Der deutsche Revolutionär Erich Mühsam (1878–1934) ist nicht zuletzt als prominenter Aktivist der Münchner Räterepublik von 1919 bekannt, war aber natürlich auch ein überaus produktiver Schriftsteller und Publizist. Seine sozialrevolutionäre, antimilitaristische und antifaschistische Einstellung speiste er v.a. aus seiner vom Anarchismus geprägten Überzeugung, immer wieder wurde er aber auch im Umfeld der KPD aktiv. Am 10. Juli 1934 wurde Mühsam im KZ Oranienburg von den Nazis ermordet. – Die “Ode zum Jahreswechsel” stammt aus dem Jahr 1916.
Ode zum Jahreswechsel (1916/1917)
Es birst ein Jahr und fährt in die Ewigkeit.
Ein Jahr des Todes und dunkler Geschicke voll
stürzt es dem vorigen nach in sein Blutmeer,
räumt es der Zukunft die trostlosen Stätten.
Die kommt gezogen zögernd im Faltenkleid,
umraucht vom Kriege, doch über dem Haupte schon
dämmert ihr neblig ein flackernder Lichtkranz.
Naht sich dem Weltall die Hoffnung auf Frieden?
Es betet brünstig, wer noch an Götter glaubt,
sie möchten enden den schrecklichen Völkermord,
über den Trümmern verschütterter Sehnsucht
Schöneres aufbaun, als Grabmäler decken.
Denn unten faule ewig in Staub und Schutt
der arge Geist, der den Menschen die Waffen schliff.
Nimmer erwache den Völkern die Machtgier:
Feindin der Schönheit und Urgrund des Hasses.
Die Tränen aber, jeglichen Tropfen Bluts,
der Mütter Leid und der Bräute zerstörtes Glück,
sammelt im Herzen zu eifernder Andacht,
wehrend dem Kriegszorn mit sieghafter Liebe.