Anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung des Kommunistischen Jugendverbands Chinas hat das Informationsbüro des Staatsrats der Volksrepublik China ein Weißbuch unter dem Titel „Die Jugend Chinas im neuen Zeitalter“ publiziert.
Hehre Ideale
Im vorgeblichen Land der Mitte zwischen Fünfjahresplan und Marktwirtschaft werden hohe, durchwegs humanistische Ideale verlautbart, entwickelt und gefördert. China zielt auf eine „globale Gemeinschaft einer geteilten Zukunft“ ab („global community of shared future“, Seite 65). Eine Losung, welche internationalen Widerhall findet und inzwischen Eingang in UNO-Dokumente fand. Der patriotische Beitrag, der im Weißbuch über die chinesische Jugend berichtet und von ihr erwartet wird (4), um den „chinesischen Traum der nationalen Verjüngung“ (6) zu erfüllen, kommt – jedenfalls den Worten nach – ohne nationalen Chauvinismus aus. Die chinesische Jugend arbeite mit der Jugend der Welt an der globalen Gemeinschaft der geteilten Zukunft und trete für Frieden, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit ein, welche die gemeinsamen Werte der Menschheit seien, um eine bessere Zukunft für alle zu schaffen (52f). Die sozialistischen Kernwerte wiederum seien Prosperität, Demokratie, Zuvorkommenheit, Harmonie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit, Patriotismus, Hingabe, Gutgläubigkeit und Freundschaftlichkeit.
Da rund um den Globus Chaos, Zwietracht und Ungerechtigkeit eskalieren, sei die Menschheit an die Weggabelung zwischen Frieden und Krieg, Licht und Dunkelheit, Fortschritt und Rückschritt gelangt (61). Wie die Menschheit an diese Weggabelung gelangt sein könnte, wird hingegen nicht benannt. Es scheint ihr eher einfach passiert zu sein, weshalb man nun wichtige Entscheidungen treffen müsse. Einen Zusammenhang zwischen den gegensätzlichen Wegen und sozioökonomischen System gibt es nach Maßgabe dieses Weißbuchs scheinbar nicht. Stattdessen rufe das Zeitalter die Jugend zur gemeinschaftlichen, lernwilligen Zusammenarbeit auf Augenhöhe auf, um die angestrebte Gemeinschaft der geteilten Zukunft aufzubauen (61).
Auch der Rekurs auf Marxismus, Kommunismus und Sozialismus fehlt nicht – diese sind hier allerdings nur mit chinesischer Charakteristik zu haben, während von ihrer allgemeinen Bedeutung, ihren wissenschaftlichen Grundlagen und Konsequenzen keine Rede ist (4). Vom Leninismus wird nur in Bezug auf die Vergangenheit gesprochen, als ihm in der Gründungszeit der kommunistischen Bewegung Chinas noch eine zentrale Rolle eingeräumt wurde (2).
Die Verlautbarung hoher Ideale durch die chinesische Führung mag umso verlockender sein, wenn man sich vor Augen hält, dass sich die Lebensbedingungen für einen großen Teil der chinesischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten tatsächlich Jahr für Jahr verbessert haben. Die optimistischen Formulierungen im Weißbuch sind daher nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern dürften eine gewisse Grundlage in einem real vorhandenen Optimismus im Volk haben. In diesem Sinn wird im Weißbuch auch von einer Umfrage aus dem Jahr 2020 berichtet, nach welcher eine Mehrheit der chinesischen Jugend den Sozialismus chinesischer Charakteristik mit ganzem Herzen unterstütze und voller Zuversicht über die Verjüngung der chinesischen Nation sei (25). Bei diesem Optimismus handelt es sich um einen Trend, den man sich in unseren westlichen Ländern mitunter nicht recht vorstellen kann, nachdem wir uns hierzulande bereits daran gewöhnt haben, dass eine „Reform“ üblicherweise Verschlechterungen bringt. Ein vergleichbares Weißbuch wäre bei uns daher nicht nur realitätsfern, sondern völlig undenkbar. Der irrationale Niedergangskampf der westlichen Hegemonie sowie die im Volk um sich greifende Existenzangst und Perspektivenlosigkeit widerspiegeln sich stattdessen in immer neuen dystopischen Szenarien, die erst popkulturell ausgekundschaftet wurden und inzwischen breiten medialen Anklang finden. Das aufstrebende China hat das alles nicht nötig, sondern kann sich mit hehren Idealen im allgemein menschlichen Interesse schmücken.
Plan versus Markt
Doch auch in China gibt es zwischen Plan und Markt in Wahrheit keine Mitte. Auch in China wird stattdessen ein Kampf zwischen zwei Wirtschaftsordnungen gefochten. Spätestens im Zuge der Parteiführung unter Deng Xiaoping wurde dieser Kampf in die Kommunistische Partei Chinas integriert, anstatt sich als Partei klar zugunsten der Ausweitung des gesellschaftlichen Eigentums und der zunehmenden Durchdringung der Wirtschaft durch wissenschaftliche Planung zu positionieren. Im Jahr 1993 schließlich wurde die chinesische Verfassung um- und die Marktwirtschaft statt der Planwirtschaft festgeschrieben.
Auch im vorliegenden Weißbuch widerspiegelt sich, dass die chinesische Führung die Marktwirtschaft nicht etwa nur als notwendiges Mittel zum Zweck verstehen, wie es manch verzweifelte Linke im Westen behaupten, die die Entwicklung in China in die Nähe der sowjetischen NÖP der 1920er Jahre rücken. Stattdessen wird stolz bemerkt, dass die ökonomische Entwicklung die Vitalität der Marktteilnehmer steigere (“As the socialist market economy develops, the vitality of market players increases”, 14). In der Jugend wiederum sei der Effekt zu beobachten, dass die jungen Menschen in ihrer Berufswahl zunehmend divers und marktorientiert seien (13).
Auf der Basis dieser ökonomischen Entwicklungstendenzen und ihrer offiziellen Bewertung scheinen die mannigfaltigen verlautbarten allgemein-menschlichen Ideale nicht zuletzt als Rückzugsort für jene progressiven Kräfte zu dienen, die wissen, dass man sich diesen Idealen letztlich nur auf anderer ökonomischer Basis annähern wird können: Auf Basis von gesellschaftlichem Eigentum und zentraler wissenschaftlicher Planung der Produktion und Distribution. Privateigentum und Marktwirtschaft hingegen laufen jeglichem humanistischen Ideal unweigerlich entgegen – egal wie viele Mitglieder eine sich kommunistisch nennende Partei haben mag.
Im Weißbuch ist auch vom zweiten Jahrhundertziel der KP Chinas die Rede, wonach bis zum hundertjährigen Jubiläum der Gründung der Volksrepublik im Jahr 2049 eine moderne sozialistische Gesellschaft zu schaffen sei. Die chinesische Jugend arbeite hart an der Realisierung dieses Vorhabens (38). Welche ökonomische Basis, welche Eigentumsverhältnisse und welche grundlegende Wirtschaftsordnung – Plan oder Markt – diese Gesellschaft im Jahr 2049 haben wird, scheint jedoch noch nicht ausgemacht zu sein.
Quellen: CGTN / english.scio.gov.cn
Die Seitenangaben basieren auf der von CGTN verlinkten pdf-Datei
Die Übersetzung der offiziellen englischsprachigen Version ins Deutsche erfolgte durch die Redaktion der ZdA