Die politische Landschaft in Syrien hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch verändert. Nach Jahren des Kriegs und der Unterstützung der Assad-Regierung durch Russland hat die jihadistische Gruppe Heyet Tahrir el-Şam (HTS) überraschend die Macht übernommen. Die HTS, hervorgegangen aus dem Al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front, erlangte im Dezember die Kontrolle über weite Teile des Landes, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Der ehemalige syrische Präsident Baschar al-Assad musste am 8. Dezember den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim verlassen und befindet sich derzeit in Moskau.
Russlands Rolle im syrischen Machtwechsel
Damaskus. Russland, das seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings die syrische Regierung unterstützt hatte, griff diesmal nicht ein, obwohl es über beträchtliche militärische Ressourcen in Syrien verfügt. Trotz der Schwächung der russischen Armee durch den Ukraine-Krieg hätte Moskau die HTS-Milizen, die sich in offenen Konvois auf den Straßen bewegten, leicht aus der Luft angreifen können. Doch Russland entschied sich, den Machtwechsel hinzunehmen. Dies wirft Fragen nach den strategischen Interessen Moskaus in der Region auf.
Die HTS hat zwar die Kontrolle über bestimmte Gebiete Syriens übernommen, steht jedoch vor enormen Herausforderungen. Die israelische Armee hat sich in den ländlichen Gebieten um Damaskus festgesetzt, und im Osten des Euphrat warten die von den USA und Israel unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ab, wie sich ihre Beziehungen zur neuen Zentralregierung gestalten werden, erklären sich aber auch zu einer Zusammenarbeit mit Israel bereit. Obwohl die HTS-Regierung von westlichen Ländern vorsichtig begrüßt wurde, haben wichtige regionale Akteure wie Katar und Saudi-Arabien ihre finanzielle Unterstützung bisher zurückgehalten. Dies hat Russland eine unerwartete Gelegenheit eröffnet, seinen Einfluss in Syrien erneut zu festigen.
Blutige Eskalation nach der Machtübernahme
Bei der neuen Eskalation in Syrien sind Aktivisten zufolge insgesamt mehr als 1.000 Menschen bei Massakern und Gefechten getötet worden. Sicherheitskräfte der Übergangsregierung hätten 745 Menschen getötet oder exekutiert, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London. Unter den Opfern seien Frauen und Kinder. Neben den Zivilisten wurden auch 273 Kombattanten auf beiden Seiten getötet.
Die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle sprach von Massakern in mehr als 20 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus und Hama – westliche Küstenregionen, die als Hochburgen der Alawiten gelten, einer religiösen Gemeinschaft, der auch der gestürzte Präsident Baschar al-Assad angehört. Gruppen wie der HTS gelten die Alawiten als Vogelfreie. Die Beobachtungsstelle warf Kämpfern der islamistischen Interimsregierung Kriegsverbrechen vor.
Zahlreiche Bewohnerinnen und Bewohner der Küstenregion sagten, dass Tausende Alawiten und Christen seit Donnerstag aus Angst um ihr Leben ihre Häuser verlassen hätten. Mehrere Hundert Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, suchten Zuflucht auf einem russischen Militärstützpunkt in Syrien. Unabhängig überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.
Übergangspräsident Ahmed Sharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten mit Angriffen versucht, „das neue Syrien zu testen“. Sharaa lobte die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief die Angreifer auf, ihre Waffen niederzulegen. Berichte über Massaker erwähnte er nicht. Geheimdienstchef Anas Khattab rief die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung auf und forderte alle beteiligten Kräfte auf, sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen.
Russlands neue Zusammenarbeit mit der HTS
Russland hat die Unsicherheit in der Region unterdessen genutzt, um seine Beziehungen zur HTS-Regierung zu stärken. Moskau lieferte der neuen Regierung dringend benötigte finanzielle Unterstützung in Form von 23 Millionen Dollar in lokaler Währung, die in Russland gedruckt wurden. Diese Geste unterstreicht die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Ländern und zeigt, dass Russland bereit ist, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten, um seine Interessen in Syrien zu wahren.
Ein wichtiger Aspekt dieser Partnerschaft ist die Nutzung russischer Militäreinrichtungen in Syrien, insbesondere der Marinestützpunkt in Tartus und der Luftwaffenstützpunkt Hmeimim. Darüber hinaus werden Gespräche über die Erkundung von Erdgasvorkommen im Mittelmeer sowie den Bau von Industrieanlagen in Homs und Palmyra geführt. Auch von der Privatisierung von Staatsbetrieben könnte Russland profitieren. Diese Projekte könnten Russlands wirtschaftlichen und strategischen Einfluss in der Region erheblich ausweiten.
Die Rolle der USA und die regionale Dynamik
Die Haltung der USA unter der Trump-Administration bleibt unklar. Während Trump in der Ukraine überraschende Schritte zur Annäherung an Russland unternahm, hat seine Regierung in Bezug auf Syrien noch keine konkreten Maßnahmen ergriffen. Es wird spekuliert, dass hinter den Kulissen Verhandlungen zwischen den USA und Russland über die Zukunft der Ukraine und Syriens stattfinden. Diese Ungewissheit gibt Russland zusätzlichen Spielraum, um seine Position in Syrien zu stärken.
Die HTS-Regierung hat angekündigt, die natürlichen Ressourcen und staatlichen Vermögenswerte Syriens für ausländische Investitionen zu öffnen. Dies könnte russischen Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnen, insbesondere in den Bereichen Energie und Infrastruktur. Die Tatsache, dass Katar und Saudi-Arabien ihre finanzielle Unterstützung zurückhalten, könnte Russland dabei helfen, eine dominierende Rolle in der syrischen Wirtschaft zu übernehmen.
Die Zusammenarbeit zwischen Russland und der HTS-Regierung markiert eine neue Phase im syrischen Konflikt. Während Russland versucht, seine militärische und wirtschaftliche Präsenz in der Region zu sichern, steht die HTS vor der Herausforderung, die Kontrolle über das zerstörte Land zu behalten und internationale Anerkennung zu erlangen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Syrien in verschiedene Einflusszonen zerstückelt wird. Dies zeichnet sich bereits jetzt ab. Teile Syriens stehen unter türkischer Kontrolle, andere wiederum sind von den USA in Kooperation mit den SDF besetzt und Israel ist ebenfalls darum bemüht Teile Syriens unter Kontrolle zu bringen.
Quelle: soL/soL/Die Presse