Der neue Präsident Kolumbiens befeuert jenseits wie diesseits des Atlantiks wieder einmal alle möglichen linken und reformistischen Illusionen. Wo es revolutionären Klassenkampf bräuchte, wird man sozialdemokratische Kapitalismusstabilisierung erhalten. – Ein Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)
Am vergangenen Sonntag gewann Gustavo Petro die Stichwahl um das Präsidentenamt in Kolumbien. Der 50-Millionen-Einwohner-Staat im Nordwesten Südamerikas habe damit erstmals einen linken Präsidenten, heißt es, ja sogar von einer historischen Wende ist die Rede. Was in aller Form richtig ist, ist die Tatsache, dass alle bisherigen Amtsinhaber und Machthaber in Bogotá dem konservativen und rechten politischen Spektrum zuzuordnen waren. Insofern ist es tatsächlich ein Novum, wenn an der Staatspitze nun ein Sozialdemokrat steht – mehr ist Petro allerdings nicht.
In den Medien gerne als „Ex-Guerillero“ beschrieben, ist Petros frühere Mitgliedschaft in der nicht allzu linken Aktionismusgruppierung M‑19 eher eine unspektakuläre Jugendsünde, die Jahrzehnte zurückliegt – mehr als unerlaubter Waffenbesitz lag gegen ihn nie vor. Geprägt hat ihn das bestenfalls insofern, als dass er jegliches Revoluzzertum bewusst überwunden hat. Er hat an einer kolumbianischen Privatuniversität sowie an europäischen Hochschulen (kapitalistische) Wirtschaftswissenschaften und öffentliche Verwaltung studiert und auch sonst den Anschluss an die bürgerlichen Institutionen geschafft. Bereits 1991 wurde er Abgeordneter zum Repräsentantenhaus, 2005 Senator für die sozialdemokratische Partei „Polo Democrático Alternativo“, ein SI-Mitglied, somit Schwesterpartei z.B. der SPÖ oder SPD. Nach einer 2010 in der ersten Runde gescheiterten Präsidentschaftskandidatur gründete er 2011 die „Progressive Bewegung“, um als Bürgermeister von Bogotá zu kandidieren – und tatsächlich amtierte er von 2012 bis 2015 im Rathaus der kolumbianischen Hauptstadt, wenngleich nicht ganz friktionsfrei mit dem präsidentiellen Ex-Konkurrenten Santos. 2018 schaffte es Petro in die Stichwahl um das Präsidentenamt, unterlag jedoch gegen Duque und blieb im Kongress als Senator. Nun, 2022, hat er die Präsidentschaftswahl gewonnen.
Kurz gesagt sieht man: Der 62-jährige Petro ist kein Außenseiter aus der Mitte des Volkes oder dessen tribunenhafter Vorkämpfer, sondern ein Kandidat des politischen Establishments, dem er seit langem angehört. Seine Funktion besteht darin, die soziale Stütze des Systems zu sein, tatsächliche Alternativen zu kanalisieren und revolutionäre Bestrebungen zu unterbinden. Dies tut er auch mit seinem Wahlbündnis „Historischer Pakt“, in dem seine eigene sozialdemokratische Formation „Humanes Kolumbien“ den Ton angibt und die weiter links stehenden Mitgliedsorganisationen – darunter die Kolumbianischen Kommunistische Partei oder die FARC-Zivilstruktur „Comunes“ – auf einen linksreformistischen Kurs eingeschworen werden. Die soziale, „linke“, „antiimperialistische“ und ökologische Kapitalismusverwaltung, die Petro versprochen hat, ist eine Chimäre mit engen Grenzen. Gewiss wird es punktuelle Bemühungen geben, die schlimmste Armut zu mindern und lindern – und das ist per se gut so. Doch hat sich Petro bereits von allem explizit distanziert, was irgendwie revolutionär oder sozialistisch ist oder wenigstens mit Verstaatlichung und Enteignung zu tun hätte. Die Oligarchie, das Kapital, die ausländischen Monopole werden nicht angetastet. Und so werden nur die nötigsten Almosen bleiben, um einen Volksaufstand und eine Revolte der eigenen getäuschten Wählerschaft zu verhindern. Die alte wie die neue Sozialdemokratie – und gibt sie sich noch so „links“ – ist und bleibt eine strategische Reserve der Herrschenden zur Stabilisierung der kapitalistischen und imperialistischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse.
Grenzen gibt es übrigens auch im Konkreten: Kolumbien hat zwar ein ausgeprägtes Präsidialsystem, das Petros Exekutive nützt, aber seine legislativen Möglichkeiten natürlich trotzdem limitiert. Der „Historische Pakt“ hat bei den Wahlen im März dieses Jahres zwar eine relative Stimmenmehrheit (16 bzw. 14 Prozent) erreicht, aber mit dieser ist nicht allzu viel anzufangen – man stellt nur 27 von 168 Abgeordneten im Unterhaus und 16 von 106 Senatoren. Für relevante Gesetzesvorhaben braucht es daher kompliziert zu erreichende Mehrheiten und „Kompromisse“ mit der rechten Opposition, somit indirekt mit der einheimischen Oligarchie und dem US-Imperialismus. Eine klassenkämpferische Mobilisierung der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, der Indigenen und der armen Volksschichten hingegen, die die tatsächlich Herrschenden auf außerparlamentarische Weise zu Zugeständnissen zwingen könnte, ist eben genau das, was Petro eigentlich unterbinden soll.
Da also ohnedies nicht davon auszugehen ist, dass Petro zu übertriebenen Ambitionen neigt, wird ihm das Schicksal von Allende, Árbenz, Chávez oder auch nur Morales wohl erspart bleiben. Er wird sich einordnen in jene lateinamerikanischen „Linkspolitiker“, die ihre Schuldigkeit in der Kapitalismusverwaltung tun, dies mit ein paar rhetorischen und aktionistischen Schmähs garnieren – und keine Spuren hinterlassen. Die Liste ist lang, reicht von Correa und Lula über Mujica und Kirchner bis zu López Obrador, Castillo, Castro-Zelaya oder Boric. Gemessen an Versprechen und Notwendigkeiten ist das „Scheitern“ dieser Leute nicht nur vorprogrammiert, sondern in Wirklichkeit sogar Programm. Es gibt keinen gerechten, menschlichen und sozialen Kapitalismus und keine „linke“ Regierung im bürgerlichen Rahmen, die etwas daran ändert. Es werden nur neue Frontalangriffe des Kapitals vorbereitet.
Auch das kolumbianische Volk wird die bittere Erfahrung machen müssen, dass die Heilsversprechungen des angeblichen Messias Gustavo Petro Illusionen und Lügen sind. Der vermeintliche neue Star der „Linken“, der auch in Europa im linksliberalen und linkssozialdemokratischen Milieu gefeiert wird, wird als Sternschnuppe verglühen. Dabei sollte man so etwas gerade auch diesseits des Atlantiks gut genug kennen: Oder haben die Herren Bertinotti, Gysi, Tsipras, Iglesias oder Mélenchon irgendetwas erreicht oder gemacht, was gegen den Kapitalismus gerichtet gewesen wäre und den revolutionären Klassenkampf forciert hätte? Natürlich nicht, denn das ist nun mal nicht ihre Funktion.