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Der marxistische Jude Bruno Frei über den „Kommunistenrabbi“ Moses Hess und seine Hoffnung auf den Untergang des „Schacherjudentums“ (Teil 2)

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck 

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Dokumentation

Vorbemerkung: 1977 hat Bruno Frei das Buch „Im Schatten von Karl Marx. Moses Hess – Hundert Jahre nach seinem Tod“ als seinen literarischen Beitrag zum sozialistischen Emanzipationskampf veröffentlicht:[1] „Um zu kämpfen, braucht der Mensch“, so resümiert Bruno Frei, „einen subjektiv gewordenen objektiven Beweggrund. Dass er kämpfen muss, genügt nicht, er muss es wollen. Diese Wahrheit mit Nachdruck ausgesprochen zu haben ist Verdienst – und Vergehen – von Moses Hess“.[2] Für Kommunisten wie Bruno Frei war ein friedliebendes Israel dann denkbar, wenn seine jüdischen Bewohner sich vom Zionismus und Imperialismus lossagen.[3]

Bruno Frei: Die sieben Kehrtwendungen des Moses Hess

Druck. Israel-Nachrichten. Tel Aviv vom 17. / 24. Februar, 3. / 10. März 1978.

Er sprach: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft, und bist obgelegen“.

1. Mose, 32, 29[4]

Was ist es, was mich an diesem Gesicht unwiderstehlich anzieht, nicht losläßt? Der Blick, von uralter Trauer verschleiert? Das ungereimte make-up? Modische Haarwellen, von einem Pariser Coiffeur geglättet, und ein Spitzbärtchen, dem Großvater abgeguckt. Willst du Rabbi sein oder Geck? Der junge Engels konnte seinen Spott nicht zügeln, als er in Paris des einstigen Freundes ansichtig wurde. „Der Mann hat sich sehr verändert “, schreibt er an Marx in Brüssel, „jugendliche Locken umwallen sein Haupt, ein zierliches Bärtchen gibt dem scharfen Kinn einige Grazie“. Kalt habe er den Besucher abgefertigt, ihm gerade noch einen guten Rat gegeben für den Tripper, den er aus Deutschland mitgebracht. 2 Jahre waren erst vergangen, aber von dem, was zwischen ihnen gewesen, konnte keine Rede mehr sein. Vergessen die gemeinsamen Versammlungen in Elberfeld, als der Aufruhr der schlesischen Weber den deutschen Bürger in Schrecken versetzte, vergessen, dass jener es war, der den Ausreißer aus Barmen zum Kommunismus bekehrte, vergessen, dass er selbst, Friedrich Engels, den um 8 Jahre Älteren als den „ersten Kommunisten in der Partei“ vorgestellt hatte.

1847 freilich war alles anders. Stand nicht die Revolution vor der Türe? Und hatte dieser Schönwortemacher mit dem verschleierten Trauerblick überhaupt eine Ahnung, was Revolution bedeute, nimmt man sie ernst, ohne Berauschung, ohne Traumbild? Schöne traurige Augen, aber doch nur eine gefallene Größe.

Des jungen Engels spöttische Überlegenheit bricht nicht den Bann, der mich gefangen hält, lässt nicht den Widerspruch in diesem Gesicht. (Oder ist es eine Maske?) Hineinleuchten in den Abgrund, die Bruchstelle finden, das Durcheinander entwirren – es ist wie Suchtgift, lähmend und aufreizend zugleich.

Ein großer Held bist Du nicht gewesen, Moses Hess, ein Kämpfer gewiß, aber nicht ohne Wendungen und Windungen. Auch ganz und gar Hässliches liegt herum und statt einer Geraden ist es ein Krummweg. Und dennoch: ein hektisch Suchender, kein Schwarmgeist. Ein Verwandter?

1835

Diesmal hatte der Alte einen wunden Punkt getroffen. Dass es der Klagetag war, der den Vater im Bethaus zurückgehalten, hatte der Sohn vergessen. Von der Absicht, Ärgernis zu erregen, fühlte er sich frei. Die Fahrt ins Grüne war seit langem mit den Freunden vereinbart gewesen; Ludwig, wie immer, hatte einen lustigen Einfall und so war man bei der Sonnwirtin eingekehrt, wo das allerliebste Töchterlein ganz persönlich den Gästen den Römer kredenzte. Das Schlimme war, dass kein Zornausbruch den Abtrünnigen empfing, als er zur Stunde des Fastenabbruchs unbekümmert heimkehrte. Der Vater sagte bloß: „Warum bist Du zurückgekommen?“ Das war unerträglich.

Er hat den schwarzen Tag deutlich vor Augen. Er war noch ein Kind gewesen, damals in Bonn. Großvater verharrte seufzend und schluchzend im Singsang der Erinnerung an die Zerstörung des Tempels. Die Klagelieder des Jeremia[5] hallten durch die Stube. Ein Unglück war hereingebrochen und ein großer Schrecken hatte sich seiner bemächtigt.

Im Haus des Vaters, heute, muss sich Gleiches ereignet haben, Und er hatte es nicht bedacht. Einfach vergessen.

So konnte das nicht weitergehen. Ein Jahr war vergangen, seitdem er nach unbesonnener Flucht in die väterliche Fron nach Köln zurückgekehrt. Eine Jugendtorheit. Der Vater hatte sich nicht lange geziert und den reuigen Ausreißer gnädig aufgenommen, nachdem dieser versprochen, nunmehr im Laden die Kunden zu bedienen. Der Onkel in Frankfurt hatte vorgesorgt, den völlig Abgerissenen wieder eingekleidet. Mit einundzwanzig mittellos von Ort zu Ort ziehen, in der Erwartung, die Geliebte werde bald nachfolgen, war dem Sohn des begüterten Kaufmanns David Hess eine harte Prüfung.[6] Am Ende gab es zerrissene Hosen. Überdies hatte es die rote Lena gar nicht eilig, dem Flüchtigen ins süße Elend nachzufolgen.

Moses Hess, nunmehr dreiundzwanzig, saß in seiner Mansarde und betrachtete mit Stolz die Bücher, die er aus Holland mitgebracht. Was wissen die unten von dem Brand in meiner Brust? Sie glauben, mich plagen immer noch die Tüfteleien des toten Talmuds. Nichts ahnen sie von der ungeheuren Revolution in meinem Inneren. Der Einzige, der von Spinoza[7] weiß, ist Vetter Leopold, auch er Kommis im Kolonialwarengeschäft des David Hess.

Der junge Mann, aufgewühlt von dem peinigenden Erlebnis der Heimkehr in das verratene Klagehaus, steigerte sich in den Zustand der Verzückung. Das Buch werde die Ahnungslosen zum Staunen bringen. Er fühle sich berufen, was Spinoza gedacht, in die Tat umzusetzen. Erkenne der Mensch das Gesetz des Weltalls, dass ein einheitliches ist für die Natur und Gesellschaft, für den Kosmos und für das Individuum, dann komme Ordnung in das Chaos. Sich dieser Gesetzmäßigkeit einzugliedern, führe letztlich zur Harmonie des Ganzen: Die heilige Geschichte der Menschheit.[8]

Die Stunden, die ihm die Galeere in Vaters Kramladen ließ, hatte er genutzt, Bogen für Bogen mit Sätzen füllend, die in ihrer Härte die ganze Menschheitsgeschichte einzuschmelzen schienen. Niemand wusste von dem Vorhaben, nur Vetter Leopold durfte hie und da einen Blick hineinwerfen. Die Arbeit half ihm über die Öde des Commerzes hinweg, versetzte ihn, sobald er vor den weißen Blättern saß, in einer Welt jenseits der Wirklichkeit. Sätze bauend durfte er sich dem Genuss zügellosen Spekulierens hingeben.

Natürlich kreisten seine Phantasien immer wieder um den Konflikt seines jungen Lebens: Das Ghetto aus Mauern und Ketten hatten die Franzosen niedergerissen, als sie 1794 mit der Trikolore durch die rheinischen Städte zogen; (Großvater war dabei gewesen) aber das innere Ghetto blieb unversehrt bestehen. Haben es die Nichtjuden errichtet oder die Juden? Wer die heilige Geschichte der Menschheit schreibt, muss auf diese Frage eine Antwort wissen.

Die Antwort der Neubekehrten ist radikal, nicht erst seit heute; der Jüngling hatte sie in sein frühes Tagebuch eingetragen: „Die mosaische Religion ist abgestorben“.

Die Judengasse in Bonn wird gegenwärtig. Wie die Lehrer, Unmenschen von Lehrern, mich über den Talmud schwarz und blau geschlagen und ich war noch nicht fünfzehn! Der Talmud ist tot. Die Religion ist tot.

Kaum war es niedergeschrieben, das Abtun der Welt der Ghettos und Verbote, riss ihn das Erinnerungsbild vom seufzenden und schluchzenden Großvater aus neugewonnener Sicherheit. Um den vor achtzehn Jahrhunderten zerstörten Tempel trauerte der Uralte wie um ein verstorbenes Kind. Auf niedrigem Schemel sitzend, ohne Nahrung, der Schuhe entledigt, den Rock eingerissen, entrang sich seiner Brust das Klagelied um Jerusalem. Die Spiegel in der Stube waren verhängt wie in einem Trauerhaus. Da hatte es auch dem Enkel das kleine Herz zerrissen, er hatte sich der Tränen nicht erwehren können. Ist das Religion?

Der Großvater und dessen Geschichten waren in den Nebeln der Kindheit versunken. In dem weinerlichen Singsang steckte eine tiefere Klage als um den Tempel, das war ihm nun klar geworden. Die um des Tempels willen Erschlagenen brachten sich an diesem Tage in Erinnerung und es waren ihrer sehr viele.

Doch er, Moses Hess, war darüber hinweggekommen. Die Bürde der Folianten hatte er abgeschüttelt, als er sich in das Buch der Bücher versenkte und sich zum Jünger Spinozas erhoben; möge der Große Bann auch ihn treffen.

Kaum dem Knabenalter entwachsen, hatte er sich dem Freund anvertraut. Ob er fromm sei, hatte dieser gefragt – Was heißt fromm? Leben, wie ein frommer Jude? Die veralteten Gesetze eines längst zerfallenen Staates mit abgöttischer Verehrung anbeten? Lächerlich. Ja, als die Juden noch eine Nation und einen Staat bildeten, da mögen diese Gesetze sinnvoll gewesen sein. Mensch sein auf Kosten von Judesein – war das nicht das neue Gesetz?

Die Blätter, es sollten die letzten werden, füllten sich. Das Klagelied des Großvaters, so herzzerreißend es klang, war nicht Religion, nur Sehnsucht nach einem verlorenen, nicht wiederkehrenden Gut. Das Judentum war Tod. Die Sehnsucht erhalten, nur damit das Verstorbene im Gedächtnis bleibe, ebenso barer Unsinn als das Zurückrufen des vielgeliebten hingeschiedenen Vaters im Gedächtnis des Kindes. Das Rad der Geschichte kann niemand zurückdrehen. Als Etappe des Geistes war das Judentum, praktiziert im eigenen Staat, historisch gerechtfertigt – ein Abschnitt der heiligen Geschichte der Menschheit. Aber letztlich ist es das Christentum, das den Geist der Einheit, den jüdischen Geist, der Menschheit vermittelt. Jehova, Gott der jüdischen Nation, musste dem Gott der Menschheit weichen.

Der Schreibende stockte. Haben am Ende jene Recht, die sich dem Anachronismus durch die Taufe entziehen? Der Gedanke ließ ihn erzittern. Nicht allein wegen des Vaters unten in der guten Stube, wo der Gekränkte wartete und auch die Geschwister warteten, dass er sich zu Tisch setze nach der Handwaschung, um die erste Mahlzeit nach dem Fasten einzunehmen.

Warum er sich den Gebräuchen beuge? Er hätte es nicht sagen können; ja und nein hielten sich die Waage und er bewegte sich im Kreis. Nach den Ideen leben, Wer konnte das? War das Judesein dem Jünger Spinozas ein Widerspruch, so war in der Wirklichkeit nichts als Widerspruch und unerfüllte Hoffnung.

Moses Hess geriet in Hitze. Eine neue Revolution werde die Befreiung bringen und das neue Jerusalem errichten. Menschen werden wie Brüder leben und der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten werde verschwinden. Die Gesellschaft werde einen so unbeschreiblichen Oberfluss an Kräften haben, dass sie Wunderbares schaffen wird. Es werde im Staate nichts unmöglich sein, weil er nicht mehr vom Egoismus seiner Glieder abhängig ist; und die Glieder werden sich frei und lebendig regen können, weil sie von keinem ängstlichen Haupte mehr gehemmt, sondern vom Ganzen unterstützt werden; so werde jedes seine höchste Tätigkeit entfalten, weil eines dem anderen nicht mehr im Wege steht.

Berauscht von seiner Vision hatte der Schreibende die Stimmen überhört. Ja gewiss, die Handwaschung. Hatte er die Juden vergessen? Was wird aus Ihnen im Zukunftsbereich der Liebe? Die Toderklärung des Judentums, einmal ins Tagebuch gekritzelt, passt nicht in das rosige Glücksbild einer vereinten Menschheit. Waren es nicht gerade die Juden, die den Gedanken der Einheit des Menschengeschlechts in die Welt gesetzt?

„Die heilige Geschichte der Menschheit“, Erstlingswerk des Moses Hess, Druckvermerk 1837: „Dieses Volk war von Anfang an berufen, die Welt zu erobern, nicht wie das heidnische Rom durch die Kraft seines Armes, sondern durch die Tugend seines Geistes …“.[9]

Das war die erste Kehrtwendung des Moses Hess.

1840

Er presste die Lippen zusammen; Beten hatte er verlernt. Das halblaute Wehklagen zerrte an seinen Nerven. In dem kleinen Bethaus, eigentlich war es nur ein Betraum, war die Gemeinde zu ungewohnter Stunde versammelt. Ohne ihren bestickten Vorhang war die Bundeslade ein Kasten, Holz ohne Andacht, Sinnbild des Jammers. „Höre Israel, Adonaj[10] ist unser Gott, Adonaj ist einzig“.

Der Vorbeter rief: „Psalm 88“. Die Bärtigen murmelten: „Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkest und die von deiner Hand abgesondert sind“.

Der Vorbeter rief: „Psalm 91“. Vernehmlicher wurde das Gemurmel: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet, und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibet. Der spricht zu dem Herrn: meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet mich vom Strick des Jägers“.

Der Vorbeter rief: „Psalm 94“. Jetzt war es ein Schreien und auch Vater schrie: „Erhebe dich, du Richter der Welt, vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen. Herr, wie lange sollen die Gottlosen prahlen. Herr, sie zerschlagen dein Volk und plagen dein Erbe. Und sagen: Der Herr siehet es nicht und der Gott Jakobs achtet es nicht“.

Sodann schlugen sich die Männer an die Brust und bekannten ihre Sünden.

Moses, dem Bethaus seit manchem Jahr entwöhnt, war mit Vater und Bruder gegangen als es hieß, man müsse für die Verfolgten von Damaskus Psalmen sagen, wie es seit jeher Brauch ist in der Stunde der Todesgefahr, wenn die Würger an die Pforte trommeln.

Er konnte es nicht fassen, weigerte sich es zu glauben. Im finsteren Mittelalter, vielleicht, aber im strahlenden Jahrhundert der Menschenrechte? Sherif Pascha, Gouverneur von Damaskus, hatte die Kinder ihren Müttern entrissen, Dreijährige darunter, in einen Raum sperren lassen ohne Nahrung; das Wimmern der Gefolterten sollte den Eltern Geständnisse erpressen. Gestehen sollten Sie, dass die Juden den verschwundenen Pater Tomaso abgeschlachtet hätten.[11] Gestehen sollten die geschundenen Rabbiner, dass sie das Blut des Paters brauchten, um das Passahbrot zu backen. Soldaten waren in die Judenquartiere eingebrochen: plündern, einäschern, töten. Es war Frankreichs Konsul in Damaskus, der den Pöbel gegen die Juden hetzte, es waren Frankreichs Zeitungen, die der irren Blutbeschuldigung glauben schenkten, es war Frankreichs Bürgerkönig, der die Menschenrechte der Staatsräson opferte.[12]

Von Frankreich sollte das Heil kommen, aber es kam das Unheil. Er wollte nicht Jude sein, aber der Psalmen-Litanei hatte er beigewohnt und nicht ohne Herzklopfen. Moses Hess bewegte sich im Kreise.

Er hatte sich, um ins Bethaus zu gehen, von der Arbeit losgerissen: Fortsetzung der heiligen Geschichte der Menschheit. Europa wiedergeboren, ein gegliederter Körper, Deutschland, Frankreich und England Garanten der Freiheit, Hüter des Friedens. Schon stockte er.

Ist echter Friede ohne Umgestaltung der Gesellschaft möglich? Im Besitze dürfe keine Trennung sein zwischen Individuen und Gruppen; um den vollkommenen Zustand der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen, müssten die Menschen sich assoziieren. Erst in der neuen gesellschaftlichen Ordnung, gegründet auf die Überwindung zwischenmenschlicher Gegensätze, werde die Freiheit eine wahre, vollständige sein.

Und was wird aus den Juden im neuen Europa? Sie müssen verschwinden, aufgehen in den Volkskörpern, in deren Schatten sie leben. So hat er es in der neuen Schrift festgelegt. Denn er selbst fühlte sich ganz und gar als Deutscher „Unsere deutschen Gaue“, das Wort kam ihm leicht aufs Papier. Und die Juden von Damaskus? Ihr Notschrei hatte die Gemeinden im Rheinland zu ungewöhnlicher Stunde in den Bethäusern versammelt, um durch das Gebet König Davids den Blutdunst des Pogroms von den Verfolgten abzuwenden.[13] Zwischen Vaterhaus und Menschheit hin- und hergerissen, ließ Moses Hess seinen Gefühlen freien Lauf. Bitterkeit war in ihm und der Zwang zu Schmerzen der Umkehr.

„Unseren gebildeten deutschen Juden ist der sie umgebende Judenhass stets ein Rätsel geblieben. War nicht seit Mendelssohn[14] das ganze Streben der deutschen Juden stets dahin gerichtet, Deutsch zu sein, Deutsch zu denken, Deutsch zu fühlen? Haben sie nicht sorgfältig jede Erinnerung an Ihre antike Nationalität auszumerzen gesucht? Zogen sie nicht in den ‚Befreiungskrieg‘? Waren sie nicht Deutschtümler und Franzosenfresser? Sangen wir nicht noch gestern mit Nikolaus Becker[15]: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien, deutschen Rhein“? Habe ich nicht selbst die unverzeihliche Dummheit begangen, eine musikalische Komposition dieser ‚deutschen Marseillaise‘ dem Verfasser einzusenden? Dennoch ist mir im Einzelnen dasselbe widerfahren, was die deutschen Juden im Ganzen und Großen nach ihrer patriotischen Begeisterung erlebt haben. Auch ich musste es erleben, dass der deutsche Mann nicht nur meine von Patriotismus glühende Zuschrift in einem eiskalten Ton beantwortete, sondern auch noch zum Überfluss auf der Rückseite seines Briefes mit verstellter Handschrift die Worte hinzufügte ‚Du bist ein Jud!‘ Heute möchte ich fast dem deutschen Sänger Abbitte tun. Die Beleidigung war offenbar keine persönliche. Man kann nicht zugleich Teutomane und Judenfreund sein, wie man nicht zugleich die deutsche Kriegsherrlichkeit und die deutsche Volksfreiheit lieben kann.

Er fühlte sich erleichtert. Es war alles gesagt. Während er überlegte, wie der Aufruhr der Gefühle gedruckte Gestalt annehmen könnte, überkam in neue Unruhe. Zorn und Scham hatte er sich von der Seele geschrieben, aber die Umkehr öffentlich bekennen? Quälend war der Riss in seinem Inneren. Wie soll es mit dem Buch von der Neuordnung Europas weitergehen? Alles aufgeben? Neu beginnen? Er flatterte und zappelte, aber kam nicht von der Stelle. Er wartete auf ein Geschehnis von außen, das ihn zwingen würde, sich zu entscheiden. Heiratspläne waren aufgetaucht. Einen Buchladen wollte er eröffnen, um endlich vom Vater unabhängig zu werden. Nichts davon kam zustande. Man war in ein neues Haus übersiedelt, aber je reicher der Vater, desto stärker wurde der Zwang, auf eigenen Füßen zu stehen. Darüber war fast ein Jahr vergangen. Endlich erklärte sich ein angesehener Verlag bereit, das Europabuch zu drucken. Konnte er ablehnen? Verfolgung gab es schließlich nicht nur in Damaskus, Jammer nicht nur unter syrischen Juden; Sturmlieder gab es, mächtiger als die Lamentation im Bethaus. Die Neuordnung, dessen war er sicher, wird mit der Befreiung der Menschheit auch den Spuk der Judenverfolgungen ein Ende setzen.

An dem Tag der Begegnung legte er das in der Aufwallung über Damaskus Geschriebene zu dem Haufen papierener Entwürfe, an denen es in seiner Mansarde nicht mangelte. Er begegnete Karl Marx und verband große Hoffnung und Bewunderung mit ihm und ging so weit ihn in einem Brief als seinen „Abgott“ zu bezeichnen, der Religion und Politik einen Schubs versetzen wird und schwärmte von seinem Witz und seinem philosophischen Können.

Es war die zweite Kehrtwendung des Moses Hess.

1850

Die Revolution war gescheitert, aber was änderte das? Mehr als je überzeugt, dass ihre Zeit gekommen sei und nicht nur in einem Lande, dass sie von allen, die der heiligen Sache die Treue hielten, mit Leib und Seele gefördert werden müsse, ließ Moses Hess seinen „Roten Katechismus für das deutsche Volk“ drucken und verbreiten. Mögen die in London darüber die Nase rümpfen. In Genf wusste man besser, was zu geschehen habe.

In der Stadt Calvins[16] hatten sich die Flüchtlinge von 1948 gesammelt; Italiener, Franzosen, Deutsche, Tschechen, Polen, Ungarn warteten unter dem Schutz der freundlichen Lokalregierung auf das Zeichen zu neuem Aufbruch. In Genf genügte es, sich nicht anzumelden, um des behördlichen Schutzes gewiss zu sein. Nachdem er mehrfach die Wohnung gewechselt, fand Moses Hess außerhalb der Stadt ein kleines Anwesen, wo er, mit Sybille wieder einmal versöhnt, ungestört schreiben, auch geheime Besuche empfangen konnte.

Der Bruch mit den Londonern [d. s. Marx und Engels] war endgültig. Daran zu zweifeln war nicht länger erlaubt. Zu hämisch war die Abschüttelung gewesen und überdies ungerecht. Hatten sie ihn missverstanden?

Einen solchen Ausgang der Zusammenarbeit – war es nicht eher Freundschaft gewesen? – hatte Moses Hess nicht erwartet. Wohl hatte es bereits in Brüssel begonnen, doch das waren kleine Reibereien, durch eine Aussprache, einen Brief, rasch geglättet.

Mit welchem Recht schleuderten sie den Bannstrahl gegen ehrliche Mitstreiter? Wer hat sie eingesetzt als Richter über die Abteilungen der Revolution? Wer außer sie selbst kann behaupten, dass es nur einen Sozialismus geben [kann] und dass ihrer wahrer sei als der andere?

Moses Hess denkt an die Anfänge, an die hochfliegenden Erwartungen, als die „Rheinische Zeitung“ begründet wurde; er war es, der den Anstoß gegeben, von der Leitung ist er freilich ferngehalten worden. Er hatte es hingenommen, ohne Einspruch. Das sind acht Jahre her, überlegt man es im Lichte der Erfahrung und insbesondere der jüngsten, so wird klar, dass bei aller Gemeinsamkeit und Wegkameradschaft ein tiefinnerlicher Widerspruch von Anfang an vorhanden gewesen.

Nicht allein anerkannt, hochgerühmt hatte er das Umfassende des jungen Dr. Marx damals in Köln. Immer hatte er in dem Jüngeren den Lehrer verehrt. Dennoch, ihre Wege waren immer weiter auseinander gegangen. Im Grunde war es immer das Gleiche. Jener war gewohnt, alle Seiten abzuwägen, der Hitze der Begeisterung misstraute er. Seiner eigenen Ungeduld dagegen war Begeisterung die stärkste Menschenkraft.

Auch jetzt, nahe der Vierzig, sah er es nicht anders. Kann man denn die Revolution nach Krämerart mit Elle und Gewicht abmessen? Die jungen Leute, die sich damals um die „Rheinische Zeitung“ scharten, waren vielleicht nicht fähig, sicher nicht willig, im Staat mehr zu sehen als Repression, war es doch schließlich der preußische, mit dem sie es zu tun hatten. Lag aber in ihrem Nein nicht mehr Moral und Sittlichkeit als im ganzen Hegel?

Nicht ohne Inneres Schmunzeln erinnerte sich Hess des erschreckten Gesichts. Der Gesprächspartner nannte sich „Sozialist“. Man diskutierte wieder einmal über die „Rheinische“. Als er gerade heraus bekannte: „Man muss niederreißen, um die Dinge alle in Bewegung zu bringen“, erblasste jener. Er war mehr für das „Positive“. Später wurde aus dem positiven „Sozialisten“ ein führender Kapitalist im Rheinland.

Niederreißen – er hat es nicht so hart gemeint, wie es klang. War es falsch zu sagen: Im Kampf zwischen Arm und Reich kann es zu keinem Ausgleich kommen; nur eine totale, einmalige, endgültige Revolution, aus der die kommunistische Gesellschaft hervorgeht, wird das Grundproblem der Zeit lösen?

Vor dieser Radikalkur gäbe es auch 1850 kein Ausweichen, hatte er dem Dronke[17] gesagt, dem alten Hausgenossen und Kumpan in so manchen Fährnissen. Sie hatten den um 10 Jahre Jüngeren aus London nach Genf geschickt, damit der nach dem Rechten sehe. Als Abgesandter mit Vollmacht sollte er unter den Flüchtlingen die Autorität der Verfasser des kommunistischen Manifests festigen, Abweichlern entgegentreten. Doch um Hess zu gewinnen war es zu spät.

Es war ihm immer zuwider, wenn in einer Versammlung so ein Klugredner vom „ehernen Schritt der Geschichte“ zu sprechen anfing. „Manche haben die Revolution im Kopf statt im Herzen“ hatte er dem Dronke zugerufen, als dieser damit herausrückte, man müsse die Arbeiter mit großer Geduld für die Revolution gewinnen, die vorerst eine bürgerliche sein werde; sie sei zu fördern, nicht zu behindern. Solche Rede reizte Moses Hess zu leidenschaftlicher Widerrede. Die „Rheinische Zeitung“ hatte kaum ein Jahr aufgehört zu bestehen, da war es ihm schon klar geworden: Kommunismus ist nichts anderes als die Verbindung von individueller Freiheit mit sozialer Gleichheit. Als er aber diesen Gedanken zu verbreiten suchte, war es jener Dr. Marx, der ihm höhnisch vorwarf, er jage einem imaginären Weltbild nach, statt die konkreten Tatsachen zu beachten.

An Spott sparte jener schon damals nicht. Unleidlich wurde der überhebliche Ton, als er auszusprechen wagte, das wesentliche Merkmal der modernen Gesellschaft sei der Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus. Unvorsichtigerweise hatte er hinzugefügt, wiewohl von der ernstesten Sache der Welt, nämlich vom Geld, die Rede war, dass die Idee des Kommunismus nichts anderes sei, als das Lebensgesetz der Liebe, angewandt auf das Sozialleben. Ihm schienen Kommunismus und Liebe keine Gegensätze. Was aber hatte Marx gemeint, als er verlangte, das Geschriebene zu „vermenschlichen“?

Dass man in verschiedenen Sprachen redete, verhinderte nicht, dass die durch gemeinsame Fluchtwege Verbundenen auf Freundschaft und Freundlichkeit angewiesen waren. Hess, der durch Dronkes Ankunft an die guten Jahre erinnert wurde, konnte nicht umhin, dem Emissär aus London Vergessenes, Verdrängtes ins Gedächtnis zu rufen. Wie sie sich gegenseitig halfen, sooft die Verfolgten gezwungen waren, sich an fremdem Ort anzusiedeln: Hess hilft Marx in Paris, Marx hilft Hess in Brüssel. Habe er nicht für Marx Geld gesammelt, als es diesem in Brüssel dreckig ging? Habe er ihm nicht über den Haftbefehl aus Berlin unterrichtet, ihn gewarnt, preußisches Gebiet zu betreten. Haben sie nicht gemeinsam Zeitungen gegründet und nicht nur die „Rheinische“? Haben sie nicht nebeneinander auf Rednertribünen gestanden? Gemeinsam Vereine aufgezogen? Haben sie nicht die gleichen Spitzel abgeschüttelt, die gleichen Ausweisungsbefehle erhalten? Nicht so manchen Aufruf gemeinsam verfasst? War er doch sogar bereit gewesen, Marx zuliebe, ökonomische Schriften eifrig zu studieren und manches von dem preiszugeben, was ihm lange Zeit hindurch heilig schien. Und schließlich war nicht Moses Hess, der verspottete Phantast, der verhöhnte Idealist, der lächerliche Träumer, geschätzter Mitarbeiter hochwichtiger Schriften?

Das alles rief Hess nicht ohne Bitterkeit dem Abgesandten der Zentralbehörde ins Gedächtnis. Nichts davon war diesem unbekannt. Dennoch versuchte er Hess zu überzeugen. Nicht Rechthaberei sei es, was Marx und Engels zur Strenge im Denken treibe, sondern die Vorausplanung zukünftiger Siege.

Dronke war wieder abgereist. Der Bund der Kommunisten war gespalten. Zwei Zentralbehörden leiteten zwei gleichnamige Organisationen, die einander in unversöhnlicher Gegnerschaft bekämpften.

Moses Hess musste sich entscheiden. Das verrauchte Café de la Poste mit seinem Sprachengewirr übte auf ihn eine geheime Anziehung aus. Vielleicht war alles nur auf die Schwerblütigkeit der Deutschen zurückzuführen? Das Volk der Revolution waren die Franzosen und sind es geblieben. Die neue Revolution werde von Frankreich ausgehen, wie schon zweimal die alte. Sie werde um ihr Ziel zu erreichen, den anderen Völkern die Fackel weiterreichen. Die Revolution werde nicht auf ein Volk beschränkt bleiben und auch nicht ein einmaliger Akt sein. Sie werde alle Völker Europas erfassen oder keine; sie werde permanent sein oder gar nicht. Sie werde das Jüngste Gericht sein.

Das neue Buch war fertig. Moses Hess schrieb nach London, er übernehme die Leitung der „Fraktion Minderheit“ in Genf.

Das war die dritte Kehrtwendung des Moses Hess.

1852

Das Haus lag im Dunkel. Im eisigen Wind schlug der Unbekannte den Kragen seines Reisemantels hoch. Vorsichtig überzeugte er sich, dass ihm niemand folgte. Dann drückte er entschlossen die Klinke nieder. Das Tor war nicht versperrt. Man erwartete ihn.

Moses Hess musste sich in das Haus seines verstorbenen Vaters einschleichen, ängstlich darauf bedacht, in Köln nicht gesehen zu werden. In der Stadt wimmelte es von Angebern. Die Bürger ergaben sich dem modernen Gesellschaftsspiel: der Kommunistenjagd. Die einen, der ausgesetzten Belohnung wegen, die anderen, um ihren patriotischen Eifer zu bezeugen. Wenn es um die Aufrührer ging, verstand die preußische Polizei keinen Spaß; nach der Niederschlagung der Unruhen weniger denn je.

Im Haus war Licht und Wärme. Julie[18], die ältere der beiden Schwestern, riegelte die Tür ab. Dann umarmten ihn die Geschwister, zuerst die Frauen, dann, leicht zögernd, die Brüder. Meyer[19], Julies Ehemann, reichte dem Schwager, den er vorher nicht gesehen hat, die Hand.

Es waren kaum 2 Monate seit dem Tod des Vaters vergangen. An der Wand hing die Jahrzeittafel, wo in mehreren Reihen der Todestag kalendertreu verzeichnet war. Man musste wissen, an welchem Tag des Jahres die männlichen Nachkommen das Totengebet zu sagen hatten.

Samuel[20] unterbrach die verlegene Wortlosigkeit, die der Begrüßung folgte. Man sollte doch rasch die Geschäfte angehen, die brieflich vereinbarten Verträge unterschreiben. Moses legte vermutlich keinen Wert auf Förmlichkeiten, zumal er gewiss in Eile sei, aus der Stadt wieder unbehelligt hinauszukommen. Notar und Zeugen warteten im anschließenden Raum, um den Erbvertrag durch ihre Unterschrift gültig zu machen. Schwester Karoline[21], die Jüngste, werde inzwischen für einen Imbiss sorgen.

Das tat weh.

„Ihr habt mich verworfen, ausgeschlossen.“ „Du hast dich selber verworfen, ausgeschlossen.“ Julie beschwichtigte. „Immerhin hat er zu Vaters Lebzeiten Sibylle[22] nicht geheiratet. Jetzt steht der Verbindung wohl nichts im Wege? Aber du sollst es wissen, in diesem Hause, auch wenn du an ihm rechtens Anteil hast, kannst nur du allein wohnen. Das steht im Vertrag und du wirst ihn unterschreiben.“

Moses Hess fühlte nicht die Kraft zu widersprechen. Sie waren die Familie. Sie hielten zusammen wie die Blätter eines Buches. Er lebte in einer anderen Welt. Was wussten Sie davon? Er unterschrieb den Erbvertrag, nicht wie ihn der Notar aufgesetzt hatte. Er wollte seinen Erbanteil gar nicht ausbezahlt haben. was sollte er mit dem vielen Geld? Günstiger erschien ihm eine Jahresrente, wogegen er Schwester Julie zehntausend Taler überließ, nur musste sie sich verpflichten, nach seinem Tode auch Sibylle eine angemessene Rente zu zahlen. Ein Zimmer im Vaterhaus blieb ihm gesichert, freilich nur für eine Person, wie es die Familie beschlossen. Daß Schwester Julie ihre Verpflichtungen einhalten werde, dafür bürgten die Brüder[23].

Warum hassten Sie Sibylle? Vater konnte es nicht ertragen, dass er sich an eine Christin geklammert, er trauerte um den Sohn wie um einen Verstorbenen: Er aber liebte Sibylle, liebte sie inwendig und auswendig, konnte von ihr nicht lassen. Trotz allem.

Als er sie kennenlernte, war er Dreißig. Der leichte Sinn war seine Natur, mehr noch als sein Hang zum Grübeln, konsequenter war er als die Altersgenossen von der lustigen Kumpanei in Köln. Wenn Sie gegen die väterliche Tyrannei aufbegehrten, so glaubten sie der Revolution zu dienen. Er war Ihnen voraus. Was Revolution sei, wusste er, glaubt es zu wissen. Zugleich aber war er gefesselt, anders als die anderen. Unmöglich schien es ihm, Sibylle zu heiraten, solange der Vater lebte, als dessen Mörder hätte er sich betrachten müssen. Wusste man doch in der Familie von der unerquicklichen Vergangenheit des Mädchens. Ihm machte es nichts aus, dass er sie aus dem Freudenhaus gerettet, ganz im Gegenteil, er trug keine Bedenken, sich der guten Tat zu rühmen. Er suchte die Unschuld im Herzen, nicht im Unterleib, hatte er Sibylle einst geschrieben. Wie sollten Schwester Julie oder Bruder Samuel für solche Gesinnung Verständnis aufbringen?

Er verschwand wie er gekommen. Niemand hatte ihn gesehen. Die Spitzel ahnten den Fang nicht, der ihnen entging. Der Gehetzte musste ein neues Asyl suchen, die Spürhunde waren hinter ihm her. Wohin er kam, er war signalisiert: der rote Hess. In Lüttich, der Arbeiterstadt, hoffte er untertauchen zu können. Nun hatte er etwas Geld in der Tasche und brauchte nicht zu fürchten, Sibylle werde ihm wieder davonlaufen, wie damals in Paris. Auch vor der Polizei hatte er Ruhe, Flüchtlinge gab es kaum und die wenigen Deutschen, die sich im Café Schiller zu geselligem Beisammensein zu treffen pflegten, gaben den Behörden keinen Anlass zu Schikanen.

Sibylle war ein unruhiger Geist. Über ihre Gefühle war er sich nicht im Klaren. Was hatte sie ihm nicht schon alles angetan? Die verrückte Geschichte, als er in Brüssel in rasender Eifersucht seinen Rivalen mit der Pistole bedrohte, war keineswegs der einzige Schimpf, den er ihretwegen erlitt. Sie auch rechtlich zu seiner Frau zu machen, nun, nach dem Tode des Vaters, wäre das nicht die beste Lösung? Auf die Familie hatte er keine Rücksicht zu nehmen. Der Besuch in Köln hatte ihn belehrt; jeder geht seine eigenen Wege.

Einfach war es nicht, die Papiere zusammen zu bekommen, die für eine Heirat notwendig waren. Er war ein Flüchtling, nirgends zu Hause. Welches Land werde sich über die Vorschriften der Residenz hinwegsetzen? In Köln warteten auf ihn die Häscher. Manche meinten, in England wäre es leichter.

Der Ehevertrag in Köln beim Notar musste durch einen Bevollmächtigten unterzeichnet werden. Er übertrug Sibylle alles, Leibrente und Hausanteil. In Paris – Jahre danach – konnte er sie auch vor den Standesbeamten führen.

Lange währte auch das Lütticher Idyll nicht. Die preußische Regierung hatte es geschafft. Das Versteckspiel konnte wieder beginnen.

Moses Hess war des Umherirrens müde. Ein sinnvoller Einsatz für die gute Sache war unmöglich geworden. Jetzt, da Preußen zum Polizeigefängnis geworden, das Netz um die Staatsfeinde quer durch Europa gespannt, unmöglicher denn je.

Den Stachel im Herzen konnte er freilich nicht ausreißen. Schmerz begleitete die Lust. Das Bild des unwiederbringlich Verlorenen bohrte sich in seine Tagträume. Im Lichtschein der Hängelampe hatte er die jüdische Familie erlebt. Mann und Frau, Kinder und Kerzen. Weißes Tischtuch. Dankgebet nach der Mahlzeit. Heiliger Friede.

Die Geliebte war zur Ehefrau geworden, behielt ihre Art. Wärme kam von ihr, aber auch Unrast. Mitunter schien sie Moses Hess rätselhaft, ihr Urteil flatterhaft. Moses Hess hatte keine Heimat, daran war nichts zu ändern. Nach einem Heim sehnte er sich.

Entschlossen, die Politik aufzugeben – war Sie ihm nicht untreu geworden, unzuverlässiger noch als Sibylle – setzte er sich in seinem Versteck ans Schreibzeug. In einem Brief ließ er seiner schwarzen Stimmung freien Lauf: „Seitdem die Reaktion uns ehemalige sozialistische Schriftsteller in Ruhestand versetzt, oder zur Ruhe gebracht hat, habe ich mich wieder dem Studium der Naturwissenschaften ergeben … Ich beabsichtige meine schon früher ausgesprochenen, aber noch nicht gehörig ausgeführten Ansichten über die Geschichte der Menschheit naturwissenschaftlich zu begründen, indem ich das allgemeine und gleiche oder e i n i g e Gesetz nachzuweisen mich bemühe, welches in der Entwicklungsgeschichte alles Leben waltet“.

Dies war die vierte Kehrtwendung des Moses Hess.

1859

>Sr. Majestät Napoleon III. Kaiser von Frankreich![24]

Sire.

Fern ist mir die Anmaßung, Ihnen Ratschläge zu geben. Wenn ich nicht glaubte, dass unbeschadet der Machtfülle, mit der Frankreich Sie ausgestattet, und unbeschadet der Erfordernisse dieser Stellung, Ihr Herz den Leiden der Völker näher ist als dem Glanz des Thrones, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass Sie im Grunde Ihres edelmütigen Herzens schon immer die Ansichten der Volksfreunde geteilt hätten, ich hätte weder die Hoffnung noch den Wunsch, Ihnen die meinigen nahezubringen …

Frankreich ist genug mächtig, um seiner großen Sendung gerecht zu werden, wenn nur seine Regierung nicht versagt; doch wenn das französische Volk seine Regierungsform so oft geändert hat, um schließlich zum Kaiserreich zurück zu kehren, wenn die anderen europäischen Völker ihre Blicke auf Sie richten, Sire, so deshalb, weil die Völker besser als alle Diplomaten einen Sinn haben für ihre Existenzbedingungen, für die Mittel, die sie retten können und für die schädlichen Einflüsse, von denen sie sich freimachen müssen.

Wenn in der öffentlichen Meinung Europas der Name Napoleon immer noch unzertrennlich mit dem Frankreichs verbunden ist, so deshalb, weil die Erneuerung Frankreichs als Folge des ersten Kaiserreiches sich nach und nach über ganz Europa verbreitete und deshalb, weil man von seinem Nachfolger die Fortsetzung des großen Werks erwartet.

Um die Völker Europas zu befreien, Sire, glauben Sie mir, brauchen Sie bloß an die Edelmütigen und rumreichen Gefühle des Volkes zu appellieren, an dessen Spitze Sie sich befinden und – an die Sympathien aller Völker Europas. Aber vergessen Sie nicht, Sire, dass man mit den ehrlichen Freunden des Volkes rechnen muss. An dem Tag, an dem sie die Sendung der Revolution in Frankreich und Europa übernehmen, werden Sie über die Mitarbeit meiner Freunde verfügen, mit denen ich in Verbindung stehe und die mich ermächtigt haben, Ihnen in ihrem Namen diesen Brief zu schreiben.

Maurice Hess, Paris, 33 rue de l’Est, 15. März 1859<

1862

>Du kennst ja wohl die ganze Skandalgeschichte, von der ich dich nicht zu unterhalten brauche. Sibylle dauert mich, aber mit einer verrückten Hysterischen kann ich nicht leben<. Moses Hess konnte sich Johann Philipp Becker[25] anvertrauen. Er war dem alten Kämpfer in Genf nahegekommen, als sich dort die Geschlagenen von 1848 sammelten. Er schickte Sibylle Geld nach Paris, aber leben wollte er allein. Im Augenblick sogar in Deutschland; die Amnestie hatte es möglich gemacht. Dem Brief legte Moses Hess den letzten halben Bogen seines neuen Buches bei.

Aus dem zerstückelten Leben ein Ganzes machen. War alles falsch? Der Kaiser? Die Partei? Die Frau? Von Moses Hess wollte niemand etwas wissen. Was war er überhaupt, Moses, Sohn des David Hess. War er Deutscher? Franzose? Jude? Er hätte es nicht sagen können. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass die Menschheit einem Ziel entgegenstrebt und er hatte sein Leben diesem Ziel gewidmet.

Die Menschheit war aber nicht zu finden, so sehr er sich bemühte. Mazzini[26] suchte nicht die Menschheit, sondern Italien. In Genf, als Projekte den Emigranten als Hauptnahrung dienten, war es Mazzini, um den sich die Unentwegten sammelten, ein Großpriester der Revolution. Welch ein Triumph! Auf den Schlachtfeldern der Lombardei wurde sein Traum Wirklichkeit: Die nationale Wiedergeburt des italienischen Volkes. Allgemeine Menschen gibt es so wenig wie allgemeine Tiere.

Der Einladung Bruder Samuels, in seinem Haus zu wohnen, solange er in Köln zu bleiben gedenke, nahm er dankend an. Es war nicht wegen Sibylle, dass er nicht im Vaterhaus Quartier nahm, wo er seinen Erbanspruch hätte geltend machen können. Sibylle war in Paris. Es war wegen Josefine. Sie hatte sich der Kinder angenommen, als ihre Schwester, Samuels Frau, plötzlich starb, der Kinder und des Haushalts. Er hatte ihr aus London nach Frankfurt geschrieben, Familiensachen, Trostworte; auch von Plänen und was ihn beschäftigte war die Rede. Diese Frau weckte in ihm alte Sehnsüchte. Die verstehende Frau, die Gleichgestimmte, die Frau, die einem Vertrauen entgegenbringt, die Vertrauen weckt. Nichts brauchte er mehr als Vertrauen. Wie sollte er sonst seine neue Botschaft aussenden? Dass sie die letzten Freunde abstoßen werde, war zu befürchten.

War es eine neue Botschaft oder eine sehr alte? Er erinnerte sich seines Bekenntnisses, das er vor zwanzig Jahren weggelegt hatte, als er glaubte, der Menschheitssturm brache los. Beim Lesen der Aufzeichnungen wurde ihm das Unzulängliche des Geschriebenen bewusst, aber auch das Zulängliche, das zwingend Notwendige.

Wieder massakrierte man die Juden in Syrien und wieder half ihnen niemand. Wie vor zwanzig Jahren. Man brauchte jedoch nicht nach Syrien zu gehen, um zu erleben, dass das Ziel, dem die aufgeklärten Geister zustrebten, noch sehr weit entfernt liegt. Inmitten der nationalen Renaissance der Völker verweigerte man den Juden das Menschenrecht, in dessen Namen es verkündet wird.

Mit Ekel und Zorn hatte er die finsteren Vorgänge um das zwangsgetaufte Kind in Bologna verfolgt. Gendarmen waren in das Haus des Juden Mortara eingedrungen, hatten den sechsjährigen Knaben den Armen der Mutter entrissen, um ihn in einem römischen Kloster christlich zu erziehen.[27] Als Säugling, von tödlicher Krankheit bedroht, hatte eine unwissende Magd die Nottaufe des Kindes veranlasst. Als sie später das Geschehene beichtete, griff der Fanatismus nach dem Opfer. Die Mutter verfiel dem Wahnsinn.

Das Drama von Bologna hatte nicht wenige europäische Augen feucht gemacht, aber helfen konnte niemand. Rom, von französischen Truppen besetzt, blieb ungerührt. Dem vorsichtig intervenierenden Kaiser von Frankreich setzte Pius IX.[28] sein NON POSSUMUS entgegen.

Moses Hess erlebte zum zweiten Mal jene Krise des Bewusstseins, die ihn niedergeworfen hatte, als er glaubte, die Schreie der Gefolterten von Damaskus zu hören. Das Bitterste musste ausgesprochen, aufgezeichnet werden.

Man setzt sich zum Abendessen. Tischgespräch: der Sieg der Fortschrittspartei bei den preußischen Wahlen. Bruder Samuel, Spitzbart angegraut, das Käppi verdeckt fromm die Glatze, ist zufrieden. Der Fortschritt siegt. Gelobt sei Gott.

Moses presst die Lippen zusammen. Er widersteht der Versuchung, den Hausfrieden zu stören. Was schreitet fort? Der „Fall Mortara“ in Bologna – die Zeitungen sind voll davon – ist das der Fortschritt? Aber er fragt nicht. Weißes Tischtuch, Kerzen und Kinder, Tischgebet, Heiliger Friede.

Josephine[29] war die verhaltene Erregung des Schwagers längst aufgefallen. Aber auch sie stellte keine Fragen.

Seine Gedanken kreisen zwanghaft um den gleichen Gegenstand. Das italienische Volk führte Krieg, um seine nationale Existenz zu begründen. Ist es den Juden verwehrt, was den Italienern, den Franzosen, den Deutschen als natürliches Recht gilt: sich zu sich selber zu bekennen? Irgendwo zu Hause zu sein. Nicht ständig herumgestoßen werden, Prügelknabe aller? Ist nicht überall das Erwachen der Völker das Vorspiel zur Bruderschaft der Menschen? Was bringt der Sieg der Preußischen Fortschrittspartei diesem Familientisch? Ist das eine preußische Familie oder eine jüdische?

Fern liegt ihm, die Ideen zu verleugnen, die ihn zum Kommunisten gemacht. Gab es auch Streit und Spaltung, so blieb doch unerschüttert die Gewissheit der Revolution. Dem war nichts hinzuzufügen, nichts wegzunehmen. Die alte Botseinechaft bleibt gültig, doch ein neues Licht blitzt auf. Judentum u n d Sozialismus, besser, Judentum als Sozialismus. Der Aufruf sollte die Dahindämmerden wachrütteln.

Die neuen Gedanken fiebern, fügen sich zum Traumbild.

Wenn es eine jüdische Mission gibt, kann sie nur der Sozialismus sein. Mosaisch heißt ganz einfach sozialistisch. Das Endziel der heiligen Geschichte der Menschheit, von den jüdischen Propheten verkündet, von der französischen Revolution angebahnt, wird vom Sozialismus verwirklicht werden. Einmal wieder auf eigenem Boden, einmal wieder ins Gleis der Weltgeschichte gehoben, werden die Juden das Haus Rothschild[30] beschämen. Der Gegensatz von Spekulation und Produktion wird verschwinden. Geist und Materie werden eins sein. Spinoza in Zion.

Die Kinder waren zu Bett gegangen. Samuel ärgerte sich über das verbissene Schweigen des Bruders. Moses greift förmlich die Mauer des Unverständnisses. Es gibt keine Öffnung. Dieser brave jüdische Familienvater findet Sicherheit unter dem Dach der Gebräuche und Geschäfte. Die Fortschrittspartei. Den Ruf der Zeit hört er nicht. Für den Schrei der Verfolgten hält er Psalmen bereit. Morgen kann er selber zum Verfolgten werden. Ich, Moses Hess, habe nicht nur bei Gegnern, sondern bei eigenen Gesinnungsgenossen erfahren, wie leicht ihnen die Judenschmähung von den Lippen kommt. Der Steckbrief freilich macht keinen Unterschied, im Polizeigefängnis findet man sich wieder. Brüderlich.

„Rom und Jerusalem“ nannte er seine neue Botschaft. Er gab ihr die Form von Briefen an Josefine.

Das war die sechste Kehrtwendung des Moses Hess.

1872

Präsident (liest): >Gehen wir nun zu den Mitteln der Ausführung des Arbeiterprogramms über. Hier steht in erster Linie die politische Revolution. Es ist natürlich nicht daran zu denken, dass die europäischen Monarchien, welche im Solde der Kapitalherrschaft reichlich bezahlte Gendarmeriedienste verrichten, sich selbst und ihren Brotherren freiwillig den Todesstoß geben werden. Vielmehr suchen Sie, wie man heute überall wahrnehmen kann, nur durch Scheinkonzessionen an die öffentliche Meinung ihre Existenz zu verewigen. Doch niemand wird mehr getäuscht<. Dieser Artikel von Moses Hess in Nr. 69 des „Volksstaat“ ist betitelt: >Die soziale Revolution<. Herr Liebknecht[31], haben Sie diesen Artikel vor der Aufnahme gelesen?

Liebknecht: >Ja gelesen hatte ich ihn wohl, obschon dies nicht notwendig war, denn Hess war bis zum Kriege der ständige französische Korrespondent des „Volksstaat“, dessen Artikel auch ohne meine Durchsicht in die Druckerei zu wandern pflegten. Wenn der Präsident meint, der Artikel enthalte etwas Ungesetzliches, so irrt er. Der Autor betont die Notwendigkeit der politischen Revolution, aber er fordert keineswegs zur Gewalt auf<.

Bebel[32]: >Ich kann nur dem beitreten, dass die Grundanschauung von Hess über das Wort „Revolution“ mit unseren hier schon mehrfach erörterten Anschauungen übereinstimmt. Hess spricht von der „Revolution, in der wir uns befinden, sie hat begonnen mit der Französischen Revolution und geht heute mit dieser ihrem Abschluss entgegen“.<

Es war der achte Verhandlungstag des Schwurgerichts zu Leipzig in dem Prozess gegen Liebknecht, Bebel und Hepner[33] wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Auf der Geschworenen Bank saßen Rittergutsbesitzer, Oberförster, Kaufleute. Die Führer der Sozialdemokratischen Partei, die sich in der Abstimmung über die Kriegskredite der Stimme enthalten hatten, als Hochverräter hinter Festungsmauern verschwinden zu lassen, die Partei des Friedens zu ächten, ihr Sprachrohr zum Verstummen zu bringen, das war Bismarcks[34] Absicht. Die Rittergutsbesitzer, Oberförster, Kaufleute kannten ihre patriotische Pflicht.

Am 14. Verhandlungstag verkündeten sie einer dicht gedrängten Zuhörerschaft ihren Wahrspruch. Es war ein trüber, nebeliger Tag, der Gerichtssaal musste erleuchtet werden. Die Angeklagten Wilhelm Liebknecht und August Bebel seien der Vorbereitung des Hochverrats schuldig, indem sie zu Eisenach neben anderen hervorragenden Parteigenossen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet und in dem Parteiorgan „Der Volksstaat“ die Arbeiterleser unter Erinnerung an frühere politische Revolutionen zum gewaltsamen Umsturz aufgerufen haben.

Einer der Beweise dieses Delikts war der Artikel des Moses Hess.

Paris, rue Doudeauville 79. Billig möbliertes Wohnzimmer. Durch das gardinenverhängte Fenster dringt matt das Tageslicht. Hess in Lehnstuhl. Der flinke Blick des Besuchers bleibt an der schadhaften Polsterung haften. Ein gestutzter Backenbart mach den Gast älter als seine Redeweise vermuten lässt. Carl Hirsch[35] ist einunddreißig.

„Sie haben uns beide hineingemischt, die Schweine“, begrüßt Moses Hess den Ankömmling. „Dass Sie die Zeitung nach der Verhaftung von Liebknecht und Bebel weitergeführt haben, ist Ihnen hoch anzurechnen“.

„Die vier Monate Festungshaft, die mir das einbrachte, habe ich abgesessen“, lacht der junge Mann. „Die Arbeit kann weitergehen“.

Die Arbeit. Der Mann im Lehnstuhl wiederholt das Wort in seinem Kopf. Die Lippen bleiben verschlossen. Was für eine Arbeit? Die Arbeit, die das Leben erfüllt hatte, ist ausgelaufen. Nicht für diesen Jungen.

„Hier auf dem Montmartre hat es begonnen“, flüstert er, „es ist knapp ein Jahr her. Unter den Erschlagenen liegt mehr als die Hoffnung der Commune“.

„Sie sollen sich nicht aufregen, hat der Doktor gesagt“, beschwichtigt Hirsch den alten Genossen.

Dieser, ein schwach aufblitzendes Lächeln in den Augen, denkt: Du hast das Gebot nicht vergessen. „Dem Kranken sollst Du Trost spenden“. Der einstige Rabbinatskandidat, jetzt ein hoffnungsvoller Agitator.

Wie es auf dem Prozess zuging, erzählt der Flüchtling, berichtet von den Rittergutsbesitzern auf der Geschworenenbank und von den aufrechten Antworten der Angeklagten.

„Die Deutschen“, sagt Hess, „streben nach einer Herrschaft der germanischen Rasse sowohl über die Slawen wie über die westlichen Völker. Was mich betrifft, ich habe mich niemals darüber getäuscht, was man eines Tages von einem Volk erwarten sollte, welches belehrt wird von Knechten und geführt von Hochmütigen und Heuchlern. Das deutsche Bürgertum das ist das Feigste der ganzen zivilisierten Welt“.

Der Besucher musste über den Wutausbruch des alten Mannes staunen. Ob das französische Bürgertum besser sei?

„Die Großkapitalisten und Finanzmagnaten sind überall gleich“, erläuterte Hess seine Worte, „ebenso wie die enterbte Klasse der Proletarier. Anders die Mittelklassen, die das geistige und sittliche Niveau der Nation repräsentieren. In Frankreich sind die Ideen der Großen Revolution nie völlig erloschen, immer wieder Flammen sie auf. In Deutschland dagegen unterstützen die kleinen Leute, die weder reich noch arm sind, den preußischen Cäsarismus und Militarismus. Sie jubeln ihren Generälen zu, wenn diese fremde Länder rauben. Aber der Tag wird kommen, da die Slaven ihre alten Territorien zurücknehmen werden, die sich einstmals bis an die Elbe erstreckt haben. Dann werden sie über die Leiche Preußens mit den westlichen Völkern, zu welchen auch die Deutschen gehören werden, wenn Preußen erst aus dem Boden Germaniens mit der Wurzel ausgerottet ist, jene große Konföderation von freien Völkern bilden, die man die Vereinigten Staaten von Europa genannt hat“.

Hess hatte sich in Hitze geredet. Erschöpft holte er Atem. Der Besucher wagte nicht den visionären Redefluss zu unterbrechen. Noch weniger schien es ihm erlaubt, naheliegende Zweifel am Zukunftsbild des Kranken anzumelden. Dieser ließ solches auch nicht zu. Sobald er sich wieder in der Gewalt hatte, setzte er unbeirrt fort.

„Ich werde nie glauben können, dass das größte Ereignis der Weltgeschichte, die Französische Revolution, vergebens stattgefunden hat. Ich werde nie glauben können, dass die Geschichte der Zivilisation auf den Trümmern der bestehenden wieder von vorn anfangen muss. Ich frage mich, ob erst ein europäischer Krieg kommen muss, in welchem sich alle Völker in West und Ost gegen die modernen Hunnen verbünden, um die Befreiung der modernen Menschheit vom brutalen und heuchlerischen Junkertum herbeizuführen. Vielleicht dauert der letzte Krieg länger, als man es hoffen und wünschen muss; vielleicht kostet er noch viele, viele Ströme Blutes, Leichenhaufen und Pestilenz; aber er kann meiner Ansicht nach nur die Herrschaft der sozialen Freiheit und Gerechtigkeit herbeiführen“.

Hess hielt inne. Er wurde sich plötzlich bewusst, wie lächerlich, ja, töricht es ist, vor dem jugendfrischen, tatenhungrigen Parteimenschen eine Art Testament auszubreiten, Wunschbilder eines Gescheiterten. Konnte der Freund Liebknechts dem Spätkommer Glauben schenken, ohne zu fragen, wo warst Du früher, Moses Hess? Bist Du nicht auf Deinen Wanderungen in zahllose Sackgassen geraten? Hast Du nicht sogar den Kaiser Napoleon III. untertänig als Retter der Revolution gepriesen? Warst Du nicht bei den Revoluzzern, die dem Marx Verrat vorgeworfen haben? Warst Du nicht in Gedanken auf Pilgerfahrt nach Jerusalem? Hast Du nicht von Frankreich die Gründung des Judenstaates erwartet? Warst Du nicht Paladin des Liebhabers der Gräfin Hatzfeld[36]? Lassalle[37], eingetauscht für Marx, getaumelt von links nach rechts und wieder nach links? Was bist Du für ein Mensch, Moses Hess? Was bist Du für ein Kämpfer? Wofür hast Du gekämpft? Hast Du überhaupt gekämpft?

Fragen schwirren durch sein fieberndes Hirn, Fragen, die niemand stellte, am wenigsten der junge Besucher, der ein Verehrer war.

Ja, er hatte das Ziel auf vielen Wegen gesucht und manche erwiesen sich als Irrwege. Wie hätte man das vermeiden können? Nichts kann man ändern. Nichts rückgängig machen.

Josefine? Ich kann vor Gott bezeugen, dass ich nicht wissentlich Falschheit getrieben habe. (Vor Gott? Vor welchem Gott? Oh Gott …). Die Absicht war rein, aber die Tat ging immer wieder in die Irre. Eines ist gewiss und es erleichtert die Schuld: auf meiner Straße sind keine Leichen zurückgeblieben. Solange Vater lebte, habe ich Sibylle nicht geheiratet. Dennoch: Große Schuld bleibt ungesühnt … Glaube ich? Trotz allem, trotz der Massakrierten der Commune, glaube ich. Fester denn je. Wer aber hilft mir gegen den Unglauben?

Ob der Besucher ahnte, was in der Brust des Alten tobte, dem nur noch wenig Zeit geblieben? Es schien ihm geboten, die lange Pause, die nach der glutvollen Vision vom ewigen Frieden entstanden war, aufzuheben. „Vor drei Jahren, auf dem Kongress in Eisenach, als die Partei Liebknechts gegründet wurde, haben viele Ihren Mut gelobt. Sich vom Irrtum loszusagen, erfordert Mut. Sie haben den Schaumschlägerein Lassalles den Rücken gekehrt, den Weg zu Marx gefunden. Wie Sie auf den Kongressen der Internationale aufgetreten sind, hat unsere Sache sehr geholfen. Ganz besonders in der Zurückweisung der bakunischen Irrlehre.[38] Im Gericht von Leipzig hat es Aufsehen erregt, als ihr Artikel verlesen wurde: „Was Darwin[39] für die Ökonomie der Natur, hat Marx für die soziale Ökonomie wissenschaftlich konstatiert. Es ist das Verdienst dieser beiden Forscher, in Natur und Geschichte das Gesetz der fortschreitenden Entwicklung entdeckt und dasselbe auf den Kampf um die Existenz zurückgeführt zu haben! Ich habe mir die Sätze aufgeschrieben, so wichtig schienen sie mir“. Er steck den Zettel wieder in die Tasche.

Das war die siebente, die letzte Kehrtwendung des Moses Hess.

Mit der unwiderruflichen Kehrtwendung, drei Jahre später, erlosch der Blick, von uralter Trauer verschleiert. Ein Heldenleben war es nicht, Moses Hess, ein Menschenleben, und das ist genug. Über Deine Unbeständigkeit rümpfen die Immerrechthabenden die Nase. Aber Auschwitz macht verständlich, was vordergründig wie ein Bruch erschreckt.

Israel, das Du, ein Zerrissener, erschaut hast, ist erstanden. Aber es ist ein anderes. Die Menschheitsbefreiung, die Du im Zickzack gesucht hast, ist im Kommen, aber der Weg zieht sich.

Von „unserem verstorbenen Freund“, von „einem langjährigen Bundesgenossen“, wird Karl Marx in seinem Brief an seine Witwe sprechen. Ohne Zickzack geht es nicht ab.

Deine Geschichte, Moses Hess, steht in keinem Lesebuch; eben deshalb glaubte ich, sie müsse erzählt werden.


[1] Wie A. 3.

[2] Frei, Im Schatten von Karl Marx, S. 7.

[3] Otto Janecek in Weg und Ziel 27 (1970), Nr. 11, S. 47 f. 

[4] Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 12. A. 2015: Moses, Genesis 32, 29: „Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.“ 

[5] Jeremia, zweiter der großen Propheten.

[6] Ehe­leu­te Da­vid Heß und Jean­net­te, ge­bo­re­ne Flörs­heim in Bonn, sind die Eltern von Moses Hess.

[7] Baruch Spinoza (1632–1677)

[8] Wie A. 3

[9] Wie A. 43

[10] Adonai, mein Herr, Name Gottes.

[11] Ritualmordanklage in Damaskus 1840: Damaskusaffäre – Wikipedia

[12] „Bürgerkönig“ Louis-Philippe (1773–1850)

[13] Um 1000 ist David König über Juda und Israel.

[14] Moses Mendelssohn (1729–1786)

[15] Nikolaus Becker (1809–1845)

[16] Johannes Calvin (1509–1564)

[17] Ernst Dronke (1822–1891)

[18] Julie (Gudula) Hess (1820–1898)

[19] Meyer Bendix (1805–1884)

[20] Samuel Hess (1817–1881)

[21] Karoline Hess (1825–1897)

[22] Sibylle geb. Pesch (1823–1903).

[23] Der ältere Bruder ist Lazarus Hess (1822–1891)

[24] Napoleon III. (1808–1873)

[25] Johann Philipp Becker (1809–1886)

[26] Giuseppe Mazzini (1805–1872)

[27] Edgardo Mortara (1851–1940)

[28] Pius IX. (1792–1878)

[29] Josephine Hess

[30] Jüdische Bankierfamilie

[31] Wilhelm Liebknecht (1826–1900)

[32] August Bebel (1840–1913)

[33] Adolf Hepner (1846–1923)

[34] Otto von Bismarck (1815–1898)

[35] Carl Hirsch (1841–1900)

[36] Sophie Gräfin Hatzfeldt (1805–1881)

[37] Ferdinand Lassalle (1825–1864)

[38] Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876)

[39] Charles Darwin (1809–1882)

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