HomeFeuilletonWie schaut ein Saldo nach 75 Jahren ÖGB aus?

Wie schaut ein Saldo nach 75 Jahren ÖGB aus?

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., ist Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Am 13. April 1945 hat die Rote Armee Wien befreit. Bis zuletzt hat die deutsche Wehrmacht, unterstützt von Österreichern wie dem damaligen Hauptmann und Taktiklehrer in der Offiziersschule Wiener Neustadt und späteren Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, die sich an ihren Eid an Adolf Hitler gebunden fühlten, Wien als Frontstadt gegen den Bolschewismus verteidigt. Als die noch viele Tote fordernden Kämpfe um Wien im vollen Gange waren, erließ der Befehlshaber der 3. Ukrainischen Front Marschall Tolbuchin einen Aufruf an die Einwohner von Wien, in dem es hieß, dass das Ziel der Sowjetarmee die Zerschlagung der Hitlertruppen sowie die Befreiung und Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sei. Die Sowjetregierung habe nicht die Absicht, sich irgendeinen Teil des österreichischen Territoriums anzueignen oder die überlieferte traditionelle gesellschaftliche Ordnung Österreichs zu ändern. Die politischen Entscheidungen traf Josef Stalin. Er war der Ansicht, dass die Sozialdemokratie aus der Geschichte doch ihre Lehren gezogen habe, und ließ sich von Karl Renner umschmeicheln. Vorbehalte von Kennern des sozialdemokratischen Opportunismus wie vom Österreicher Leo (Jonas Leib) Stern, der als Oberst der Roten Armee für die Befreiung Österreichs gekämpft hat, waren nicht berücksichtigt worden. Renner, der sich Nazideutschland mit einem freudigen Ja angedient hat, erklärte jetzt, dass „Österreichs Zukunft dem Sozialismus gehöre“. Renner zog mit den Mitgliedern der provisorischen Regierung am 27. April 1945 in das Wiener Parlamentsgebäude ein. Die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich erfolgte auf der Grundlage ihrer Verfassung von 1920. Diese ist in der Geschichte und in der Gegenwart nach rechts immer offen.

Der durch die Rote Armee erzielte Wendepunkt in der österreichischen Geschichte war Voraussetzung, dass schon am 15. April 1945 im Direktionsgebäude der Westbahn eine Konferenz von in Wien überlebenden und bekannten Gewerkschaftsvertrauensmännern stattfinden konnte. Auf ihr wurde die Gründung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) offiziell beschlossen. Zum Präsidenten wurde Johann Böhm (SPÖ), zu Vizepräsidenten wurden Gottlieb Fiala (KPÖ) und Lois Weinberger (ÖVP) gewählt. Am 30. April wurde der neugeschaffene ÖGB vom sowjetischen Militärkommandanten registriert und nahm seine Tätigkeit auf. Die Kommandanten der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungstruppen bestätigten erst Monate später für ihren Bereich die Wiederaufrichtung von gewerkschaftlichen Organisationen, die aber ihre Tätigkeit schon begonnen haben. Die Gründung des ÖGB war kein völliger Neubeginn, konnte es auch nicht sein, weil für den ÖGB mit dem Fortbestehen des Privateigentums an den Produktionsmitteln mit seiner Gier nach Profit die grundsätzliche Hinwendung zu den gesellschaftlichen Interessen der österreichischen Bevölkerung nicht möglich war. Aber noch herrschte nicht nur im ÖGB jener Glaube vor, wie ihn der katholische Politiker Leopold Figl in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 ausgedrückt hat: „Das Österreich von morgen wird ein neues, ein revolutionäres Österreich sein. Es wird von Grund auf umgestaltet und weder eine Wiederholung von 1918, noch von 1933, noch eine von 1938 werden“.

Gewerkschaften nach Marx und Lenin

Im Juni 1865 hat Karl Marx vor dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation einen Vortrag gehalten, in dem er sagte: „Die Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkt des Widerstandes gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihre Zwecke zum Teil sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihre Zwecke gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen, als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“. Die Internationale Arbeiterassoziation hat auf ihrem ersten Kongress 1866 in Genf die Frage nach der Bedeutung der Arbeitergewerkschaften und des ökonomischen Kampfes aufgeworfen und festgehalten, dass die Gewerkschaften für die Organisierung der Arbeiterklasse in ihrem täglichen Kampf gegen das Kapital notwendig sind. Dieser Meinung war auch der vor 150 Jahren geborene Weltrevolutionär Wladimir I. Lenin. Er zieht aber auch aus der geschichtlichen Erfahrung den Schluss, „dass das Fehlen der Freiheit oder die Unterdrückung der politischen Rechte des Proletariats es stets notwendig machen, den politischen Kampf in den Vordergrund zu stellen“.

Der aus seinem Asyl in England nach Wien zurückgekommene kommunistische Gewerkschaftsfunktionär und Redakteur der „Zeitschrift für Sozialpolitik, Wirtschaft und Betrieb. die arbeit“ Leopold Hornik ist 1965 in seiner Analyse der Praxis des ÖGB zum Ergebnis gekommen, dass die Formulierung von Marx zur Gewerkschaftsarbeit wohl sehr alt sei, aber immer aktueller werde. Es sei „heute“, so Hornik, „unbestritten, dass sich die Gewerkschaften nicht mehr auf die unmittelbaren Tagesforderungen beschränken können, sondern weitergehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele verfolgen müssen. Die Frage muss aufgeworfen werden, ob die Gewerkschaften diese Aufgabe erfüllen können, wenn sie gleichzeitig die Rolle einer »Ordnungsmacht« in der kapitalistischen Gesellschaft akzeptieren. Als Ordnungsmacht sind sie an die bestehende Ordnung gebunden und müssen deren Gesetzmäßigkeiten respektieren“. Leopold Hornik war als Jugendlicher am großen, am 14. Jänner 1918 beginnenden Streik der österreichischen Arbeiterklasse für den Frieden aktiv beteiligt gewesen.

Verschweigen und Verschleiern

Für eine konkrete Friedenspolitik der österreichischen Gewerkschaften sind vor und nach 1945 sehr viele gewerkschaftlich organisierte Frauen eingetreten. Schon 1951 warnte Anna Strömer, dass Österreich in die zum Krieg aufrüstende NATO hineingezogen werde. Als unmittelbare Aufgabe des ÖGB formulierte Anna Strömer: „Kein Betrieb und keine Gewerkschaftsorganisation ohne Friedensrat! Der Friede ist keine Parteisache“. Der ÖGB nimmt aber hin, dass die sich 1955 zur immerwährenden Neutralität bekennende Republik Österreich als Staat schon längst sich den Interessen des Monopolkapitals unterworfen hat, das in der Europäischen Union im Hintergrund die Fäden zieht. Unsere Republik Österreich hat völkerrechtswidrige Angriffskriege vorbereitet und nimmt an Besatzungen in den Neokolonien selbst teil. Bald mehr, bald weniger ist der ÖGB seit Jahrzehnten zu einer zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisation der jeweiligen Koalitionsregierungen hinabgesunken, jedenfalls ist er fern davon, eine Kampforganisation der Arbeiterklasse für alle Menschen zu sein. Betrifft die Erinnerung an die Gründung des ÖGB irgendwie die Armen? Die Armen und Opfer haben im Gegensatz zum ÖGB keine Gedenktage, so wie es auch keinen Gedenktag für den Beginn des ersten deutschen Bombenkrieges nach dem Weltkrieg gibt (24. März 1999), keinen Gedenktag für die Bombardierung Afghanistans durch die „Demokratien“ (7. Oktober 2001) oder für die erneute Bombardierung gegen den Irak (20. März 2003) oder keinen Gedenktag für das tagtägliche Sterben der von Österreich abgewiesenen Flüchtlinge mit ihren Kindern auf Lesbos. 

Gerade in der Krise der Gegenwart wird wieder deutlich, dass es Aufgabe der österreichischen Gewerkschaftsbürokratie seit jeher ist, mit Hilfe der bürgerlichen Medien die Arbeiterschaft zu beruhigen. Viele, sehr viele konkrete Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart belegen dieses Faktum. Zur Illustration für das, was gemeint ist, ein Rückgriff auf die Antike. In dieser fernen Epoche sind Sklaven aus allen Teilen der Welt nach Rom gekommen und haben sich sprachlich gar nicht verständigen können. Sie blieben unorganisiert. Heute werden nach Österreich Pflegerinnen und Erntehelfer als Sklavinnen und Sklaven eingeflogen, aufgeteilt und bleiben ohne jeden gewerkschaftlich organisierten Rückhalt. Der Unterschied zu den Lebensbedingungen von palästinensischen Erntehelfern in den israelisch besetzten Gebieten oder zu den aus Afrika kommenden Flüchtlingen in den Treibhäusern Spaniens ist nur graduell. All diese Not wird vom ÖGB verschwiegen und verschleiert.

In der Dialektik von Reich und Arm ist der gesellschaftliche Ort des ÖGB nicht an der Seite der Armen. Verschweigen und Verschleiern ist seine Haltung. Seit Jahrzehnten ist ein internationales Engagement des Führungspersonals des ÖGB für Frieden, gegen Krieg und Kriegsrüstung, gegen Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt nicht erkennbar. Papst Franziskus hat bei einem internationalen Treffen von Gewerkschaften deren Notwendigkeit wohl anerkannt, zugleich aber diese aufgefordert, die Tragödie der Welt wahrzunehmen. Die Reaktion bereitet sich auf die Zeit nach der Covid-Krise vor. Große Teile der arbeitenden Menschen stehen vor dem materiellen Ruin, der Klassenkampf wird sich notwendigerweise verschärfen. Der ÖGB muss sich von seiner korrumpierten Tradition befreien und ist in diesen finsteren Zeiten verpflichtet, die Interessen der unterdrückten Menschen national und international aufzugreifen und eine Gegenmacht zu organisieren. Der ÖGB könnte über die Vergesellschaftung des Bankensystems mit seinem milliardenteuren Missbrauch wirtschaftlicher Macht zumindest nachdenken. Antonio Gramsci hat sehr schön und materialistisch beurteilt, dass das Gewerkschaftsmitglied und die Gewerkschaft in einem fetischistischen Verhältnis stehen: „Der einzelne erwartet, dass der Organismus handelt, auch wenn er nicht tätig wird, und er überlegt nicht, dass gerade deshalb, weil seine Einstellung verbreitet ist, der Organismus untätig ist“. Das muss sich ändern! 

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