Coronaviruspandemie und Kapitalismus beeinflussen immer stärker die Psyche junger Menschen. In Wien wird zurzeit ein hoher Anstieg an Fehlstunden von Schülerinnen und Schülern vermerkt, die auf Essstörungen zurückzuführen sind.
Wien. Die Krise rund um die Coronavirus-Pandemie und der Umgang der Regierung damit ist Ursache für psychische Dauerbelastungen von Jugendlichen, sei es in der Schule, in der Lehre als auch bei Studienanfängern. Die daraus resultierende psychische Belastung äußert sich nur zu oft in chronischer Frustration. Im Juni 2020 machte eine Studie der Medizinuni Innsbruck darauf aufmerksam, dass die durch die Maßnahmen eingeführten drastischen Veränderungen der Umwelt von Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen. Es wurde dabei auch konstatiert, dass die Sorgen der Erwachsenen stärker auf Kinder und Jugendliche übergreifen, da sie sich ständig mit Problemen wie Jobverlust, Kurzarbeit und finanziellen Schwierigkeiten im Allgemeinen konfrontiert sehen. Eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Sora in Wien ergab im Oktober vergangenen Jahres, dass sich die psychische Gesundheit eines Viertels der Wiener Bevölkerung verschlechtert habe. Besorgniserregende Gemütszustände wie Niedergeschlagenheit, Ermattung und Hoffnungslosigkeit wurden beispielsweise von einem Drittel der Befragten als häufige Empfindung angegeben. Diese Gemütszustände wurden stark mit der sozialen Lage der Befragten in Verbindung gesetzt. Auch in Wien wurde im November die höchste Nachfrage nach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten festgestellt, als Hauptgründe Zukunftsunsicherheit und das Gefühl des Kontrollverlusts benannt. Für die ZdA war indes klar, dass „auch die Kosten des neuen Lockdowns, so wie alle Verluste, auf die Schultern der Werktätigen abgewälzt werden. Dies wird sich wiederum auch in der Psyche der Menschen widerspiegeln.“ Im Dezember 2020 veröffentlichte die Liga für Kinder- und Jugendgesundheit ihren Bericht, der sich in diesem Jahr auch stark mit den Pandemiebedingungen auseinandersetzte. Ungleichheiten in Bezug auf Gesundheitsrisiken, Bildungschancen und Lebensqualität gab es schon vor dem Ausbruch des Coronavirus in Österreich, die Pandemie hat die Ungleichheiten aber massiv verschärft. Der Bericht kam zum Schluss, dass die Einschränkungen im sozialen Leben v.a. Kinder und Jugendliche treffen, davon aber umso stärker Kinder und Jugendliche aus bildungsärmeren Schichten. Nach wie vor würde Gesundheit in Österreich vererbt: Der sozioökonomische Status der Eltern beeinflusst „die Aussichten der Kinder auf Gesundheit, Bildung, Einkommen, Vermögen“.
Fehlstunden wegen Essstörungen
Die überspitzten Zustände und Lebensrealitäten in Coronazeiten, ihre damit einhergehende Ausweg- und Perspektivenlosigkeit schlägt nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch medizinisch auf den Magen. Immer mehr Lehrerinnen, Lehrer, Ärztinnen und Ärzte informieren über einen starken Anstieg an Essstörungen bei Jugendlichen. Diese würden durch den Umstand erkennbar, dass mehr und mehr Jugendliche vom Schulunterricht fehlen, weil sie an Essstörungen litten. Essstörungen werden von Expertinnen und Experten häufig als Indiz für einen Versuch gedeutet, einen Kontrollverlust wettzumachen. Gerade das Essverhalten erscheint dabei als einfacher Weg, die in anderen Situationen verlorene Kontrolle wiederzuerlangen, tatsächlich schlägt es aber allzu oft in sein Gegenteil um: Die Menge der zu sich genommenen Nahrung kann in beide Extreme schlagen, man verliert zusätzlich die Kontrolle über den eigenen Körper. Laut Psychotherapeutin Harriet Vrana gehe es dabei um einen „Versuch, die Gefühle wegzumachen. Sie befassen sich dann mit Essen und Nichtessen und mit viel Essen und mit wenig Essen, und vor allem mit Aussehen, weil sie keine anderen Inhalte mehr haben in ihrem Leben.“
Die Mehrheit der an Essstörung erkrankten Schülerinnen und Schüler hat dabei bis dato noch nie eine Behandlung in Anspruch genommen, was ganz häufig auch am Mangel an Ressourcen liegt. Vielfach sind Mädchen im Alter von elf bis 18 Jahren von Essstörungen betroffen, es häufen sich aber inzwischen auch die Fälle junger Männer. Essstörungen können schwere Folgen für den Körper haben, sie reichen von Herzproblemen bis zum Nierenversagen, weshalb Fälle schwerer Essstörungen stationär behandelt werden müssen.
Zu wenig Therapieplätze
Die Gründe dafür, dass eine Behandlung nicht in Anspruch genommen wird bzw. dass so viele der jetzigen Patientinnen und Patienten erst jetzt um Hilfe suchen, sind subjektiver und objektiver Natur: Einerseits mag die Behandlung von Essstörungen mit Schamgefühlen behaftet sein, sodass ungern um Hilfe gebeten wird. Andererseits sind strukturelle Mängel gegeben, die dem Ansuchen um professionelle Hilfe in die Quere kommen. In Wien besteht ein großer Mangel an günstigen Therapieplätzen, insgesamt sind zu wenig Therapieplätze vorhanden. Andreas Karwautz, Leiter der Ambulanz für Essstörungen am AKH Wien, berichtet etwa über ein „Fehlen von 50 Prozent der stationären Strukturen, wo diese Patienten gut aufgehoben wären“, am AKH Wien gebe es gerade einmal sechs verfügbare stationäre Plätze.
Auch hierbei zeigen sich die Konsequenzen der dilettantischen Handhabung der Regierung mit Problemen, die sich zwingend aus den unbedachten bzw. nicht zu Ende gedachten Maßnahmen ergeben.
Ursachen liegen im System
Der Kapitalismus sieht im Menschen v.a. eine Basis für das Auspressen von Mehrwert und für die eigene Bereicherung. Dabei ist es dem Monopolkapital einerlei, wie es um die Psyche der auszubeutenden Produktivkraft aussieht, wichtiger scheint es, sie von Jugend an auf ihre Zukunft als Billiglohnkraft vorzubereiten. Jugendliche werden immer früher angetrieben, sich dem Kapital so billig und kritiklos auszuliefern, dass sie die dem Kapitalismus inhärente Entfremdung vom eigenen Arbeitsprodukt, von der Arbeit an sich, von der eigenen Klasse und zuletzt die Entfremdung vom Menschsein selbst viel früher erfahren müssen, als vordem. Die zusätzliche Krise rund um das Coronavirus hat die Widersprüche des Systems verschärft, sie hat auch die Widersprüche verschärft, die die Masse junger Menschen in ihrer psychischen und physischen Entwicklung erfahren. Durch Lockdowns und Einschränkungen im sozialen Leben hat man sie des natürlichen Austauschs mit Altersgenossen, wichtiger entwicklungspsychologischer Erfahrungen und häufig auch des Lebenswillens an sich beraubt. Es bleibt ihnen oft nichts als das eigene Selbstbewusstsein und Selbstbild, das dem Vergleich mit dem in sozialen Medien propagierten Schönheitsideal nicht standhalten kann.
Quelle: ORF / Zeitung der Arbeit / Zeitung der Arbeit / Zeitung der Arbeit / Zeitung der Arbeit