens hinauszuzögern. Würde er leben, wäre er wohl ein „Brünner“, also ein Anhänger der seit dem 12. Februar in die Tschechoslowakei exilierten Parteileitung?
Der Arbeitslose erzählt von Nazis, die demoralisierte Genossen mit billigen Tricks anmachen, von den vielen, die zu den Kommunisten übergehen: „Mein Vater ist ein ordentlicher Mann, aber er hat nicht mitgemacht, er hat kein Vertrauen gehabt. Da hatten die Eisenbahner vorher den großen Streik verloren. ‚Man hat uns verpackelt, und man wird uns diesmal wieder verpackeln.‘ Der Wallisch? Wir haben ihm zugesetzt das ganze Jahr über, wir haben ihm zugesetzt, dass er losschlagen soll, aber er wollte kein Blut vergießen. Blut ist dann doch vergossen worden, zur Unzeit, und falsches Blut. Wir haben ihm gesagt: ‚Du bist doch von Natur gar kein Packler, was hältst du dich denn an ihre Pakte? Schlag doch du zuerst zu, Genosse Wallisch, dann hat eben Bruck zuerst zugeschlagen. Jetzt ist es so gekommen‘, sagt er und bleibt stehen, ‚bei uns in Bruck waren die meisten Toten prozentual.‘“
In einem steirischen Wirtshaus kann Anna Seghers den Streit um den toten Koloman Wallisch beobachten. Er war doch ein „Kompromissler“ meint einer. Ein andrer Genosse reagiert empört: „Wisst ihr denn überhaupt, wer das war, der Wallisch? Ganz von klein auf hat er gekämpft, zuerst als Maurerlehrling daheim und dann im Bauarbeiterverband, ein Bursch, blutjung. In Triest vor dem Krieg hat er gekämpft bei dem großen Bauarbeiterstreik, in Szegedin war er Parteisekretär, und in Räteungarn hat er gekämpft. Ah, ihr wisst ja nichts.“
Ein weiterer Wallisch-Verehrer meint: „Der Wallisch hat einen Anhang hier in der Gegend gehabt, auch bei den Bauern, was immer schwer für die Partei gewesen ist. Was er jetzt tät, der Wallisch, wenn er mehr gehabt hätte als sein Leben, ob er in Brünn säße mit den anderen, ob er von Brünn aus auch packeln tät? Ich glaub nicht.“ (Wallisch-Erzählung, 162, 172)
Auf dem Weg zum steirischen Hochanger trifft Seghers auf Bauern, die in ihrer Abhängigkeit von klerikaler Frömmelei Wallisch gefürchtet haben. Viele kleine Landpächter sind ihm aber auch dankbar, da er jeden „Paragraph im Kopf gehabt hat“, der den Kleinbauern im Streit mit dem Großgrundbesitz nützlich war: „Wodurch der Wallisch Anhang bei den Bauern hatte? Durch das Pachtschutzgesetz. Das Weideland um Bruck herum ist seit langem zum großen Teil Gemeindeland. Der Wallisch hat damals das Pachtschutzgesetz gemacht und nie dran rütteln lassen. Der Pächter konnte nicht vom Boden vertrieben werden, die festgesetzte Pacht konnte nicht erhöht werden. Er war der reine Anwalt, der Wallisch. Bist du zu ihm gekommen, hast du ihn um Rat gefragt, an allen Fingern hat er die Paragraphen abgezählt. Solche Paragraphen hat er gewusst – für den armen Mann, dass man ihm nicht ans Fell kann. Jetzt werden sie wohl die Gesetze durchreißen, in denen es noch solche Paragraphen gab.“ Trotz hohem Kopfgeld haben die Bauern Wallisch nicht verraten. Sie wären da nämlich um ihr „Gewissen“ gekommen. (Wallisch-Erzählung, 167f.)
Auch Bertolt Brecht hat das Wallisch-Motiv aufgegriffen. Für eine Fragment bleibende Kantate über den am 19. Februar 1934 in Leoben hingerichteten Koloman Wallisch studierte er Paul Keris „Soldat der Revolution Koloman Wallisch“ und Bela Kuns „Die Februarkämpfe in Österreich“, beide 1934/35 erschienen.
Koloman Wallischs Eintritt in die sozialistische Arbeiterbewegung knapp nach 1900 schildert Brecht nach der Biographie von Kolomans Frau und Kampfgenossin Paula Wallisch: „Der Zimmermannsohn aus Lugos in Siebenbürgen, der Bergarbeiter, der Porzellanarbeiter, der Bauarbeiter“ war in einem von einem „Matrosen vom Panzerkreuzer Potemkin“ gegründeten Arbeiterverein in die politische Schule gegangen. 1919 hat er sich in Szeged als Aktivist der ungarischen Räterepublik vergeblich als „Verteiler des Grundbesitzes des Grafen Palawizzini“ abgemüht. Desgleichen beschreibt Brecht die Flucht Wallischs und seiner Mitkämpfer über die steirischen Berge: „Ein Bauer am Hochanger / Gab ihm Milch und drei Brote, doch wisst: / Die Groschen hat er entrichtet / Bevor er ins Brot biss.“ – und seine Verhaftung und Hinrichtung: „Im Februar vierunddreißig / Der Menschlichkeit zum Hohn / Hängten sie den Kämpfer / Gegen Hunger und Fron / Koloman Wallisch / Zimmermannsohn.“
Die Erinnerung an die gefallenen Schutzbündler wird vom austrofaschistischen Regime geächtet. In Anna Seghers Februar-Roman besucht der junge Genosse Fritz mit der Mutter eines bei den Kämpfen umgekommenen Wiener Schutzbündlers den Zentralfriedhof. Lange suchen sie nach den Gräbern der Februarkämpfer, finden sie dann in einem verwahrlosten Friedhofseck: „Sie erblickten einen großen Haufen aus einem Abfall von welken Kränzen, Schleifen und Sträußen. (…) [Fritz] las die vier Namen der Familie Eberle, Mann, Frau und zwei Kinder. Sie waren im ersten Stock ihrer Hofwohnung durch Ekrasit zerstückelt worden. Sie standen auf ihrem Blumenschild untereinander, als seien sie alle am selben Tag einer Grippeepidemie erlegen nach Gottes unerforschlichem Ratschluss. Frau Bäranger kauerte sich hin. Sie hatte Rudolfs Namen entdeckt. Sie zerrte aufgebracht an dem losen Rasenstreifen und legte ihre Blumen hin.“ Beim Weggehen sehen sie die Arkadendenkmäler, die „Grabdenkmäler der Ehrentoten“, deren Büsten, „ihre Züge waren prall von Stolz und Erkenntnis, frei von allen Zweifeln und kläglichen Ängsten.“ (…) Ihre Namen und Daten waren mit Gold eingraviert, unverwesbar, für alle Nachfahren.“ (Februar-Roman, 361)
Noch schändlicher ist der Umgang mit den Opfern in Bruck an der Mur und in Graz, wie Anna Seghers im Frühjahr 1934 beobachten kann: „Ich finde mich nicht zurecht, werkmorgens allein auf diesem Friedhof. Den Totengräber finde ich nicht. In der Provinz ist es noch schwerer als in Wien, die Februartoten zu finden. In Graz hat man sie zwei und zwei in Säcke vernäht, man hat sie überall in flache Gruben gedrückt, man hat die Gräber mit den Schuhen eingetreten, man hat verboten, Schilder und Blumen draufzustecken.“
Die Brucker Arbeiter- und Parteihäuser sind zu Gefängnissen umfunktioniert, zu provokant hatte das Bürgertum diese Errungenschaften des Proletariats empfunden: „Das große rote Haus hinter den Kastanien ist das Volkshaus. Die Gendarmen, Gewehr bei Fuß, lächeln nicht. Sie zwingen mich, abzubiegen, man kommt nicht dicht heran. Die Brucker Februargefangenen sind im Volkshaus eingesperrt. Allzu gelassen schoben diese neuen Volkshäuser ihre großzügigen und reinlichen Fassaden zwischen die angestammten Prachtbauten, Kirchen, Theater und Gerichtsgebäude. In Leoben, in Bruck, in allen Provinzstädten sperrt jetzt die Kleinstadtbourgeoisie ihre Gefangenen in die Volkshäuser.“ (Wallisch-Erzählung, 159f.)
In Leoben ist die Erinnerung an Koloman Wallisch unter Strafe gestellt: „Ich gehe auf dem heißen Friedhof umher und suche nach Frauen und Männern, die aussehen, also ob sie das Grab besuchen. Wie der Wiener ist auch der Leobener Friedhof bespitzelt. Das Wallisch-Grab ist flacher als die Erde, grasig, ein paar zerquetschte Butterblumen liegen darauf. ‚Sie haben mit den Stiefeln daraufgetrampelt‘, sagt ein Besucher, der sich plötzlich wie ich an dem Grab einfindet. Er starrt mit gerunzelter Stirn auf die zerquetschten Butterblumen herunter wie auf eine Inschrift. ‚Sie geben vierzehn Tage Arrest jedem, der Blumen darauflegt.‘“
Die letzten antifaschistischen Symbole werden entfernt, die Erinnerung an den italienischen Sozialisten Giacomo Matteotti wird gelöscht: „Heute erwartet Leoben die italienischen Offiziere, die Dollfuß zum Ersten Mai nach Wien eingeladen hat, um den Matteotti-Hof umzutaufen in Gio-Hof (Gio, von Antifaschisten im Stadtrat von Bologna getötet). Das Volk hat die Landstraßen mit Nägeln gespickt für diese Gäste, die bis zum Semmering zehnmal die Reifen wechseln werden.“ (Wallisch-Erzählung, 171f.)
Anna Seghers: Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932 [1933] – Der Weg durch den Februar. Roman [1935] (=Gesammelte Werke in Einzelausgaben 2), Aufbau-Verlag, Berlin 1952.
Anna Seghers: Der letzte Weg des Koloman Wallisch (1934), in dieselbe: Der Bienenstock. Gesammelte Erzählungen in drei Bänden I, Aufbau-Verlag, Berlin 1963, 158–173.
Kurt Batt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke, Reclam-Verlag, Leipzig 1980.
Arnold Reisberg: Februar 1934. Hintergründe und Folgen, Wien 1974.