Am 1. Mai 2022 starb Ivica Osim in Graz. In wenigen Tagen wäre der ehemalige Fußballspieler und ‑trainer 81 Jahre alt geworden. In Bosnien und Österreich hatte er schon zu Lebzeiten Legendenstatus.
Geboren wurde Ivan „Ivica“ Osim am 6. Mai 1941 in Sarajevo, damals Teil des kroatisch-faschistischen NDH-Staates, wenige Wochen nach Beginn des Balkanfeldzuges der Nazi-Wehrmacht. Er entstammte einer Arbeiterfamilie – der Vater Mihail war Eisenbahnmechaniker –, mit atheistischem und multiethnischem Hintergrund: Väterlicherseits mit slowenischen und deutschen Vorfahren, mütterlicherseits mit tschechischen und polnischen.
Seit seiner Jugend, ab 1954, spielte Osim Fußball für den FK Željezničar Sarajevo, einen Eisenbahnerklub. Bei den „Blauen“ aus der bosnischen Hauptstadt begann er auch 1959 seine Profikarriere. Daneben fand er Zeit für ein Mathematik- und Philosophiestudium. Bis 1970 erzielte er für Željo in 220 Ligaspielen 65 Tore. Er galt als technisch versiert und erhielt aufgrund seiner Körpergröße von 1,90 den Spitznahmen „Strauß“. In dieser Zeit wurde er auch zu 16 Matches in das Nationalteam Jugoslawiens einberufen, wo er acht Tore verbuchen konnte. Danach ging er nach Frankreich, wo er bis 1978 für Valenciennes, Sedan und Racing Strasbourg auflief.
Im Anschluss wechselte er direkt auf die Trainerbank seines Stammvereins. Er führte Željezničar Sarajevo – trotz scheinbar übermächtiger Gegner aus Belgrad, Zagreb und Split – bis 1986 zu zwei Vizemeistertiteln und ins Pokalfinale sowie sogar ins Semifinale des UEFA-Cups. Daneben betreute er das jugoslawische Olympiateam und gewann mit diesem bei den Sommerspielen 1984 in Los Angeles die Bronzemedaille. 1986 übernahm er die Nationalmannschaft seines Heimatlandes, die bei der Weltmeisterschaft 1990 das Viertelfinale erreichte. Für die Europameisterschaft 1992 qualifizierte sich Jugoslawien souverän – in einer Gruppe mit Österreich – und galt als Mitfavorit auf den Titel. Doch dann kam der Krieg. Osim trat am 22. Mai 1991 als Teamchef zurück, als Sarajevo von der jugoslawischen Bundesarmee beschossen wurde. Später erfolgte ohnedies der Ausschluss des zerfallenden Jugoslawiens vom Turnier, Nachrücker Dänemark gewann sensationell den EM-Titel.
Osim wurde Klubtrainer. 1992 gewann er mit Partizan Belgrad den nationalen Pokalbewerb, ebenso mit Panathinaikos Athen 1993 und 1994 in Griechenland, wo 1993 auch der Vizemeistertitel herausschaute. Im Juli 1994 wurde Ivica Osim, eher überraschend, als neuer Trainer des SK Sturm Graz präsentiert.
Die Steirer führte er zu zuvor ungekannten Erfolgen: Er formte aus vornehmlich Eigenbauspielern ein Spitzenteam, das für die „Blackies“ 1998 den ersten österreichischen Meistertitel der Vereinsgeschichte gewann und 1999 gleich den zweiten folgen ließ. Davor konnte Sturm unter Osims Leitung 1996 und 1997 schon den Cup-Titel holen, 1999 abermals und damit das Double. Dreimal qualifizierten sich die Grazer für die UEFA Champions League, 2001 kam man hierbei sogar unter die 16 besten Teams Europas – die internationalen Siege jener Zeit gegen Mannschaften wie Marseille, Monaco, Galatasaray, Panathinaikos, Feyenoord Rotterdam oder die Glasgow Rangers sind legendär. Selbiges gilt für das „magische Dreieck“ von Sturm Graz, das Ivica Vastić, Hannes Reinmayr und Mario Haas bildeten. Danach endete die überaus erfolgreiche Tätigkeit Osims in der Steiermark, wohl auch aufgrund von Differenzen mit dem eigenwilligen Sturm-Präsidenten Hannes Kartnig.
Ab 2003 trainierte Osim in Japan das Team von JEF United, mit dem er 2005 den Ligapokal gewann. 2006 wurde er zum Teamchef der japanischen Nationalmannschaft bestellt, die unter seiner Führung 2007 ins Halbfinale des Asien-Cups kam. Im November desselben Jahres erlitt Osim in Tokio einen Schlaganfall und lag zwei Wochen im Koma. Nach der Regeneration kehrte er nicht mehr auf die Trainerbank zurück.
Zum 100-jährigen Bestehen des SK Sturm Graz wurde Ivica Osim zum „Trainer des Jahrhunderts“ gewählt. Ebenso wie bei Željezničar Sarajevo gilt er bei den Steirern als Vereinsikone. Dies hat nicht nur mit den großen sportlichen Erfolgen zu tun, sondern auch mit seiner Persönlichkeit. Osim hatte einen philosophischen und kulturellen Zugang zum Fußball, er wandte sich – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen rund um den Zerfall Jugoslawiens – vehement gegen Nationalismus und Krieg und setzte auf Versöhnung, Integration und Vielfalt. Seine persönliche Bescheidenheit, seine Nachdenklichkeit und seine humanistische Weltsicht, aber auch sein feiner Humor machten ihn zu einer außergewöhnlichen Erscheinung der Fußballgeschichte. – Nun starb der große Spieler, Trainer, Denker und Mensch Ivica Osim im Alter von 80 Jahren in Graz – ausgerechnet am 113. Geburtstag des SK Sturm, bei dem er völlig zurecht für immer Legendenstatus behalten wird.
Quelle: ORF