Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Der Schweizer Kommunist Konrad Farner stellt die Antithese von Franziskus von Assisi dar
Der Zürcher Kommunist Konrad Farner (1903–1974) gehört zu den Pionieren des heute weder zum Nutzen der Kommunisten noch zum Nutzen der Christen in die Vergessenheit gedrängten Dialogs zwischen Christen und Marxisten. 1971 hat Farner mit dem Berner Pfarrer Kurt Marti (1921–2017), der ein Spezialist für Psalmen (Theopoesie) war, eine vom Berner Kameramann Peter von Gunten (*1941) aufgenommene Diskussion geführt, die als etwa fünfzig Minuten langer Dokumentarfilm am 23. November 1971 im Kellerkino Bern gezeigt wurde. Farner und Marti waren im Einvernehmen, dass das marxistische Weltbild wie das christliche Weltbild die Liebe im Zielpunkt hat, „einen ethischen Menschen, einen gemeinnützigen Menschen, einen barmherzigen Menschen, einen edlen Menschen, einen guten Menschen“ (Farner).[1] Kurt Marti erhielt wegen dieser Diskussion mit Farner keine Anstellung an der Universität Bern, um die er sich beworben hat. Das war im schweizerischen Universitätssystem nicht ungewöhnlich. Farner hat bis in seine letzten Lebensjahre hinein an schweizerischen Universitäten schier Hausverbot, auch Hans Heinz Holz (1927–2011) und andere linksorientierten Gesellschaftswissenschaftler wurden abgelehnt.
Es ist naheliegend, dass Farner sich in Vorbereitung auf den mit Christen geführten Dialog mit der Botschaft von Franziskus von Assisi (1181/82–1226) befasste. Franziskus stammt aus der reichen Tuchhändlerfamilie Bernadone, die mehrere Häuser in Assisi in ihrem Eigentum besaß. Franziskus predigte Armut und lebte selbst das Ideal der Armut. Er war Begründer des Minoritenordens (Ordo Fratrum Minorum). Dieser Orden war eine der Reaktionen „auf das Politikastertum der Kirche und gleichzeitig auf die scholastische Philosophie“, wie das Antonio Gramsci (1891–1937) treffend charakterisiert hat.[2] Farner analysiert mit der Überschrift „Franziskus von Assisi und dessen Antithese: Lohn, Preis und Profit“ den historischen Prozess, der die individuelle Option von Franziskus hervorbrachte.[3] Was Karl Marx (1818–1883) darüber dachte und niedergeschrieben hat, erörterte zuletzt Thomas Kuczynski (*1944).[4]
„Arbeit in unserm heutigen, bürgerlich-kapitalistischen Sinne ist im Grunde eine Sache erst der letzten Jahrhunderte, genauer: seit der Frührenaissance, noch genauer: seit der Reformation, noch genauer: seit dem Calvinismus. Vordem galt die Losung: arbeiten, um zu leben; seither: leben, um zu arbeiten. Allerdings war die Arbeit der antiken Sklaven und der mittelalterlichen Leibeigenen stete Mühsal, aber sie stand nicht im Zentrum menschlichen Denkens, obschon sie das Dasein materiell ausfüllte. Jedoch der Eigentümer der Sklaven und der Herr des Leibeigenen fanden sich trotz aller Herrschaft-Knechtschaft zuletzt verantwortlich für Leib und Leben und so auch für die Arbeit des Menschen.
Das änderte sich radikal mit dem Aufkommen des Frühkapitalismus als Handelskapital, in dessen Mittelpunkt nun nicht mehr der Mensch als solcher steht, sondern das Geld als solches, das sich ständig mehr und mehren muss. Das Christentum, resp. die Kirche stand dieser neuen gesellschaftlichen und anthropologischen Sicht zuerst wehrlos gegenüber – entsprach sie doch nicht dem Evangelium, und erst Thomas von Aquin hat dann ein neues theologisches Ethos als Rechtfertigung geformt.
So war nun die Arbeit einerseits eingerahmt durch das theologisch gefasste Ethos, anderseits durchbrach sie wiederum im Laufe weniger Generationen diesen neuen Rahmen und kam in Konflikt mit der kirchlichen Lehre, ja, mit dem Evangelium. Der gewaltigste Rebell gegen die neue schnell reicher werdende, kapitalistische, profitmachende und geldgierige Arbeit mit der Entwertung und Entfremdung des Menschen war Franziskus von Assisi. Er rebellierte gegen das Geld und die Profitmacherei, er rebellierte gegen die sich in das neue Erwerbsleben integrierende kirchliche Institution, die bereits im 13. Jahrhundert Teil des Kapitalismus geworden, er rebellierte aber vor allem gegen die Einengung des Lebens durch Arbeit, Lohn, Profit und Kapital. Seine demonstrierende Armut war mehrfaches Zeichen gegenüber dem Preis, den die neue bürgerliche Gesellschaft ständig höher zahlte, um dann zuletzt im 20. Jahrhundert dem Geld und Profit im doppelten Sinn zu erliegen: Das Geld verkörpert den neuen Wert und der Wert besteht nun in neuem sich mehrendem Geld. Franziskus ist somit mehr denn je das Vorbild heutiger Rebellion gegen falsche Werte; er ist der Aufruhr gegenüber der tatsächlichen Entchristlichung des Lebens als Vermaterialisierung, er ist der Aufruhr gegenüber dem Leistungsprinzip kapitalistischer Arbeit. Es ist nicht zufällig, dass die Zweite Reformation, vor allem Calvin – sie war eine Reformation des städtischen Bürgertums – dieses neue Arbeitsethos als Leistungsprinzip enorm gefördert hat, ist sie doch Kind des Kapitalismus, dem sie dann, weit mehr als Thomas von Aquin, die eigentliche theologische (und vermeintlich somit christliche) Rechtfertigung als neue Arbeitsethik lieferte. Kein Zufall, dass das Handelskapital mit der Zeit in den protestantischen Ländern sehr stark wurde, dass der Industriekapitalismus im protestantischen England seine Geburt erlebte, dass das Finanzkapital in den protestantischen USA gewaltig zum Zuge kam. Kein Zufall aber auch, dass die Kirche heute wieder eine neue, resp. Die uralte evangelische Sozialethik sucht, dass sie mehr denn je und sogar ökumenisch die gewaltige Rebellengestalt des Franziskus zu würdigen sucht – Franziskus von Assisi, der direkteste Nachfahre des Jesus von Nazareth, dieses wahrlich einmaligen und unnachahmlichen Setzers echten Lebens, abseits von Geld und Profit und Leistungsprinzip, abseits von Preis, Profit und Kapital.“
Papst Franziskus (*1936) hat als Kardinal Jorge Mario Bergoglio SJ nach seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt (13. März 2013) sich als erster Papst den Namen „Franziskus“ gegeben. Tatsächlich stehen in Anlehnung an Franziskus von Assisi die Armen als Ergebnis der Dialektik von Reichtum und Armut und der Frieden von Anfang an im Zentrum des Denkens und Handelns von Papst Franziskus. „Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen – Diese Wirtschaft tötet“ – heißt es im ersten Rundschreiben „Evangelii gaudium“ (24. November 2013). Franziskus von Assisi hat Papst Franziskus zur Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ (24. Mai 2015) angeregt, in der Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft im Zentrum stehen.[5] Seine Enzyklika „Fratelli tutti“ (3. Oktober 2020)[6] beginnt er mit den von Franziskus von Assisi niedergeschriebenen Gedanken an alle Brüder und Schwestern, „um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen“. Und ausdrücklich schließt Papst Franziskus in seiner Botschaft zum V. Welttag der Armen (14. November 2021) mit den namenlosen Frauen „das gesamte weibliche Universum“ mit ein, „das im Laufe der Jahrhunderte keine Stimme hat und Gewalt erleidet“.[7] Was für ein Unfug vom Leitorgan der deutschen Herrschaftsfrauen, diesen Papst als „Sexist man alive (2021) anzusprühen![8] Was für eine den Faschisten nahe Kollaboration der katholischen Organisation „Opus Dei“, diesen nicht dem Reichtum verpflichteten Papst der Armen wo immer möglich als falschen Ideologen zu diskreditieren![9]
Papst Franziskus begnügt sich nicht wie seine beiden Vorgänger mit der spätkapitalistischen Botschaft, es sei von der sehr kleinen reichen Minderheit der Weltbevölkerung nur nötig, am Schicksal der Armen, an den Hungersnöten und Kriegsopfern teilzuhaben, um der Entfremdung des Menschen entgegenzuwirken. Papst Franziskus ist keine Charaktermaske bürgerchristlichen Nächstenliebe, er verpflichtet sich und orientiert mit seinen Rundschreiben und Botschaften in Konsequenz auf den revolutionären Umsturz der auf den bestehenden Eigentumsverhältnissen beruhenden, im Ergebnis zu barbarischen Konsequenzen führenden Sozialstruktur. Das bedeutet nicht die Forderung zu einer Rückkehr zu den Strukturen der früheren sozialistischen Länder, weil eine neue Revolution neue Strukturen im Aufbau des Sozialismus hervorbringen kann und wird, die wir nicht kennen.
Möge Papst Franziskus, der am 17. Dezember seinen 85. Geburtstag feiern kann, noch viele kreative Jahre bleiben, um im Interesse der allseitigen Befreiung der Menschen von Gier, Sklaverei, Hunger, Unterernährung, Krieg und Gewalt zu handeln. „Eine andere Welt ist möglich“ ist aus auf „Transformation“ hoffenden und wartenden Sozialforen zu vernehmen. Der von imperialistischen Kräften ermordete Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría SJ hat angesichts der Realität festgestellt: „Eine andere Welt ist notwendig!“.
[1] Konrad Farner – Kurt Marti: Dialog Christ-Marxist, ein Gespräch. Der Text zum Film „Dialog“ von Richard Dindo. Verlagsgenossenschaft Zürich 1972, 23 S.; über Farner s. Gerhard Oberkofler: Konrad Farner. Vom Denken und Handeln des Schweizer Marxisten. StudienVerlag Innsbruck 2015.
[2] Gefängnishefte Band 6, Argument-Verlag 1994, S. 1383.
[3] Nachlass Konrad Farner. Zentralbibliothek Zürich. Typoskript und gedruckter Text „Offene Kirche“ vom 1. Februar 1973. Frau Monica Seidler-Hux von der Handschriftenabteilung der ZBZ sehr herzlichen Dank!
[4] Thomas Kuczynski: Karl Marx. Lohn, Preis und Profit. Hg. von Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo. Laika Verlag Hamburg 2015.
[5] Vgl. Gerhard Oberkofler: Papst Franziskus als Internationalist des menschlichen Miteinander über die Dialektik von Reich und Arm. In: Marxismus und Theologie. Materialien der Jahrestagung 2018 der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Hg. von Gerhard Banse, Brigitte Kahl & Jan Rehmann. trafo Wissenschaftsverlag Berlin 2019, S. 117–131.
[6] Patmos Verlag 2020. Mit Themenschlüssel. Einführung von Jürgen Erbacher.
[7] Die Papst-Botschaft zum Welttag der Armen im Wortlaut – Vatican News
[8] Emma vom 25. Oktober 2021 (mit Titelfoto).
[9] Z. B. Martin Rhonheimer: Fetisch Sozialstaat – Der heutige Massenwohlstand ist Frucht des Kapitalismus. Fetisch Sozialstaat – Der heutige Massenwohlstand ist Frucht des Kapitalismus – Blog – Austrian Institute (austrian-institute.org)