HomeFeuilletonEin Besuch der Michaelerkirche in Wien 

Ein Besuch der Michaelerkirche in Wien 

Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Die Toten wollen ihr Leben zurück
Die Toten wollen ihre Sonne zurück
Die Hinkenden wollen ihre Beine zurück
Die Blinden wollen ihre Augen zurück
Alle wollen wir unsere Freiheit zurück.

Jannis Ritsos (1909–1990)

Auf dem Weg zum Eingangsportal

Die römisch-katholische Michaelerkirche liegt im Zentrum von Wien am Beginn des Kohlmarkts mit seinen die Armen der Welt verhöhnenden Flagshipstores internationaler Luxusmarken und ist eine sehr alte Kirche mit einigen bis in das 13. Jh. zurückreichenden Bestandteilen. Benannt nach dem mit seinen Heerscharen gegen Satan kämpfenden „Erzengel Michael“ spiegelt ihre Geschichte viele Fragestellungen und Infragestellungen wider, die sich den überlieferten prophetischen Aufgaben des Christentums in der Wirklichkeit der Wiener Gesellschaft gestellt haben und stellen. Der geschichtliche Jesus von Nazareth mit dem Beinamen Christus (gekreuzigt um 30 n. u. Z.) war im Empfinden des im Auftrag des US-Imperialismus wegen seines Einsatzes für die Armen ermordeten Christen Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989) „ein großer Mensch“, der als Wanderprediger mit den Armen solidarisch war, ihre Unterdrücker unmissverständlich angeklagt und sich für ihre Befreiung eingesetzt hat.

Seit 1923 wird die Michaelerkirche in der Nachfolge des Ordens der Barnabiten vom Orden der Salvatorianer betreut. Die Societas Divini Salvatoris (Gesellschaft des Göttlichen Heilands) ist 1881 von dem aus Baden stammenden römisch-katholischen Priester Franziskus Maria vom Kreuze Jordan (1848–1918) gegründet worden. Der lateinamerikanische, von der Befreiungstheologie inspirierte Papst Franziskus (*1936) hat ihn am 15. Mai 2021 als „Apostel ohne Grenzen“ „selig“ gesprochen. 1892 sind die Salvatorianer nach Wien gekommen und haben versucht, den christlichen Glauben im Wiener Arbeiterelend wie im Bezirk Favoriten zu verbreiten, indem sie mit den armen und unterdrückten Arbeiterfamilien lebten. Die dortige Pfarrkirche „Zu den heiligen Aposteln“ am Salvatorianerplatz 1 (erbaut 1900/1901) mag daran noch erinnern. Seit seiner Übersiedlung in das Zentrum ließ sich der Orden in Wien zur Teilhabe an der Macht verführen, wurde von ihr in Besitz genommen, änderte seine Verhaltensweisen und verlor die christliche Reflexion der Wirklichkeit. Im Heute aber erinnert ein „Salvatorianisches Manifest“, das auf einer großen Tafel im linken Seitenschiff der Kirche zum 100-Jahrjubiläum (1923–2023) aufgestellt ist, wieder an die Wurzeln dieser Ordensgemeinschaft. Die Solidarität des Ordens mit den Armen wird ebenso wie der Wille deklariert, sich gegen jene Entwicklungen zu stellen, „die erfülltes menschliches Leben verhindern, besonders gegen soziale Ungerechtigkeit, Armut und Gewalt in jeder Form“. 

Nachdenken in einer Seitenkapelle

Gleich nach dem Haupteingang rechts wird seit dem Mozartjahr 1991 mit zwei Bronzereliefs von Ben Siegel (*1966) an die Seelenmesse für Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791) mit ihrer Uraufführung der vollendeten Teile seines Requiems am 10. Dezember 1791 erinnert. Ben Siegel war seinem Lehrer Alfred Hrdlicka (1928–2009) bei der Fertigstellung der Erinnerungsskulptur für die von den deutschen Faschisten geköpfte Widerstandskämpferin Helene Kafka (Ordensschwester Restituta) in der Barbarakapelle des Wiener Stephansdomes behilflich (enthüllt am 27. Jai 2009). Neben dem Eingang in die kleine Turmkapelle rechts nach dem Haupteingang (Südliches Seitenschiff) ist ein renoviertes Fresko des „Erzengels Michael“ (um 1350) zu sehen, in der Turmkapelle ist eine noch von Engelbert Dollfuß (1892–1934) vor seiner Ermordung (25. Juli 1934) gewünschte Marienstatue auf einem Altar aus kostbarem Marmor mit der Inschrift „Unbefleckte Jungfrau – bitte für Österreich!“, ihr gegenüber ein vom gewiss nicht progressiven Bildhauer Hans Schwathe (1870–1950) geschaffenes Halbrelief eines betenden Engelbert Dollfuß. Diese beiden Kunstgegenstände sind keine Botschaften zur Befreiung des Menschen. Die Dollfuß-Büste ist inmitten zweier restaurierter Fresken aus dem beginnenden 14. Jahrhundert. Das 1854 von Papst Pius IX. (1792–1878, Papst seit 1846) erlassene Dogma von der „unbefleckten Empfängnis Mariens“ war weit davon entfernt, gläubige Christen auf die weibliche, das Leben weitergebende Dimension des Menschseins hinzuführen. Papst Pius IX., für den die Freiheit des Gewissens „Wahnwitz“ war, wollte vielmehr die absterbende katholisch-feudale Ordnung mit einem mütterlichen Mythos stabilisieren. Demonstrativ an der ideologischen Front des Austrofaschismus haben die Salvatorianer mit Provinzial Theophilus Muth (1870–1939) 1929 bei der Fronleichnamsprozession in Wien / Kaisermühlen zwei bewaffnete Heimwehr-Bataillone und Abordnungen des deutschen Wehrverbandes „Stahlhelm“ mitmarschieren lassen. Dieses Verhalten hat nichts, gar nichts mit den Ursprüngen des Willens und des Lebens von Jesus Christus zu tun. Die betenden Hände von Dollfuß machen dessen mörderische Gewalt gegen die österreichische Arbeiterbewegung nicht vergessen. Bruno Kreisky (1911–1990) hat noch 1982 an diese fatale Parteinahme der römisch- katholischen Kirche erinnert. Den Altar hat Kardinal-Erzbischof Theodor Innitzer (1875–1955) am 29. September 1936 in der Dollfuß-Kapelle, wie die Turmkapelle in diesen Jahren benannt wurde, geweiht. An der rechten Wand der Turmkapelle ist seit 1951 ein Holzkreuz mit Inschrift aufgestellt: „Dem Andenken der Österreicher / Ermordet und Gestorben im K. Z. Dachau / Für Freiheit Recht u. Menschlichkeit / Gewidmet von ihren österreichischen Kameraden“. Die Turmkapelle war wie die ganze Kirche keine Festung christlichen Glaubens, sie ist vielmehr eine Örtlichkeit jener römisch-katholischen Kirche, die an der weltlichen Macht teilhaben wollte. 

Über das Fastentuch des von Jannis Ritsos inspirierten Jakob Kirchmayr am Hauptaltar

Anlass unseres Besuchs in der Michaelkirche ist ein Fastentuch, das in diesem Jahr der österreichische Künstler Jakob Kirchmayr (*1975) auf Einladung des Alfred Hrdlicka verbundenen Galeristen Ernst Hilger (*1950) mit dem Titel „Die Spuren des Feuers“ gestaltet hat. Großflächige Fastentücher (Hungertücher), welche die oft prächtigen Hochaltäre verhüllen sollen, sind seit Jahrhunderten und weltweit Ausdruck von frommer Teilhabe an der Leidensgeschichte von Jesus Christus als Gottes- und Menschensohn. Im Museum der Kirche zum Heiligen Kreuz im sächsischen Zittau wird ein Hungertuch mit 90 Bildern aus dem Jahre 1472 ausgestellt. In bewusster Verallgemeinerung wird immer wieder die Situation des Leids von Armen in der Welt angesprochen und zu gelebter Solidarität aufgerufen. In Münster haben 1992 katholische Christen eine „Misereor-Fastenaktion“ mit einem vom argentinischen Menschenrechtsaktivisten und Friedensnobelpreisträger Adolfo Peréz Esquivel (*1931) entworfenes „Hungertuch“ für die Lateinamerikahilfe zu Wege gebracht. 

Auf seiner Website erzählt Jakob Kirchmayr, dass er beim Nachdenken über die Dialektik von Reich und Arm in unserem barbarischen kapitalistischen System besonders vom griechischen Poeten Jannis Ritsos (1909–1990) berührt worden ist. Jannis Ritsos war älterer Wegbegleiter von Mikis Theodorakis (1925–2021) und zeitlebens bekennender Kommunist. In seinem Epitaphios beginnt er mit der Klage einer Mutter auf ihren Sohn, der in Saloniki 1936 als streikender Arbeiter ermordet worden ist. Diese Klage wird zur Anklage und zu einem revolutionären Weckruf. Der Epitaphios von Jannis Ritsos wurde den der griechischen faschistischen Diktatur nach dem Vorbild der deutschen Faschisten verbrannt. Ritsos, der 1948 bis 1952 und 1967 bis 1974 von den griechischen Herrschenden von einem KZ in das andere geschleppt wurde, hat 1977 den nach Wladimir I. Lenin (1870–1924) benannten Friedenspreis in Moskau erhalten. Albert Einstein (1879–1955) hat den in der Gaunersprache der westlichen Massenmedien als Massenmörder denunzierten Lenin als „Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit“ geehrt. 1984 (21. Mai) hat Jannis Ritsos das Ehrendoktorat der Karl-Marx-Universität Leipzig erhalten, einer Universität, die mit dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik Karl Marx (1818–1883) durch demonstrative Ablegung seines Namens geehrt hat. Es hat für die Mehrheit der deutschen Universitätsintelligenz nur wenig gebraucht, um sich der wieder erstandenen deutschen Staatsdoktrin mit ihrer Gier nach Macht, Profit, Rüstung und Krieg unterzuordnen. 

Über Fasten

Zum Fasten gezwungen sind die hungernden Kinder auf dem afrikanischen Kontinent oder in dem von Israel umzäunten und niederbombardierten Palästina. Das Hungern und Dürsten von 2,3 Millionen des wehrlosen palästinensischen Volkes wird von Israel als Kriegswaffe eingesetzt (Human Rights Watch vom 26. Februar 2024). Nicht gezwungen zum Fasten sind jene, die in den Vorgaben ihrer religiösen, medizinischen oder sozialpolitischen Messiasse ein „Opium“ sehen. In den abrahamitischen Religionen ist die konkrete Praxis des religiösen Pflichtfastens für den Einzelnen oder die Gemeinschaft unterschiedlich, vom Ansatz her aber immer eine glaubensmotivierte, zur Hoffnung auf die Rückkehr zum angenommenen Gott basierte Handlung. Das Fasten als Protestform gegen Gewalt oder für Aufmerksamkeit ist anlassbezogen und wird individuell oder in Gruppen praktiziert. Der vietnamesische Buddhist Thích Trí Quang (1923–2019) hat 1966 hundert Tage gefastet, um gegen den US-Krieg und die volksfeindliche Politik der Saigoner Marionettenregierung zu protestieren. Im Februar 1967 fasteten tausende von US-Katholiken drei Tage aus Protest gegen die US-Kriegsverbrechen. 

In der römisch-katholischen Kirche ist die Fastenzeit kalendarisch mit vierzig Tagen vor Ostern festgeschrieben. Jesus von Nazareth ging nach dem Matthäusevangelium (4, 2) vierzig Tage und Nächte zum Fasten in die Wüste und sagte hernach dem Satan: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“. Es ist dieses Evangelium, das Papst Franziskus in der Gegenwart stimuliert, die Gemeinsamkeit des Fastens als Weg des Friedens, der Versöhnung und der Geschwisterlichkeit in den Vordergrund zu stellen. In seinem „Angelus-Gebet“ zu Mittag des 18. Februar 2024 sagt dieser Papst, es sei jeder eingeladen „in die Wüste zu gehen“, „d. h. in die Stille, in die innere Welt, in das Hören auf das Herz, in Kontakt mit der Wahrheit“. Zu dieser Wahrheit gehört das Denken an die Kinder in Palästina, aus dem dann Gefühl und Handeln von Solidarität erwachen wird. Der Papst nennt Begierde, Eitelkeit und Gier, die es in der Fastenzeit zu korrigieren gilt. Tatsächlich beherrschen diese „wilden Tiere“ die Menschheit und nur eine neue Gesellschaftsordnung wird sich davon befreien.

„Spuren des Feuers“

Das 6 x 12 Meter sich ausdehnende Fastentuch „Spuren des Feuers“ in der Michaelerkirche, so der aufliegende Folder mit dem Text von Jakob Kirchmayr, ist ein skulpturales Bildwerk aus etwa zwanzig verbrannten, geräucherten, mit Asche, Erde und Kohle abgeriebenen, dem Regen ausgesetzten und zusammengenähten und da und dort zerrissenen Baumwolltüchern. Für Jakob Kirchmayr selbst ist die Arbeit „zwar etwas dystopisch“, bildet aber formal und inhaltlich die Barbarei der Gegenwart ab. Der Künstler war, wie er schreibt, „beeinflusst von düsteren Zukunftsprognosen, den Wirtschaftsstrategien der großen Konzerne, der fortschreitenden globalen Zerstörung der Natur, sowie den grauenhaften kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Zeit“. Die Welt der Menschen bleibt durch die realistische Kunst dieses Fastentuches von Jakob Kirchmayr Welt der Menschen und unterstützt die christliche und marxistische Kritik an der von den imperialistischen Eliten verursachten lebensbedrohlichen Krise.

Literaturhinweise:

Martin Kolozs / Robert Passini / Peter van Meijl SDS (Hrsg.): Erweckte Begeisterung. 100 Jahre Österreichische Provinz der Salvatorianer (1923–2023). Im Auftrag des Provinzialrates der österreichischen Pro-Provinz. Wagner Verlag Linz. Linz 2023. 

Michaelerkirche. St. Michaels Church. Text: Gustav Bergmeier. Engl. Übersetzung: Craig Dillon. Fotos: Josef Leithner. Layout: Monika-Maria Leithner. Hg. Röm. Kath. Pfarramt St. Michael, Habsburgerasse 12, 1010 Wien. The Best Kunstverlag. Wels 1. A. 2024.

JAKOB KIRCHMAYR – jakobkirchmayr​.com

Jon Sobrino: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund. Ignatianische Impulse. Echter Verlag Würzburg 2007 (hier S. 21 f.)

Gerhard Oberkofler: Gibt es eine coincidentia oppositorum von Marxismus und Theologie der Befreiung? Von der Restituta-Skulptur des marxistischen Kunstschaffenden Alfred Hrdlicka angeregte Notizen zu einem Vortragsmanuskript (1972) von Konrad Farner über Atheismus. Leibniz Online, Nr. 23 (2016). 

Konrad Farner: Kunst als Engagement. Zehn ausgewählte Essays. Luchterhand. Darmstadt und Neuwied 1973. 

Jannis Ritsos: Gedichte. Aus dem Neugriechischen von Vagelis Tsakiridis. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1968 (S. 25).

Jannis Ritsos: Gedichte. Ausgewählt, aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Peter Wedekind. Suhrkamp Verlag Berlin 1991 (S.15). 

Artikel Fasten in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage hg. von Hans Dieter Betz / Don S. Browning / Bernd Janowski / Eberhard Jüngel. Band 3. Mohr Siebeck Tübingen 2002, Sp. 40-Sp. 47.

Artikel Fasten in: Theologische Realenzyklopädie. Band IX. Walter de Gruyter / Berlin / New York 1983, S. 41–59.

Rechercheportal der Österreichischen Nationalbibliothek. 

- Advertisment -spot_img
- Advertisment -spot_img

MEIST GELESEN