Am 5. März 2022 jährte sich der Geburtstag von Pier Paolo Pasolini (1922–1975) zum 100. Mal. Der italienische Künstler hinterließ v.a. als Filmschaffender tiefe Spuren, aber auch ein lyrisches und publizistisches Werk. Als erklärter Kommunist bediente sich Pasolini oft provokanter neorealistischer Ansätze und Darstellungsformen, die seinen Klassenstandpunkt verdeutlichten. Die antibürgerliche, antikapitalistische und antifaschistische Ausrichtung Pasolinis, das Eintreten für die Entrechteten und Diskriminierten war auch persönlichen Erfahrungen geschuldet, die er künstlerisch verarbeitete und zu umfassender Gesellschafts- und Sozialkritik ausformte. Wenig verwunderlich, dass Pasolini bei den Mächtigen und Herrschenden aneckte – und in diesem Kontext ist auch seine bis heute nicht wirklich geklärte Ermordung am 2. November 1975 zu sehen. – Wir bringen zum 100. Geburtstag einen Auszug aus Pasolinis Filmessay „La Rabbia“ („Der Zorn“) aus dem Jahr 1963:
Freiheit
Über meine dreckigen Lumpen
über meine ausgezehrte Nacktheit
über meine Mutter, die Zigeunerin,
über meinen Vater, den Schafhirten,
schreibe ich deinen Namen -
Über meinen ersten Bruder, den Räuber,
über meinen zweiten Bruder, den Krüppel,
über meinen dritten Bruder, den Schuhputzer,
über meinen vierten Bruder, den Bettler,
schreibe ich deinen Namen -
Über meine verbrecherischen Gefährten
über meine arbeitslosen Gefährten
über meine als Handlanger ausgenutzten Gefährten
schreibe ich deinen Namen -
Freiheit
Über die Nomaden der Wüste
über die Tagelöhner von Medina
über die Lohnarbeiter von Oran
über die kleinen Angestellten von Algier
schreibe ich deinen Namen -
Über die im Elend lebenden Menschen Algeriens
über die analphabetischen Völker Arabiens
über alle armen Klassen Afrikas
über alle versklavten Völker der Dritten Welt
schreibe ich deinen Namen -
Freiheit