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Welche Funktion haben „Minutenmenschen“?

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Eva Priester, österreichische Kommunistin aus Petersburg und bedeutende Poetin und Historikerin, beschreibt aus Anlass der Ereignisse in Ungarn 1956 die Rolle von „Minutenmenschen“

I. Einige internationale Facetten der ungarischen Ereignisse

Historische Fakten drücken Wirklichkeiten aus, aber ob sie den von der herrschenden Klasse des Reichtums unterdrückten Völkern Erfahrungen im Kampf um ihre Befreiung vermitteln, hängt davon ab, wie von wem und für wen diese vermittelt werden.[1] Die Geschichte selbst „tut nichts, >sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum<, sie <kämpft keine Kämpfe<!“, haben Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) in ihrer ersten gemeinsamen Arbeit „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ festgehalten.[2]

Im Februar 1956 wurden auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) der mit dem Namen von Josef Stalin (1878–1953) verbundene historische Prozess der Sowjetunion hinterfragt. Die Rede von Nikita S. Chruschtschow (1894–1971) war dafür unmittelbarer Anstoß.[3] Trotz unbestreitbarer terroristischer, aus der Verletzbarkeit des Sowjetsystems resultierenden Erscheinungen bleiben „Stalins unermessliche Verdienste als oberster Befehlshaber“ unbestreitbar, wie das Marschall Georgi K. Schukow (1896–1974) nach dem Tod von Stalin festhielt.[4] In der Diskussion der Gegenwart über den Klimawandel kann mit dem Schweizer Marxisten Konrad Farner (1903–1974) auch daran erinnert werden, dass nach Stalins Idee und nach seinen Besprechungen mit dem russischen Ingenieur Mitrofan M. Dawydow (1911–1990) ein riesiger Waldgürtel zwischen Steppe und Ackerland, Schutzwälder und Aufforstungen von Sandböden gebaut wurden und Wasser aus den frostigen Tundren nach dem glühenden Usbekistan geleitet wurde.[5] Das entsprach dem umfassend ökologischen Denken von Karl Marx (1818–1883), der feststellte: „Außerhalb der großen Gesetze der Natur sind die Pläne der Menschen nur aussichtslose Unternehmungen […]“.[6] 

Mit dem 1946/47 eröffneten kalten Krieg wollte der US-Imperialismus das Gesetz des Handelns an sich reißen. Die 1949 erfolgte Gründung des Nordatlantik Paktes (NATO) war ein aggressives Militärbündnis (USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Italien, Beneluxstaaten, Dänemark, Norwegen, Island und Portugal) und wurde 1952 mit Griechenland und der Türkei erweitert. 1955 folgte die Bundesrepublik Deutschland, die 1956 mit der Auflösung und Enteignung der Kommunistischen Partei Deutschlands direkt an die mörderische Verfolgung von Kommunisten durch den Nationalsozialismus anknüpfte. „Kein Deutscher wünsche Wiederbewaffnung, aber der Russe zwinge Amerika dazu, […] er sei im Kaukasus gewesen, er kenne den Iwan, der nur durch Waffen zu belehren sei. Er kenne den Iwan! Das sagte er mehrmals. Nur durch Waffen zu belehren! Sagte er, denn alles andere mache ihm keinen Eindruck, dem Iwan – […] Unterscheidung nach Herrenmenschen und Untermenschen, wie’s der gute Hitler meinte, sei natürlich Unsinn; aber Asiaten bleiben Asiaten“ – so lässt Max Frisch (1911–1991) einen Deutschen im Alter von anfangs Dreißig zu Faber um 1955/1956 sprechen.[7] Die Bundesrepublik, der der Gedanke an Frieden völlig fremd war, unterschied sich in der Verfolgung der Kommunisten nicht von den USA oder von Südafrika, wo das Apartheidregime die Anhänger der Charta „Das Volk soll herrschen“ wie Nelson Mandela (1918–2013) inhaftierten. Hauptkriegstreiber war Harry S. Truman (1884–1972), der die 1947 bekannt gewordene Doktrin zur Schaffung von militärischen Aufmarschplätzen in Griechenland und der Türkei gegen die sozialistischen Länder erklärt hat. Mit der 1953 angetretenen Regierung Dwight D. Eisenhower (1897–1969) mit seinem bibelfesten Außenminister John Forster Dulles (1888–1959) wurde der Aufmarsch gegen die Sowjetunion und gegen die vom Kommunismus inspirierten Befreiungsbewegungen als roll-back Strategie forciert. 

Ungarn war als Ungarische Volksrepublik am 14. Mai 1955 dem in Übereinstimmung mit den Satzungen der Vereinten Nationen dem Warschauer Vertrag (Albanien, Bulgarien, Deutsche Demokratische Republik, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und UdSSR) beigetreten. Um des Friedens willen sollten die Grenzen der sozialistischen Länder geschützt werden. In der ungarischen Volksrepublik konstituierten sich nach Kriegsende die Agenten der imperialistischen Kräfte mit den ehemaligen, im Land verbliebenen Pfeilkreuzler zu einem sozialen Körper, der im Herbst 1956 die Option der offenen Konterrevolution ergreifen konnte. Die vielen zutage getretenen Probleme der ungarischen Ökonomie beim Aufbau des Sozialismus bedingten die Dynamik dieses Prozesses. 

Die ideologisch psychologische Begleitung durch den Propagandawall von „Radio Free Europe“, das 1949 in New York gegründet und 1951 in München seine Radiosendungen begonnen hat, darf nicht unterschätzt werden. Die 1945 in die US-Besatzungszonen geflohenen ungarischen Faschisten organisierten sich als „christliche Europäer“. Ihr mörderische Brutalität hatte sich in dem vom ungarischen Faschistenführer Miklós Horthy (1868–1957) angeordneten bestialischen niedermetzeln der insbesondere jüdischen Anhänger der Räterepublik im Spätsommer 1919 offenbart. Horthy hat im faschistischen NATO-Land Portugal 1945 Aufnahme gefunden, sein Leichnam wurde 1993 in allen Ehren nach Ungarn überführt und dort in einem Mausoleum bestattet.[8] In der von den Inseraten und Geldgebern abhängigen Manipulationspresse des Westens, die das Sagen hatten, wurde die völkerrechtswidrigen Aggressionskrieg von Israel und den NATO-Ländern Frankreich und Großbritannien gegen Ägypten im Interesse des US-Imperialismus „erklärt“. Am 5. November 1956 landeten britische und französische Truppen nach mehrtägiger Bombardierung in Port Said. Israelische Massaker gegen Palästinenser hatten am 5. April 1956 (Gaza City), am 3. November 1956 (Khan Yunis) und am 12. November 1956 (Rafah) stattgefunden. Der österreichische Marxist Ernst Wimmer (1924–1991) hat den internationalen Kontext der Ungarnereignisse im Unterschied zu den gut bezahlten Promihistorikern der Vergangenheit und Gegenwart zu Jahresanfang 1957 in der „Volksstimme“ analysiert.[9]

Am 23. Oktober 1956 kam es in Ungarn zum Putsch, dem der Austritt aus dem Warschauer Vertrag unter dem eher orientierungslosen Imre Nagy (1896–1958) vorausgegangen ist. Die Konterrevolution wurde von den volksdemokratischen Kräften mit Unterstützung vor allem sowjetischer Truppen niedergeschlagen. Am 4. November 1956 bildete sich in Budapest mit Janos Kádár (1912–1989) eine Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, die an den nationalen Konsens appellierte und das zerrüttete Land stabilisierte. Für den von den deutschen Faschisten jahrelang verfolgten und nach 1945 in der DDR lebenden evangelischen Theologen Emil Fuchs (1874–1971) waren die Ungarnereignisse Anlass, seinen durch die durchgängige antikommunistische Hetze verunsicherten Schweizer Freunden von der religiösen sozialistischen Bewegung eine christliche Einschätzung zu geben (21. Dezember 1956):[10]

„Form teilt mit uns die Überzeugung, daß Gewalt des Menschen unwürdig ist, glaubt aber gleichzeitig, daß dieser Glaube erst verwirklicht werden könne, wenn die Umwandlung der Gesellschaftsordnung erreicht ist, die den von dort ausgehendem Zwang zu Gewaltübung unnötig macht.

So ist die kommunistische Welt auf dem Wege der Gewalt geboren und hat dies Schicksal weiter zu tragen auch da, wo sie nun daran arbeitet, es zu überwinden. Aber sie läßt keinen Zweifel darüber, daß sie gewillt ist, ihr Dasein mit jedem Mittel der Gewalt zu verteidigen.

[…] Für uns hängt das, was in Ungarn geschah mit dem tiefgehenden Ringen zusammen, das seit dem 20. Parteitag auch bei uns alle verantwortungsbewußten Menschen bewegt, das vor allem unsere marxistischen Freunde in schwerste innern Kämpfe und Auseinandersetzungen führte und darin festhält und das eine so gewaltige Sache ist, eine so große Verheißung in sich trägt. Ist es nicht eine Bewegung der Buße wie man sie in einer politischen Machtbewegung kaum je in der Welt erlebt hat? Wenn man das als eine Sache der Schwäche nimmt, so gehört man zu denen, die wahrhafte Kraft nicht begreifen können.

Es ist umso mehr ein Zeichen der Kraft, wenn man wagt, solches zu leisten, umringt von einer feindseligen Welt, in der selbst Linkssocialisten, wie weiterhin sogar >New Statesman and Nation< dies als ein politisches Mittel ausnutzen, um an den Darlegungen der Kommunisten zu beweisen wie gut sie selbst sind. (Sie sollten einmal ihre [Ernest] Bevin [(1881–1951) – Politik und deren Folgen so überprüfen und ihre Mitschuld an allem was England heute tut).

Mitten in einer solchen Welt einen neuen Weg zu suchen, ist schwer. Es kommt dazu, daß ja die Fehler, die korrigiert werden müssen, sehr viel Unheil über Menschen brachten, die nun aufbegehren und Recht fordern oder Strafe. Es ist gar keine Frage, daß auch in der DDR solche Fehler und Rücksichtslosigkeiten begangen wurden. Wir müssen allerdings auch sagen, daß zu unserm Glück unsere Regierung schon seit einigen Jahren daran arbeitet, neue Wege zu gehen und Menschen zu erziehen, die das leisten können, was da erfordert ist. – Es liegt ja immer auch daran, daß man unter den Ausführenden die rechten Menschen hat und die sind nicht so zahlreich, wenn es gilt eine neue Gestaltung zu bauen und nicht einfach alte Gewohnheiten weiterzutragen. So erleben wir es mit Hoffnung und Zuversicht, daß bei uns die Auseinandersetzung zu einer sehr energischen Diskussion auf allen Gebieten geworden ist, die uns weiterhilft und auch der Regierung vertrauend weiterhilft.

Polen war schlimmer daran, Ungarn noch schlimmer. [Władysław] Gomulka [(1905–1982)] ist nun zu einem der ganz führenden Staatsmänner geworden, auf den wir alle große Hoffnungen setzen können, denke ich. Gerade hier werden die neuen Gestaltungen und Möglichkeiten am Deutlichsten sichtbar.

Die ungarische Regierung scheint niemand gehabt zu haben, der die Sache begriff. So kam es zu dieser furchtbaren Lage. Niemand hier bestreitet die ganz wesentliche Schuld der [Mátyás] Rákosi [(1892–1971) – Regierung. Aber wir sehen auch deutlich, wie wenig man in unserer Lage an der Grenze zweier sich gegenüberstehender Machtsysteme den Weg der Gewalt beschreiten kann. Wir versuchen leider Notwendigkeiten auch nach ihrer inneren Struktur u. Geistigkeit zu verstehen u. von da unsere Entscheidung zu finden, um für echte Versöhnung arbeiten zu können.

Denn: Niemand hier, der verantwortungsbewußt denkt und die Dinge wahrhaft verfolgt, kann daran zweifeln, daß sofort jene Gruppen des Westens, die den Krieg wollen, hier eingriffen, das sind [Konrad] Adenauer [(1876–1967)] mit seinen drüben Herr gewordenen Nazis und die leitenden Leute der CIC und Secret Service, die eben stärker sind als ihre Regierung oder wenigstens in der Gewißtheit leben, daß ihre Regierung ihnen nichts tut. Warum zweifelt hier niemand an diesem Eingreifen und Mitwirken? Weil wir dies Hereinwirken dieser finstern Mächte und die ganze Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit ihrer Mittel selbst erleben. Das ist es ja gerade, was unsere Lage hier so innerlich schwer macht, daß durch Sabotage und Spionage und ein geschicktes Operieren der Agenten Leute hineingerissen werden, die an so etwas gar nicht denken, nur nicht aufmerksam genug leben, um gesichert zu sein. Das geht bis in unsere kirchlichen Werke und Arbeiten hinein. Wenn dann Agenten verhaftet werden, ist es für die Westagitation wieder eine Möglichkeit gegen die DDR zu hetzen und Vorurteile zu wecken.

Dazu kommt, daß ja die Westpresse selbst bis zur amerikanischen hin deutlich Meldungen brachte, die beweisen, daß die Demonstrationen umschlugen in fascistischen Aufruhr mit den entsprechenden Greuelscenen, wie sie diese fascistischen Kämpfe immer begleiten.

Das veranlasste Sowjet-Russland zum Eingreifen. Ich kann nicht beurteilen, wie weit es das Einzig-Mögliche war. Aber ich kann verstehen, daß ein [János] Kadar [(1912–1989) und eine russische Regierung glaubten, daß es das sei. Gern, froh haben sie es sicher nicht getan, denn sie wären keine Staatsmänner, wenn sie nicht gewußt hätten, wie schwer die Folgen dieses Schrittes sein würden. Umgekehrt wären die treibenden Leute im Westen keine Politiker, wenn sie nicht gewußt hätten, daß man so Russland zum Eingreifen zwingen würde – und das wollte man – dafür opferte man Tausende – wie man ja auch bei uns Menschenglück opfert, damit man nur das Agitationsmaterial gegen uns hat. – Und dies Material wird so ausgenutzt, daß nun auch die Menschen, die den Frieden wollen, das Gleichgeweicht des Urteils völlig verlieren. […].“

II. Eva Priester als Augenzeugin vom 23. Oktober bis Dezember 1956 in Ungarn. Ihr Eindruck von „Minutenmenschen“ 

Eva Priester (1910–1982) ist in Petersburg geboren, wo ihre jüdische Familie Feinstein zur dort ansässigen Bourgeoisie gehörte. 1917 übersiedelte die Familie Feinstein nach Berlin. Von dort musste die 23jährige Eva Priester als von den deutschen Faschisten rassistisch und politisch bedrohte Journalistin und Poetin 1933 nach Prag fliehen, von wo sie 1939 wieder flüchten musste und in London Asyl fand. Das Schicksal ihrer Eltern Salamon Feinstein und Luba Feinstein geb. Wolpe, ist unbekannt, als ihr letzter Wohnort wird Paris angegeben, wo Luba Wolpe als einer der ersten Frauen an der Sorbonne inskribiert war. 1946 ist Eva Priester mit Genossinnen und Genossen der kommunistischen Emigration nach Wien gekommen, um dort am Aufbau des zerstörten Österreichs teilzuhaben. In Wien redigierte sie zuerst die Wochenzeitung „Die Woche“, ab 1949 wirkte sie als Redakteurin der „Volksstimme“.[11] Zwischen dem 23. Oktober und Mitte Dezember 1956 war Eva Priester, damals in der Taubstummengasse 13 in Wien IV gemeldet, unmittelbar vor Ort in Ungarn. Für die reaktionären Kräfte in Österreich war jede Gemeinheit recht, um die Konterrevolution in Ungarn zu stärken. Die verheerende Rolle der Katholischen Kirche wird nur gelegentlich angesprochen. Papst Pius XII. (1876–1958) hat am 28. Oktober 1956 mit seiner Enzyklika „Luctuissimi eventus“ den Ausbruch der Konterrevolution begrüßt und seinen als Primas eingesetzten Statthalter Kardinal József Mindszenty (1892–1975) am 1. November eigens mit dem Aufruf, die ungarischen Katholiken mögen sich um ihn scharen, beglückwünscht. Nach der Niederlage der Konterrevolution hat Pius XII., der Schriftsteller wie André Gide (1869–1951) oder Jean-Paul Sartre (1905–1980) auf den Index setzen ließ, in seiner Enzyklika „Datis nuperrime“ vom 5. November 1956 die Sowjetunion scharf angegriffen. Der Vatikankenner Eduard Winter (1896–1982) ist in seinem Buch „Die Sowjetunion und der Vatikan“ darauf zu sprechen gekommen.[12] Dem mit 10. Mai 1956 ernannten Wiener Erzbischof Franz König (1905–2004) war von Anfang bewusst, dass die mit Ablehnung von allem Progressivem verbundene Kirchenpolitik des Vatikans mit Christentum nichts zu tun hat und hielt sich zurück.[13] Seine Zeit sollte mit Johannes XXIII. (1881–1963) und dem Vatikanischen Konzil (1962–1965) kommen. 

Eva Priester hat viele Facetten des unmittelbaren Kampfes zwischen den reaktionär bürgerlichen und sozialistischen Kräften in Ungarn gesehen. Sie ist voll Anteilnahme für die Opfer, ganz im Gegensatz zur Legende der österreichischen Journalistik Gerd Bacher (1925–2015), der im „Bild-Telegraf“ mit den Augen eines Henkers von der Jagd faschistischer Mörder auf Mitglieder der ungarischen Staatspolizei schreibt. Eva Priester empörte sich über die Rolle vieler ungarischer Intellektueller. Diese hatten schon in den vergangenen Jahren den Aufbau des Sozialismus in Ungarn sabotiert. Jetzt war ihnen an der Kriminalisierung des im Juli 1956 abgesetzten Parteivorsitzenden der ungarischen Kommunistischen Partei Mátyás Rákosi (1892–1971) gelegen, zumal dieser wie Béla Kun (1886–1938) jüdischer Bolschewik war. Europaweit engagierten sich Intellektuelle, um gegen die sozialistischen Kräfte in Ungarn Stellung zu beziehen. Der 51jährige Jean-Paul Sartre glaubte mit seiner inneren Erfahrung des zeitlichen Milieus aus dem Pariser Kaffeehaus heraus differenziert zu urteilen, wenn er die Ereignisse vom Oktober 1956 als Folge von „zwölf Jahren Terror und Dummheit“ sieht.[14] Die Ausführungen des wohl größten Marxisten des vorigen Jahrhunderts Bertolt Brecht (1898–1956) über die „Tui“ („Tellek-Uell-In“ = Intellektuell)[15] hat Eva Priester zu dieser Zeit noch nicht gekannt. Wahrscheinlich hätte sie die Essays von Noam Chomsky (*1928) über die immer wieder zu Tage tretende Unverantwortlichkeit von Intellektuellen auch gerne gelesen. „Die Intellektuellen haben“, so Chomsky „die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken. Dies zumindest möchte man für einen Gemeinplatz halten, der keines Kommentars bedarf. Doch nichts da; für den modernen Intellektuellen ist das keineswegs ausgemacht“. [16] Was die ungarische Erhebung anlangt, war Chomsky der Meinung, sie hätte vermieden werden können, wenn die USA die Vorschläge der Sowjetunion für eine Neutralisierung Zentraleuropas in Erwägung gezogen hätte.[17]

Eva Priester entlarvt die Heuchelkulissen des „Petöfi-Klubs“, der sich als Intellektuellenzirkel nach dem im revolutionärem Kampf gegen die habsburgische Räuberdynastie in der Schlacht von Segesvár (Schässburg) gefallenen, jungen ungarisch republikanischen Schriftsteller Sándor (Alexander) Petöfi (1822–1849) benannt hat.[18] Georg Lukács (1885–1971) hat Mitglieder dieses Kreises persönlich gut gekannt.[19] Brecht bemerkt im „Kongreß der Weißwäscher“,[20] wie in solchen, von der konkreten Wirklichkeit abgehobenen, auf ihre Verwendbarkeit da und dort hinschielenden Intellektuellenkreisen „Meinungen gewendet“ werden. Die aus der konkreten Geschichte sich ergebende Kritik an solchen Intellektuellen spiegelt sich in dem von ungarischen Arbeitern aufgenommenen und von Eva Priester am „Petöfi-Klub“ verdeutlichten Begriff „Minutenmenschen“ wider.

Der Ausdruck „Minutenmenschen” (percemberkék) ist durch ein berühmtes Gedicht „A perc-emberkék után” („Nach den Minutenmenschen“) des heftig angegriffenen und als unpatriotisch geltenden Endre Ady (1877–1919)[21] bekannt geworden. Der Begriff selbst kommt ziemlich oft in den politischen Diskussionen der ungarischen Medien vor und bedeutet eine gewicht- und substanzlose Übergangsfigur, die für kurze Zeit einflussreich ist, aber dann schnell auf den Müllhaufen der Geschichte gerät und vergessen wird.[22] Eva Priester schreibt über den Petöfi-Klub:

„Die letzte Plage, die in diesen Tagen und noch lange danach den Kampf gegen die Verwirrung erschwerte, jede Normalisierung unmöglich machte, waren die sogenannten >Minutenmenschen<. Der Ausdruck ist von den ungarischen Arbeitern geprägt worden. Sie meinten damit Leute, die nur für die Minute dachten, lebten und urteilten und sich den Teufel um die Folgen scherten. Dass der Ausdruck >Minutenmenschen< in den Betrieben schon Mitte November [1956] geprägt wurde, zeigt, dass den Arbeitern die Sache nicht gefiel. Aber sie ließen sich damals noch immer mehr oder weniger von den >Minutenmenschen< beeinflussen. Die typischen Vertreter dieser Leute waren führende Mitglieder des Petöfi-Klubs des ungarischen Schriftstellerverbandes und einiger anderer Organisationen dieser Art. Diese Leute hatten schon vor dem 23. Oktober sehr viel Schaden angerichtet, indem sie in ihren Organisationen die Diskussionen von Parteifragen aus der Partei hinaustrugen, im Petöfi-Klub und im Schriftstellerverband eine Einheitsfront von Intellektuellen der verschiedensten politischen Richtungen gegen die Partei der ungarischen Werktätigen schufen und schon Wochen vor dem 23. Oktober engste Verbindungen mit organisierten militärischen Gruppen der Aufständischen hielten. Was die Arbeiter damals nicht erkannten, war, dass die Handlungen der sogenannten <Minutenmenschen< durchaus nicht von plötzlichen Entscheidungen und Eingebungen beeinflußt waren. Vor allem die leitenden Leute vom Petöfi-Klub und dem mit ihm eng verbundenen Schriftstellerverband hatten monatelang Vorarbeit im Sinne der Konterrevolution geleistet. In ihrem Kampf gegen die Partei hatten sie zum Beispiel aufs engste mit ehemals führenden faschistischen Intellektuellen aus der Horty-Zeit zusammengearbeitet, mit Leuten, die offen die Beseitigung der Volksdemokratie und die Wiedererrichtung des Kapitalismus verlangten, und hatten auf jeden Rat, sich doch von solchen Verbündeten wenigstens abzugrenzen, mit der Erklärung geantwortet: >Im Kampf gegen Rákosi sind uns alle Verbündeten recht<. Sie unterhielten auch, was sich ebenfalls erst später herausstellte, nicht nur enge Verbindung mit Gruppen von Konterrevolutionären, die später als >Aufständische< auftraten, sondern auch mit den ausländischen, westlichen Freunden dieser Konterrevolutionäre. Aber obwohl der Charakter der >Minutenmenschen< später viel klarer wurde, blieb der Ausdruck.

Noch verantwortungsloser war die Haltung dieser Kreise während und nach den Oktoberereignissen.

Zumindest etwa vom 30. Oktober an wußten die Leute vom Petöfi-Klub, die so viel von Humanität und Menschlichkeit gesprochen hatten, dass die Welle des Weißen Terrors ganz Ungarn zu verschlingen drohte, und sie weigerten sich, dazu Stellung zu nehmen. Julius Hay [(1900–1975)], einer der führenden Schriftsteller, wurde schon am 30. vom Massaker im Parteihaus informiert. Er erklärte, er sei erschüttert, weigerte sich jedoch, ans Radio zu gehen und gegen den Weißen Terror Stellung zu nehmen. Als ich am 10. nach Budapest kam, bat ich einen ungarischen Freund, bei Hay anzurufen und ihn um eine Stellungnahme zu bitten. Die Antwort Hays am Telefon war ein hysterischer Aufschrei, er habe nicht gewusst, was die Konterrevolution angerichtet habe, und er habe es nicht gewollt. Als der ungarische Freund Hay vorschlug, er solle dann wenigstens jetzt im Radio sprechen, sagen, daß er und seine Freunde nicht beabsichtigt hätten, der Konterrevolution zu helfen und daß sie ihre Haltung bedauerten – und damit die Normalisierung und den Kampf gegen die Konterrevolution unterstützen, lehnte Hay das kategorisch ab. Er habe einen Nervenzusammenbruch und sei nicht in der Lage zu sprechen.

Die Tatsache, daß Hay und andere angesehenen Schiftsteller nach dem 23. die >glorreiche Revolution< verherrlicht und als nationale Erhebung und Befreiung des ungarischen Volkes gepriesen hatten, hatte viel dazu beigetragen, einfache Menschen, die den großen Schriftstellern glaubten, über den Charakter der ungarischen Konterrevolution zu täuschen und damit ihr Wüten zu erleichtern. Im Kampf gegen diese Konterrevolution hatten zahleiche einfache Menschen ihr Leben geopfert. Die Schriftsteller jedoch hatten zu schwache Nerven, um auch nur eine Radioansprache bei der Bekämpfung dieser Konterrevolution, deren Charakter sie angeblich erkannt hatten, zu helfen.

Charakter war überhaupt nicht die starke Seite dieser Leute. Ungefähr Mitte November besuchte ich den großen ungarischen Schriftsteller Béla Illés [(1895–1974)]. Illés war einer der wenigen, der die Tätigkeit der Leute vom Schriftstellerverband und vom Petöfi-Klub nicht mitgemacht, sondern aufs schärfste verurteilt hatte. Dafür forderten die Leute vom Schriftstellerverband und vom Petöfi-Klub nach dem 23. seine Verhaftung als >Stalinist< und >Rákosi-Agent< und verlangten sogar, man solle ihn vor Gericht stellen. Am 4. November griff die Sowjetarmee ein. Am 6. November erschienen jene Führer des Schriftstellerbandes, die nicht mit Nervenzusammenbrüchen zu Hause saßen, beim <Rákosi-Agenten< Illés, dessen Verhaftung sie noch vor einigen Tagen verlangt hatten, und baten ihn de- und wehmütig, er solle doch bei <den Russen< intervenieren, damit den Schrifttellern nichts geschähe. Béla Illés lag damals krank zu Bett, außerdem bezweifelte er, daß irgend jemand die Absicht habe, den Schriftstellern ein Haar zu krümmen. Er stand aber dennoch auf und ging zwei Stunden zu Fuß im Schneegestöber, (an diesem Tag hatte es einen plötzlichen Kälteeinbruch gegeben) in die sowjetische Zentralkommandantur und bat, man solle die Schriftsteller nicht verfolgen. Vom Oberkommandanten bekam er die erstaunte Antwort, wie er auf die Idee käme, daß man >diesen Narren< etwas tun wolle – und ging wieder zwei Stunden zu Fuß nach Hause zurück, um die Schriftsteller zu beruhigen.

An dem Tag, als ich bei ihm war, erschienen wieder führende Vertreter des Schriftstellerverbandes und verlangten von Illés wieder eine Intervention, diesmal bei der Regierung, weil die Gefahr bestünde, daß die Schriftsteller infolge der bevorstehenden Kürzung des Kulturbudgets in Zukunft viel schlechter verdienen würden als früher. (Dabei hatte der Schriftstellerverband gerade als Protest gegen die Regierung Kádár einen allgemeinen Schreibstreik beschlossen, was allerdings sogar in diesen Tagen die Öffentlichkeit wenig aufregte.) Und während Illés im Nebenzimmer mit mir sprach, beschimpften ihn die Herren, die soeben um seine Intervention gebeten hatten, meiner Begleiterin, einer österreichischen Kollegin, gegenüber nach Strich und Faden und regten sich darüber auf, daß eine österreichische Zeitung es für nötig hielte, über einen so >unwichtigen< Mann wie Béla Illés zu schreiben. Und während dieser Zeit sagte Illés seufzend im Nebenzimmer: >Was sollen wir denn tun, wir müssen versuchen, sie doch noch zu überzeugen, wer denn soll sie zur Vernunft bringen, wenn nicht wir Kommunisten!<,

Wenn sich diese Leute damit begnügt hätten, in den Schreibstreik zu treten und gegen andere zu intrigieren, wäre das noch zu ertragen gewesen. Aber in diesen Tagen hatten sie sich eine weitere Aufgabe gestellt. Sie gingen vom Betrieb zu Betrieb und forderten die Arbeiter auf, <um jeden Preis< weiter zu streiken, schrieben Flugblätter, (die von illegalen Gruppen der Aufständischen verbreitet wurden), in denen sie ebenfalls zum Generalstreik aufforderten und erklärten in anderen Flugblättern und Klebezetteln, die Pflicht eines jeden Ungarn sei es, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen; es sei besser, heldenhaft zu sterben als schmachvoll zu leben. Was sie sich dabei vorstellten, wußte niemand, aber das flammende Todesbekenntnis der Petöfi-Klub-Leute machte in dieser aufgeregten und wirren Zeit besonders auf junge Menschen einen gewissen Eindruck. […].“ (Broschüre, S. 71–75). 

III. Eva Priester publiziert ihren Augenzeugenbericht im Berliner Dietz Verlag (DDR). Ihre Eindrücke von der Situation der Kommunistischen Bewegung in Berlin und Wien zu Anfang 1957

Ihre Broschüre „Was war in Ungarn wirklich los? Bericht einer Augenzeugin“ hat Eva Priester im Dietz Verlag Berlin 1957 (123 S.) verlegt.[23] Es ist ihre erste Veröffentlichung in der DDR. In denselben Monaten wurde vom Kongress Verlag Berlin zu den Ungarnereignissen die Broschüre „Ich erlebte Ungarn. Hintergründe und Ziele des konterrevolutionären Aufstandes. 63 Seiten des dorthin als Redakteur des „Neuen Deutschland“ entsandten Spanienkämpfers Georg Stibi (1901–1982) veröffentlicht. Das wurde nicht als Konkurrenzveröffentlichung gesehen, sondern als Bereicherung. Die Berichterstattung in der „Volkstimme“ über die Aufnahme der Tätigkeit von Arbeiterräten und Gewerkschaften in Ungarn nach dem Herbst 1956 übernahm der mit Eva Priester aus der Emigration in London nach Wien zurückgekehrte Leopold Hornik (1900–1976).[24] Einen Ernst Fischer (1899–1972) interessierte das schon nicht mehr, er schielte vielmehr nach den Möglichkeiten seines Abgangs nach rechts aus der kommunistischen Bewegung und ließ sich vom Applaus der bürgerlichen Medien immer mehr verführen. Für die in der Parasitenwelt um das Zentralkomitee der Wiener KPÖ der 1960er und 1970er Jahren herangewachsenen Führungsorgane der heutigen KPÖ Linke wird Fischer als „das Paradebeispiel eines linken Intellektuellen“ angeboten.[25] Dessen dekoratives Pathos lässt sich notabene in seinem 1950 in der „Österreichisch-Ungarischen Vereinigung für Kultur und Wissenschaft“ gedruckten Festvortrag über Petöfi nachlesen.[26] Eva Priester ruft diese Schrift von Ernst Fischer bewusst nicht in Erinnerung. Der altösterreichische Marxist, Frontkämpfer der Sowjetarmee und Historiker Leo (Jonas Leib) Stern (1901–1982)[27], der seit 1957 Vorsitzender der Deutsch-Sowjetischen Historikerkommission war, hat den bald linken, bald rechten Opportunismus des Mitgliedes des Zentralkomitees der KPÖ Fischer früh kennengelernt und verachtete insbesondere dessen empathischen Zuspruch für die Ernennung von Karl Renner (1870–1950) zum Staatskanzler der provisorischen Regierung der befreiten österreichischen Republik. Leo Stern selbst hätte lieber einen Christlichsozialen oder Karl Seitz (1869–1950) gehabt, er fügte sich aber den Stalin vermittelten Wünschen des Zentralkomitees. In einem nach 1970 aufgenommenen Interview für die „Staatliche Filmdokumentation der DDR“ klagt Leo Stern über Ernst Fischer und diese ganze intellektuelle Gruppe um ihn, „sie haben furchtbar viel der internationalen Arbeiterbewegung, geschweige denn der österreichischen geschadet“.[28] 

Letztverantwortlich für die Veröffentlichung der Broschüre von Eva Priester mit einer Auflage von 100.000 Stück und einem Pauschalhonorar von DM 3.500.- in österreichischer Währung im Dietz Verlag war Fritz Schälicke (1899–1963), der sich in dem nach dem sozialdemokratischen Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz (1943–1922) benannten Verlag große Verdienste erworben hat.[29] Von Anfang an galt das eingereichte Typoskript von Eva Priester als nützliche Agitationsbroschüre, weshalb vom Verlag Horst Sindermann (1915–1990) von der Abteilung „Kommission für Agitation“ beim Zentralkomitee der SED eingeschaltet wurde.[30] Sindermann gab das Typoskript der Reportage von Priester dem aus dem Widerstand gegen den deutschen Faschismus kommenden Botschafter der DDR in Budapest (Juli 1956 bis August 1959) Rudolf (Rudi) Helmer (1914–2007) zum Lesen. Sindermann teilte ausdrücklich (Aktennotiz vom 30. Jänner 1957) die Auffassung von Eva Priester über die mit dem Beispiel des Petöfi-Klubs charakterisierten „Minutenmenschen“: „Mit ihren Forderungen nach >Freiheit< waren sie die Wegbereiter des weißen Terrors, des Austritts Ungarns aus dem Warschauer Vertrag und des Anschlusses an die NATO!“ (30. Jänner 1957). In der Gegenwart werden diese faschistischen „Wegbereiter“ als „Freiheitskämpfer“ von jenen deutschen Promihistorikern gehuldigt, die mit ihrem Schweigen der jahrzehntelangen Aggression des israelischen Besatzungsregimes gegen die Palästinenser oder jener der Türkei gegen die Kurden so zustimmen wie sie ihr Verständnis für den Faschistenputsch von Augusto Pinochet (1915–2006) signalisieren.[31]

Sindermann teilt Schälicke mit, Helmer und er seien der Meinung, es sei eine „glänzende Arbeit, die man durch Streichungen nur noch verbessern kann“ (1. Februar 1957). Eva Priester reiste zur Schlussredaktion eigens für eine Woche nach Berlin und schreibt nach ihrer Rückkehr an Schälicke einen wunderschönen Brief über die von ihr wahrgenommene Herzlichkeit und Haltung von Genossen (22. Februar 1957, Maschineschrift):

„Lieber Genosse Schälicke,

wieder in Wien und sozusagen im normalen Arbeitsleben möchte ich mich noch einmal bei euch allen und ganz besonders bei dir für die schönen Worte in Berlin bedanken. Ich hoffe, du hältst es nicht für die berüchtigte Wiener Höflichkeit und auch nicht für die ebenso berüchtigte schriftstellerische Übertreibung, wenn ich dir noch einmal sage, dass die Zeit, die ich bei euch war, für mich die schönste Zeit seit langem gewesen ist. Erstens wegen der grossen und wirklich einmaligen Wärme und Kameradschaftlichkeit, die einen in dem Augenblick umgibt, in dem man bei euch die Tür aufmacht und hineinkommt und zweitens wegen der Atmosphäre, die bei euch und in Berlin überhaupt herrscht, dieser klaren, eindeutigen und kämpferischen Atmosphäre, die wirklich wie ein Kohlensäurebad auf einen wirkt. Es geht und ging mir so, wie es wahrscheinlich vielen anderen Genossen aus anderen, vor allem kapitalistischen Ländern geht, die zu euch kommen: seit ungefähr einem Jahr stehen sehr viele von uns unter einem Druck, der manchmal fast unerträglich ist und der einfach daher kommt, dass man sich meistens auf eigene Faust mit den schweren und komplizierten politischen Fragen herumschlagen muss, die in dieser Zeit so aufgetaucht sind, dass man meist allein und manchmal auch im Kampf gegen andere versuchen muss, sich ein klares Bild, von den Dingen, die sich so ereigneten, zu machen und natürlich immer wie das berühmte Damoklesschwert die Frage über dem Kopf hängen hat >ist es richtig, was ich sage, kann ich es verantworten, zu der Schlussfolgerung zu kommen, zu der ich komme, und kann ich es vor allem verantworten, sie auszusprechen und damit andere zu beeinflussen>. Das ging so seit dem 20. Parteitag, natürlich über Ungarn und die Einschätzung der polnischen Entwicklung und über die Auseinandersetzungen und Diskussionen, die dann folgten. Du hast viel mehr Parteierfahrung als ich und wahrscheinlich wird dir diese Fragestellung dumm vorkommen, aber es war in diesen ganzen Monaten oft eine verfluchte Sache, sich fragen zu müssen: >Stemmst du dich wirklich, wie man dir manchmal sagt, gegen eine notwendige und richtige Entwicklung, gegen eine ehrliche Kritik an der Vergangenheit< und bist du einer der >unbelehrbaren Konservativen<, der >Vertreter der alten Methoden<, der >reaktionären Bonzen<, wie es manchmal sogar hiess, die >das Neue niedertrampeln wollen<, oder raufst du doch, wie es dir deine Überzeugung sagt, gegen feindliche Dinge, gegen Meinungen und Theorien, die, wenn sie sich durchsetzen, unsere ganze Bewegung zusammenhauen können. Es ist für niemanden und schon gar nicht für einen Schriftsteller leicht, plötzlich in die Position eines >Reaktionärs< geschoben zu werden, der sich gegen das >Neue< stemmt, auch wenn man im Grunde weiss, dass das nicht stimmt. Das Wort und der Begriff >Freiheit< haben an sich und zu Recht einen berauschenden Klang und wenn einem plötzlich – und manchmal von den eigenen Freunden – gesagt wird, dass man >gegen die Freiheit< ist, nimmt man das nicht leicht –, schon weil das eine ganz neue Erfahrung ist – auch wenn man dann doch genau weiss, dass die angebliche Freiheit in Wirklichkeit tiefste Unfreiheit ist.

Warum ich dir das alles schreibe? Um dir zu erklären, wie viel ihr mir durch diese Woche in Berlin gegeben habt. Weil in dem Augenblick, in dem ich bei euch war, alles ganz klar und ganz einfach wurde, dieser verdammte Druck, der einem manchmal die Luft abschnürt, wie durch einen Zauber verschwand und nicht einem Augenblick lang wiederkam. In einem bestimmten Sinn kommt man sich so vor, wenn man bei uns in den Bergen über 1500 Metern Höhe ist und plötzlich gehen und gehen und steigen und steigen kann ohne überhaupt Müdigkeit oder das Steigen zu spüren, aber bei euch war eigentlich noch mehr – nicht nur die Abwesenheit von etwas Negativem wie Druck und Müdigkeit, sondern die Anwesenheit von etwas Positivem – neuen Fragen, neuen Gesichtspunkten und die Lust und Möglichkeit, sich auch selbst mit ihnen zu beschäftigen und zu Lösungen zu kommen. Und sehr viel davon ist auch übriggeblieben, nachdem ich wieder fortgefahren bin.

So. Möglicherweise wirst du jetzt zu dem Ergebnis kommen, dass alle Österreicher übergeschnappt oder leicht hysterisch sind, aber ich glaube eigentlich nicht, dass du es tust. Ruhige Dinge kann man ruhig und gelassen sagen, aber es gibt hin und wieder auch unruhige Dinge und da lässt einen die gelassene Ausdrucksweise im Stich. Und ausserdem hatte ich bei dir und bei euch allen vom ersten Augenblick an das Gefühl, das ihr ohne grosse Komplikationen versteht – auch das war ein Teil der Atmosphäre.

Und jetzt habe ich vielleicht erklärt, warum es so schön war, warum ich so stolz bin, jetzt auch zu euren Autoren zu gehören, also ein bisserl indirekt auch zu euch und warum ich dir so sehr danke.

Du brauchst den Brief wirklich nicht zu beantworten, ausser du hast Lust dazu, ich weiss, wie viel du zutun hast und manche Briefe erfordern keine Antwort.

Danke – und viele herzliche Grüsse an alle Genossen.

Eva Priester m. p.“ 


[1] Einen Überblick aus der Sicht von Deutschland als wieder Aggressionskriege führendes Zentrum der Europäischen Union s. Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. Verlag C.H. Beck, München, 5., durchgesehene A. 2017, S. 48–50 („Die Doppelkrise Ungarn Suez“).

[2] Die heilige Familie. MEW 2 (1972), S. 3–221, hier S. 98. 

[3] Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag. Referat von Genossen N. S. Chruschtschow, dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, gehalten am 14. Februar 1956. Anhang. Entschließung des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zum Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU. Dietz Verlag Berlin 1958. 

[4] Zitiert von Andrej Gromyko: Erinnerungen. Internationale Ausgabe. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. Econ Verlag Düsseldorf / Wien / New York 1989, S. 235; vgl. Georgi K. Schukow: Erinnerungen und Gedanken. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart.

[5] Konrad Farner: Josef Wissarionowitsch Stalin’s 70. Geburtstag. Genossenschaft Literaturvertrieb Zürich 1949.

[6] Brief an Friedrich Engels vom 7. August 1866, S. 247–249, hier S. 249.

[7] Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp Frankfurt a. M. 1957, hier zitiert nach suhrkamp taschenbuch 1. A. 1977, S. 9.

[8] Horthy túra (horthytura​.hu)

[9] Volksstimme vom 1. Jänner 1957.

[10] Gerhard Oberkofler: Christliches Sein an einer Weggabelung der DDR (1956/1957) – Zeitung der Arbeit

[11] Heide Maria Holzknecht: Eva Priester. Journalistin / Schriftstellerin / Historikerin. Diplomarbeit aus Geschichte. Eingereicht bei: Univ. Prof. Dr. Gerhard Oberkofler. Innsbruck 1986. Diese erste Biographie von Eva Priester ist mit viel Empathie und Kenntnis von Zusammenhängen geschrieben. Darauf eins zu eins aufbauend, aber ohne die entlehnbare Arbeit von Holzknecht irgendwie zu zitieren Claudia Trost: Eva Priester. Ein biographischer Abriss. In: Die Alfred Klahr Gesellschaft und ihr Archiv. Beiträge zur österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hg. im Auftrage der Alfred Klahr Gesellschaft von Hans Hautmann. Alfred Klahr Gesellschaft 2000, S. 347–370. Über den Personalstand der „Volksstimme“ vgl. Maria Bianca Fanta: Arbeiter der Feder. Die Journalistinnen und Journalisten des KPÖ-Zentralorgans „Österreichische Volksstimme“ 1945–1956. CLIO Graz 2016.

[12] Eduard Winter: Die Sowjetunion und der Vatikan. Akademie Verlag Berlin 1972, S. 281 f. 

[13] Kardinal Franz König: Appelle an Gewissen und Vernunft. Hg. von Gottfried Hierzenberger. Tyrolia Verlag Innsbruck / Wien 1996.

[14] Zitiert nach Annie Cohen-Solal: Sartre 1905–1980-. Rowohlt Verlag Reinbek 1988, S. 552.

[15] Vgl. dazu Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Brechts Tui-Kritik. Argument-Verlag 1976.

[16] Noam Chomsky: Amerika und die neuen Mandarine. Politische und zeitgeschichtliche Essays. Suhrkamp Frankfurt a. M. 1969, hier S. 241.

[17] Chomsky, Amerika, S. 366 f. Die Selbstenthüllung von István Horváth (*1943), seit 1983 ungarischer Botschafter in den Niederlanden und 1984 bis 1991 Botschafter von Ungarn in der BRD, zeigen die Käuflichkeit ungarischer Mandarine. István Horváth: Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft. Mit einer historischen Einführung von István Németh. Universitas Verlag München 1999.

[18][18] László Révész: Petöfi, Sándor. Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas 3 (1979), S. 447–449 Petőfi, Sándor (ios​-regensburg​.de)

[19] Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. edition suhrkamp Frankfurt a. M. 1981, S. 214. 

[20] Zitiert hier nach Bertolt Brecht: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 1. A. 1978, S. 875–906 (Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher), hier S. 878.

[21] Adalbert Toth: Endre Ady. Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas 1 (1974), S. 13 f. Ady, Endre (ios​-regensburg​.de).

[22] Herzlichen Dank Herrn Anzelm Bárány (Collegium Hungaricum Wien) für frdl. Erläuterung!

[23] Holzknecht, Eva Priester, S. 44–47. 

[24] Leopold Hornik: Arbeiterräte und Gewerkschaften in Ungarn. Volksstimme vom 5. Februar 1957.

[25] Walter Baier: Das kurze Jahrhundert. Kommunismus in Österreich. KPÖ 1918 bis 2008. Edition Steinbauer Wien 2009, S. 130. Es ist derselbe „Minutenmensch“ Walter Baier, der wegen seiner Vorliebe für „Privatoffenbarungen“ von der erzkatholischen Fokolar Bewegung adoptiert wurde! 

[26] Ernst Fischer: Alexander Petöfi. Hg. von der Österreichisch-Ungarische Vereinigung für Kultur und Wirtschaft. Schriften. Österreichisch-Ungarische Schriftenreihe. Heft 1. Globus Verlag Wien 1950.

[27] Gerhard Oberkofler: Leo (Jonas Leib) Stern. Ein Leben für Solidarität, Freiheit und Frieden. StudienVerlag Innsbruck / Wien / Bozen 2019.

[28] Bundesarchiv Berlin. Video_TS 12/VTS_01_1.VOB. Signatur 126138. Für frdl. Übermittlung danke ich Ilko-Sascha Kowalczuk sehr herzlich!

[29] Neue Zeit vom 2. Februar 1963.

[30] Für das Folgende Unterlagen aus dem Archiv Dietz Verlag Berlin zur Veröffentlichung dieser Broschüre von Eva Priester. Für sehr freundliches Entgegenkommen danke ich Frau Brigitte Fischer vom Bundesarchiv Berlin!

[31] Vgl. z. B. Michael Gehler / Erich Lessing: Ungarn 1956. Aufstand, Revolution, Freiheitskampf in einem geteilten Europa. Tyrolia Verlag Innsbruck 2015; Der Standard vom 24. 10. 2016: Historiker Gehler: „Aufstand war moralischer Sieg der Freiheit“ – Ungarn – derStandard​.at › International

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