Eine Analyse des vorläufigen Scheiterns des Sozialismus in Europa mit Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen in der Kommunistischen Bewegung Österreichs. Von Otto Bruckner, stellvertretender Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA).
Bruckner gehörte von 1985 bis 1994 dem Zentralkomitee (ab 1991 Bundesvorstand) der KPÖ an, und war von 1991–1994 Bundessprecher der Partei. Er war Mitbegründer der Kommunistischen Initiative (2005) und der Partei der Arbeit Österreichs (2013).
Die Bolschewiki und die Völker der Sowjetunion haben Interventionsarmeen besiegt, sie haben die Heere der Nazi-Faschisten wieder aus dem Land geworfen und am Berliner Reichstag die Rote Flagge des Vielvölkerstaats gehisst. Sie haben unendlich viel geleistet, um aus einem rückständigen Agrarstaat eine moderne Volkswirtschaft mit leistungsstarken Industrien und einer Landwirtschaft im Besitz des Volkes zu machen.
Nach einer Kaskade an Zerstörungsschritten, die dazu führten, dass der Unionsstaat nur mehr auf dem Papier existierte, wurde am 31.12.1991 die Rote Fahne am Kreml eingeholt und die Sowjetunion hörte auf zu existieren. Den Staat, den die Oktoberrevolution 1917 hervorgebracht hatte, und der vor 100 Jahren gegründet wurde, gab es nicht mehr. Vorher waren bereits die sozialistischen Länder Europas nach und nach durch vom Westen gestützte „Revolutionen“, die mehr Operetten glichen, in kapitalistische Länder verwandelt worden. Das wirtschaftlich stärkste und leistungsfähigste unter den europäischen sozialistischen Ländern, die DDR, war durch den letzten Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, an die BRD verkauft worden. Er ließ sich von den westlichen Führern mit mündlichen „Garantiezusagen“, wie dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen werden, übertölpeln. Sie haben auf die Zusagen gepfiffen, der NATO-Imperialismus hat sich weiter ausgedehnt, und die Folgen dieser unheilvollen Entwicklung mündeten im aktuellen Krieg in der und um die Ukraine.
1991 ging die Ära des Frühsozialismus in Europa und den vormals sozialistischen Sowjetrepubliken am asiatischen Kontinent zu Ende. Die regierenden Kommunistischen oder Sozialistischen Parteien zerfielen in den meisten Fällen oder wurden in sozialdemokratische Formationen verwandelt, so wurde aus der SED, der regierenden Partei in der DDR, die PDS und schließlich die LINKE, wie wir sie heute kennen.
In nicht wenigen Fällen waren es hohe Funktionäre aus den Kommunistischen Parteien, die Wegbereiter der Konterrevolution waren. Auch viele spätere Oligarchen, die durch Diebstahl des Volksvermögens reich wurden, kamen aus den marxistisch-leninistischen Staatsparteien oder deren Jugendorganisationen. Ebenso die Führer neuer konservativer und liberaler politischer Formationen. Der heutige Präsident Ungarns, Viktor Orban, war Funktionär des sozialistischen ungarischen Jugendverbandes KISZ, wurde dann nach dem Umbruch Schüler der reaktionär-liberalen Denkfabriken des ungarisch-stämmigen Multimilliardärs George Soros, ehe er auf die nationale Karte setzte und zum Langzeitpräsidenten Ungarns wurde.
Um diese Vorgänge besser zu verstehen, ist es unerlässlich, sich die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung insbesondere seit den 1950er-Jahren anzusehen.
Es wäre zu vereinfacht, Entwicklungen einfach nur an Personen festzumachen, gute wie schlechte. Trotzdem stehen natürlich Personen für eine gewisse Periode in der Entwicklung einer Partei, eines Staates (wenn die Partei an der Macht ist) und für die damit verbundenen Folgen.
Die „nationalen Wege“ zum Sozialismus
Gehen wir zunächst einmal von Österreich aus. Ich kam 1980 in die KPÖ und das war eine Zeit, in der eine längere Etappe ideologischer Debatten im Jahr 1982 mit der Beschlussfassung des Programms „Sozialismus in Österreichs Farben“ abgeschlossen wurde.
Dass es zu diesem Zeitpunkt schon seit langem keine einheitliche kommunistische Weltbewegung mehr gab, wohl aber einige dominante Zentren, wirft die Frage auf, wo die KPÖ sich damals programmatisch positionierte.
Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die KPÖ versuchte damals einen Spagat. Denn die Betonung des „österreichischen“ unterstreicht zwar die Notwendigkeit, das Eigenständige an der Nation Österreich hervorzustreichen, das zur Zeit der Erarbeitung und Beschlussfassung des Programms, also in den 1970er- und frühen 1980er Jahren noch immer keine Selbstverständlichkeit war, lehnt sich aber zugleich auch an die damals bereits Jahrzehnte währende und wechselvolle Debatte an, dass es kein allgemeingültiges Modell des Sozialismus geben könne, und jedes Volk, jede Partei, den eigenen, auf den Gegebenheiten des jeweiligen Landes und des Standes der Entwicklung seiner Produktivkräfte beruhenden Weg zum Sozialismus finden müsse. So heißt es denn auch im KPÖ-Programm: „Schon trägt der Sozialismus die Farben vieler Nationen. Je reicher die Vielfalt der Formen des Staates und des politischen Systems mit der Ausbreitung des Sozialismus wird, desto deutlicher treten in der Verschiedenheit Gemeinsamkeiten zutage. So wenig es Gesetzmäßigkeiten ‚an sich‘ losgelöst von konkret-historischen, von nationalen Besonderheiten irgendwo gibt, können nationale Besonderheiten unabhängig von Gesetzmäßigkeiten existieren“ [1]
Was die KPÖ hier in ihrem Programm schreibt, ist in seiner Allgemeinheit zwar unbestreitbar richtig, aber trotzdem als Versuch zu werten, sich zwischen allen unterschiedlichen Strömungen zu positionieren.
Die Vorgeschichte der Debatte über die nationalen Wege zum Sozialismus ist von vielen Widersprüchen und auch unterschiedlichen Intentionen der einzelnen Akteure und Parteien geprägt. Sie markiert zugleich einige große Bruchlinien in der Bewegung.
Im Gefolge des XX. Parteitages der KPdSU sprach der letzte zu dieser Zeit noch lebende legendäre Komintern-Führer Palmiro Togliatti vom „italienischen Weg zum Sozialismus“ und auch davon, dass es kein leitendes Zentrum der kommunistischen Weltbewegung mehr geben könne, sondern die „volle Autonomie der einzelnen kommunistischen Bewegungen und Parteien und diejenige der bilateralen Beziehungen zueinander“. [2]
Was Togliatti eigentlich als Reaktion auf die von der KPdSU zu diesem Zeitpunkt ausgehende Konfusion und als Kritik an Cruschtschows primitiver und undialektischer Abrechnung mit dem „Personenkult“ um seinen Vorgänger Josef Stalin verstand, erwies sich in weiterer Folge – ob beabsichtigt oder nicht – als Grundlegung des sogenannten Eurokommunismus, deren Zentrum die PCI als stärkste KP Westeuropas bildete.
Ein anderer wichtiger Akteur dieser Zeit, Jugoslawiens Präsident und Parteiführer Josip Broz Tito, ging da schon wesentlich weiter und erklärte sein Land nicht nur militärisch, sondern auch politisch für blockfrei, quasi zwischen den beiden Systemen Kapitalismus und Sozialismus stehend und unterstützte nach Kräften jene Strömungen und Personen in anderen Parteien, die seinem Beispiel folgen wollten, wie Imre Nagy im Nachbarland Ungarn.
Drei Lager
Mit der zweiten internationalen Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien 1960 in Moskau (die erste fand 1957 statt) wurde der Zerfall der Weltbewegung offenkundig, und es können im Großen und Ganzen drei Lager festgemacht werden:
- Die KP Chinas und die KP Albaniens. Der Generalsekretär des ZK der Partei der Arbeit Albaniens, Enver Hoxha, sprach entgegen den damals und auch später üblichen diplomatischen Floskeln im Umgang der Parteien miteinander ganz unverblümt, und griff Chruschtschow auf der einen und den nicht anwesenden Tito auf der anderen Seite frontal an.
- Die später als eurokommunistisch bezeichnete Linie, gebildet vor allem von den KPs Italiens, Frankreichs und Spaniens.
- Die zentristische Linie, sich scharend um die KPdSU und die Bruderparteien aus den im RGW und Warschauer Vertrag vereinigten sozialistischen Ländern, um die sich auch viele kleinere westliche Parteien wie die KPÖ gruppierten.
(Wiewohl noch zu erwähnen ist, dass 1960 der Frontverlauf noch ein wenig anders war, da es zwischen den oben skizzierten Lagern zum Teil eine gemeinsame Linie gegen den „Revisionismus“ Titos gab – eine Gemeinsamkeit, die aber nicht lange währte).
Wenn heute die Frage gestellt wird, welche Bedeutung der XX. Parteitag der KPdSU für die weitere Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung und im besonderen für die sozialistischen Länder hatte, so ist zu berücksichtigen, dass der auf diesem Parteitag vollzogene Kurswechsel zum Revisionismus eine wesentliche, aber nicht die einzige Ursache für den späteren Sieg der Konterrevolution ist.
Da sind zunächst wirtschaftliche und makroökonomische Fehlentwicklungen, ebenso politisch-konzeptionelle Weichenstellungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern zu berücksichtigen, die ganz einfach in die falsche Richtung gingen, und das über einen längeren Zeitraum.
Die Ära Chruschtschow
Dies gilt erst recht für den Bereich der Politik. So sehr die Ära Chruschtschow als eine für die kommunistische Bewegung schädliche bezeichnet werden kann, ist doch zu berücksichtigen, dass Chrutschtschow nicht vom Himmel fiel, sondern schon lange vor dem XX. Parteitag wichtige, auch verdienstvolle Aufgaben und Funktionen in der KPdSU auszuführen hatte. So ist zum Beispiel wenig bekannt, dass Chruschtschow vom ersten bis zum letzten Tag der Schlacht um Stalingrad als Politkommissar bei den Truppen der Roten Armee diente.
Das mindert natürlich nicht die „Verdienste“ um die politische und ökonomische Fehlentwicklung der Sowjetunion unter seiner Führung. Eine von den Fakten völlig losgelöste Megalomanie, wie zum Beispiel die Fiktion vom wirtschaftlichen „Überholen“ US-Amerikas, oder auch die Verheißung des baldigen Übergangs der Sowjetgesellschaft in das Zeitalter des Kommunismus, waren kennzeichnend für seine Politik. Zwar konnten in seiner Ära Fortschritte in der Industrieproduktion erzielt werden, hier ist aber zu berücksichtigen, dass der Anstieg der Industrieproduktion dem Wiederaufbauplan Stalins zu verdanken war, der bereits vor dem XX. Parteitag wesentliche Fortschritte brachte. Zugleich setzte unter Chruschtschow eine für den weiteren Bestand der Sowjetunion immer gefährlichere Entwicklung ein, nämlich empfindliche Produktionsrückgänge in der Landwirtschaft, was zu Mangel an Lebensmitteln vor allem in den großen Städten führte.[3]
Wer wen?
Fangen wir mit der Beurteilung der Geschichte von hinten an: Die Frage „Wer wen?“ hat der Imperialismus 1989/91 zu seinen Gunsten entschieden. Sein wichtigster Gehilfe im sozialistischen Lager war dabei zweifellos der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow. Aber auch Gorbatschow kam ja nicht vom Mond.
Vor Gorbatschow gab es erst den Nachfolger von Cruschtschow und Langzeitgeneralsekretär Leonid Breschnew, mit dem der Begriff „Stagnation“ verbunden wurde, und der sein Amt bis zu seinem Tod ausübte. Ihm folgte 1982 der vormalige Chef des KGB, Juri Andropow, ein Marxist-Leninist, der entschlossen war, Reformen durchzuführen, die zur Stärkung des Sozialismus beitragen sollten. Er starb nach nur zwei Jahren im Amt und ihm folgte 1984 Konstantin Tschernenko, der nach nur einem Jahr im Amt verstarb. All diese Männer gehörten einer Generation an, die noch vor der Oktoberrevolution 1917 geboren worden war. Dann kam der gut zwanzig Jahre jüngere Michail Gorbatschow, der Begriffe wie Perestroika (Erneuerung) und Glasnost (Transparenz) zu den wichtigsten Schlagworten seiner Politik machte.
Da stellt sich die Frage: Waren das mehr als Worthülsen und was stand am Beginn der Perestroika? Der Grund, warum Gorbatschows Reden von der Erneuerung überall in der kommunistischen Welt auf so fruchtbaren Boden fielen, war ja der, dass jeder wusste: Änderungen sind unumgänglich.
Der steirische KPÖ-Vorsitzende Willi Gaisch schrieb 1988 in einem Aufsatz über die Perestroika: „Die Kunst der politischen Führung besteht darin, (…) Widersprüche rechtzeitig zu erkennen, geeignete Formen ihrer Bewegung beziehungsweise Lösung zu finden und sie in Triebkräfte des gesellschaftlichen Fortschritts umzusetzen“. [4]
Der Grund, warum Gaisch dies damals schrieb, war, dass einige Mitglieder der KPÖ, die zu Beginn der Perestroika zu den letzten Jahresschülern am Institut für Marxismus-Leninismus in Moskau zählten, die ganze Verwirrung, die sich in der sowjetischen Debatte spiegelte, mit nach Hause gebracht hatten. Etwa die, dass es sich beim politischen System der UdSSR vor der Perestroika gar nicht um eine sozialistische Gesellschaft gehandelt habe.
Die Perestroika
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Gorbatschow sich in der ersten Etappe der Perestroika auf Lenin und dessen Neue Ökonomische Politik (NÖP) berufen hat. Ob er dies tat, um die Mehrheit in der KPdSU und im Volk auf seine Seite zu ziehen, oder ob er es aus Überzeugung tat, ist schwer zu beantworten. Ich erinnere hier an die Debatte zwischen Werner Pirker (1947–2014) und Kurt Gossweiler (1917–2017). Pirker, in der Zeit der Perestroika Korrespondent der KPÖ-Tageszeitung „Volksstimme“ in Moskau, war später der Ansicht, dass es nicht der ursprüngliche „Plan“ der Gorbatschowisten war, die Sowjetunion zu zerstören, während der marxistisch-leninistische DDR-Historiker Kurt Gossweiler in seiner Taubenfuß-Chronik[5] davon ausgeht, dass dies sehr wohl der Fall war, und eine Linie des Revisionismus von Chruschtow bis Gorbatschow besteht.
In einem Interview[6], das der ehemalige Stellvertreter Gorbatschows, Jegor Ligatschow im Jahr 2005 der deutschen Zeitschrift Rotfuchs gab, bezeichnet dieser die ersten drei Jahre der Perestroika (1985–1988) als Umbau mit sozialistischem, sowjetischem Charakter. Die Industrieproduktion wuchs in dieser Zeit nach seinen Angaben um 4–5 Prozent pro Jahr, der Sektor des Maschinenbaus sogar um 7–8 Prozent. Was danach kam, bezeichnet er als Erdrutsch: „1991 – im letzten Jahr der Sowjetmacht hat sich die Industrieproduktion um 10 Prozent verringert, die Landwirtschaft fiel um 5 Prozent zurück, der Bau von Schulen um 15 Prozent“, und weiter: „Die Hauptursache bestand darin, daß wir die ökonomischen Gesetze der Entwicklung der Gesellschaft verletzten. Und was war das Resultat? Wenn 1985 die Geldüberschüsse der Bevölkerung rund 20 Milliarden Rubel betrugen, was sich noch ertragen ließ, dann waren es 1989 schon 63 Milliarden, 1990 sogar 81 Milliarden und 1991 schließlich 125 Milliarden – eine kolossale Konzentration an ‚überflüssiger‘ Geldmasse, für die keine Waren zur Verfügung standen. Alles, was es in den Läden gegeben hatte, war hinweggefegt. Die Regale waren leer.“
„In der Person Gorbatschows und der Mehrheit seiner Helfershelfer haben wir es mit typischer politischer Entartung zu tun. Sie haben die Sache verraten, der zu dienen sie berufen waren, und sind letzten Endes auf die Positionen des Antikommunismus, des Antisowjetismus, des Antipatriotismus übergelaufen“, sagte Ligatschow.
Tatsache ist jedenfalls, dass sich im Verlauf der Perestroika große Wandlungen der Positionen vollzogen, und es unübersehbar ist, dass die Frage „Wer wen?“ mit Hilfe und nicht gegen den Widerstand der Führung der KPDSU zugunsten des Imperialismus gelöst wurde.
Zurück ins Jahr 1960
An dieser Stelle jedoch noch einmal zurück ins Jahr 1960:
Spätestens ab diesem Zeitpunkt gab es (obwohl dann in Folge noch weitere internationale Konferenzen stattfanden) nur mehr zwei Arten von Beziehungen kommunistischer Parteien untereinander:
- die notwendigerweise institutionalisierte Form der politischen, staatlichen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit der Kommunistischen und Arbeiterparteien der meisten sozialistischen Länder unter Führung der KPdSU.
- Die weitgehend bilateralen Kontakte der Kommunistischen und Arbeiterparteien untereinander, wobei natürlich die bilateralen Kontakte der meisten KPs mit der KPdSU besondere Bedeutung hatten.
Ein Spezifikum der KPÖ bestand darin, dass sie mit Hilfe der sozialistischen Länder, vor allem der Sowjetunion und der DDR, einen großen Wirtschaftsapparat geschaffen hatte und – gemessen an ihrer Größe – über eine sehr komfortable finanzielle Ausstattung verfügte.
Dieser „Reichtum“, schreibt Bruno Furch in seinem Buch „Das schwache Immunsystem“, „gereichte der Partei nicht nur zum Segen. Er wurde auch zu einer Quelle der Unmoral und der Überhandnahme spekulativer Einstellungen im Leben der Partei“.[7]
Die Gründe der KPÖ-Spaltung Ende der 1960er-Jahre
Seit Jahrzehnten wird von Revisionisten der Mythos verbreitet, die KPÖ habe sich Ende der 1960er Jahre anhand der Frage gespalten, welche Haltung die Partei zur Intervention der Truppen des Warschauer Vertrages in der CSSR eingenommen habe. Das ist eine unzulässige Verkürzung, denn die ideologischen Konfliktlinien betrafen auf ganzer und breiter Front die grundsätzliche Linie der Partei.
Ganz besonders sei hier Ernst Fischer erwähnt, der ja in den Jahrzehnten davor wesentlich die Politik der KPÖ mitgestaltete und mit seiner publizistischen Ausstrahlung weit über die Reihen der KPÖ hinaus wirkte. Noch in der Auseinandersetzung mit der KP Jugoslawiens schrieb Fischer ein Theaterstück mit dem Titel „Der große Verrat“, das nicht nur in Wien gespielt wurde, sondern auch in der Hauptstadt der DDR, Berlin, wo am Premierenabend Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl anwesend waren.
Fischer fungierte Ende der 60er Jahre als Speerspitze des Revisionismus, vom 150-prozentigen Apologeten der KPdSU-Linie hatte er sich zu einem Lakaien der imperialistischen Interessen gewendet. Nicht umsonst stellen sich die heutigen Wendehälse gerne in die Traditionslinie Fischers. Fischer also – immer noch eine sehr bekannte Figur in ganz Europa – setzte ein publizistisches Trommelfeuer gegen die KPdSU, die tschechische KPČ und die KPÖ-Führung in Gang. Er propagierte den Wandel in den sozialistischen Ländern, der ganz offenkundig ein Wandel zum Kapitalismus sein hätte sollen.
Damit zu einem Kernproblem, vor dem alle Kommunisten damals und auch später standen: In jeder Debatte mischt der Gegner mit. Und jede Debatte war gekennzeichnet von Hinweisen auf reale Missstände einerseits und jenen „Rezepten“, die den Sozialismus begraben wollten andererseits. In diesem Spannungsfeld blieb wenig Spielraum.
Wollte man, wie Fischer oder Dubcek oder die Eurokommunisten die Geschäfte des Gegners besorgen, und das für die berühmten fünf Minuten Berühmtheit? Oder wollte man als Kommunist in der weltweiten Front des Kampfes der Systeme auf der richtigen Seite stehen?
Widersprüche und Realitätsverweigerung
Die Fehlhaltungen aufrechter Kommunisten dürfen wir aus heutiger Sicht nicht gehässig beurteilen, sondern müssen dies fair und kommunistisch tun. Hier ein Gedanke von Ernst Wimmer dazu: „Umringt, bestürmt von Gegnern in vielen Farben, kam es dazu, dass auch Probleme, von Feinden aufgerollt, zuweilen selber als „feindlich“ betrachtet wurden. Unter Bedingungen der Isolierung, einer gehässigen Umwelt wurde mitunter schon ein Geltendmachen objektiver Widersprüche, ein gebotener Verweis auf bestimmte unerfreuliche Züge der Realität, auch im Sozialismus als grundsätzlicher Widerspruch, als „Abweichung“ oder gar Verrat missverstanden“.[8]
Viele weitere Themen aber bestimmten den Bruch zwischen marxistisch-leninistischen und den „eurokommunistischen“ Kräften:
Große westeuropäische KPs wie die italienische, die französische und die spanische waren in dieser „eurokommunistischen“ Strömung tonangebend. In Italien entwickelte sich schon seit den späten 40er Jahren die Debatte über einen „eigenständigen“ Weg und dieser wurde unter anderem durch die Festlegung auf einen ausschließlich parlamentarischen Übergang zum Sozialismus beschritten. Auch die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen war nicht mehr ausgeschlossen.
Das Verhältnis zu NATO und EG war ein sehr zahmes – und wenn auch mehrheitlich mit kommunistischer Mitgliedschaft – entwickelten sich diese Parteien zu einer neosozialdemokratischen. Wenngleich ja zu beachten ist, dass in jener Zeit auch die SP programmatisch noch ganz anders formulierte, so enthält das Parteiprogramm der SPÖ von 1958[9], welches auch bei Erringung der absoluten Mehrheit 1971 noch gültig war, das Ziel der klassenlosen Gesellschaft. Freilich hat in der Sozialdemokratie die Diskrepanz wischen Programm und Praxis, zwischen dem heute und der fernen Zukunft eine große Tradition. Inzwischen aber hat man ja auch die Programmatik besser an die elende Praxis des Doktors am Krankenbett des Kapitalismus angepasst.
Das Parteiprogramm der KPÖ von 1982[10], vorhin bereits erwähnt, hatte aber, als Abschluss eines langen Diskussionsprozesses ein wesentliches Kernstück, das Ernst Wimmer in seinem Diskussionsbeitrag auf dem 25. Parteitag (1984) so zusammenfasste: „Mitunter wird gefragt: Was ist eigentlich das vermittelnde Glied zwischen dem Heute und unseren weitgesteckten Zielen, einer antimonopolistischen Demokratie, dem Sozialismus? Es ist, wie das Programm feststellt, der Kampf zur Überwindung der besonderen Herrschaftsform, die seit Jahrzehnten das politische Leben in unserem Land prägt, der „Sozialpartnerschaft“. (…) Ihre Überwindung durch die Arbeiterbewegung ist noch nicht nah, aber erreichbar. Sie würde einen tiefen Einschnitt darstellen, eine Wende.“[11]
Der historische Knotenpunkt 1989/90
In einem Resümee über das Ende der Sowjetunion schreibt Ernst Wimmer, der langjährige Leiter der Abteilung für marxistische Bildungsarbeit und Propaganda beim ZK der KPÖ und spätere Chefredakteur der Zeitschrift „Weg und Ziel“, Ernst Wimmer: „Wäre seit dem Roten Oktober wirklich alles schiefgelaufen, dann wäre zweifellos das Beste eine möglichst frühe Auflösung der Kommunistischen Partei gewesen, wie es ihr nicht wenige Antikommunisten nahelegten, ja sogar mit bemerkenswertem Nachdruck zu erreichen trachteten. Aber welche Folgen hätte das für den Kampf um Frieden, gegen Faschismus, auch gegen Kolonialismus, für soziale und demokratische Errungenschaften gehabt? Sollte man wegen dieser Positiva die Schändlichkeiten vertuschen und verdrängen, die damit verflochten waren? Ein solches Verfahren, einen Teil der Wirklichkeit auszusperren, ist kein Privileg von Dogmatikern. Sie wird auch von jenen praktiziert, die ihre Prinzipienlosigkeit als Antidogmatismus kostümieren.“[12]
Zu diesem Zeitpunkt war die Sowjetunion bereits Geschichte und die mit ihr verbündeten sozialistischen Länder Europas eines nach dem anderen gefallen.
„…als ob ein ideologisches Hiroshima die Fähigkeit großer Teile der internationalen kommunistischen Bewegung zu eigenständigem Denken zerstört hätte“
Einige exemplarische Beispiele nur, welche Auswirkungen, das auf das kommunistische Parteienspektrum Europas hatte:
In Italien löste sich die traditionsreiche kommunistische Partei auf, ein großer Teil von ihr ging in einer neu errichteten sozialdemokratischen Formation auf. Kommunisten rund um den betagten Senator Cosutta gründeten die Partei der Kommunistischen Neu- oder Wiedergründung – Rifondazione Comunista.
Als am stärksten wahrzunehmende politische Kraft bildete sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die SED (später SED-PDS, dann PDS, dann Linke) heraus, in der es anfänglich noch einen starken kommunistischen Flügel gab, der aber durch die Medienlieblinge der Partei, wie z.B. Gregor Gysi, rasch isoliert wurde, und heute nur mehr die Funktion eines Feigenblattes erfüllt.
Kleine KPs in Westeuropa waren voll von der Krise erfasst, innerhalb vieler Parteien setzte eine Welle ufer- und haltloser ideologischer Debatten ein.
In den meisten ehemals sozialistischen Ländern kamen die neuen Machteliten direkt aus den vorherigen Staatsparteien. Es bildeten sich jedoch nach und nach fast überall – z.T. mehrere, ideologisch unterschiedliche – neue Kommunistische und Arbeiterparteien heraus.
Mit voller Wucht getroffen wurden jene Parteien und Länder, die nicht kapitulationswillig waren, aber in enger politischer und wirtschaftlicher Verknüpfung mit der Sowjetunion und dem RGW gestanden hatten. Dies trifft vor allem auf Kuba zu, das fast sämtliche Koordinaten seiner Wirtschaftspolitik neu ordnen musste.
Wichtige Parteien des afrikanischen Kontinents, wie die Südafrikanische KP waren zu diesem Zeitpunkt voll im Sog des Gorbatschowismus, jedoch nicht unkritisch. Noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb Joe Slovo, der Generalsekretär der SACP, viele (sowjetische) Journalisten „scheinen vom technokratischen Fortschritt hypnotisiert; der falsche Glanz des westlichen Konsumismus und die Qualität der Yuppie-Produkte scheinen die Lebensqualität der Gesellschaft als ganzes zu überschatten“, und er resümiert: „Der beispiellosen Offensive der Ideologen des Kapitalismus wurde mit einer einseitigen ideologischen Abrüstung begegnet“.[13]
Oder um es mit Domenico Losurdo zu formulieren: „Es ist, als ob ein ideologisches Hiroshima die Fähigkeit großer Teile der internationalen kommunistischen Bewegung zu eigenständigem Denken zerstört hätte“.[14]
Teil 2 folgt.
[1] „Sozialismus in Österreichs Farben“, Hrsg.: KPÖ, Wien 1982, S. 49
[2] Aus der Rede Togliattis vor dem ZK der PCI, 24. Juni 1956, zit. nach Frithjof Schmidt: „Die Metamorphosen der Revolution, Campus Forschung, Frankfurt/New York 1988
[3] Wirtschaftssektoren: Entwicklung in der UdSSR bis 1985 | Statista (Internet-Quelle, abgerufen am 06.02.2022)
[4] Weg und Ziel 12/88, S. 501
[5] Kurt Gossweiler, die Taubenfuß-Chronik, 2‑bändig, München 2002
[6] Rotfuchs Juni 2005
[7] Bruno Furch, Das schwache Immunsystem, Wien 1995, S. 81
[8] Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, Globus Verlag, Wien, 1989, S. 454
[9] Epoche: 1955 – 1970 (rotbewegt.at) abgerufen am 16.02.2022
[10] Einschätzung des Parteiprogramms im Dokument „90 Jahre kommunistische Bewegung in Österreich“ (90 Jahre kommunistische Bewegung in Österreich | offen-siv (kommunistische-geschichte.de) abgerufen am 12.12. 2021
[11] Der 25. Parteitag der Kommunistischen Partei Österreichs, Hrsg. v. d. KPÖ, 1984
[12] Weg und Ziel, 10/91, S. 430
[13] The african communist, zit. nach Weg und Ziel 2/91, S. 112
[14] Domenico Losurdo: Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass., Mehrteiliger Aufsatz in der Jungen Welt, Berlin; 15.–23. März 2000