Saqqez/Teheran. 40 Tage nach dem Mord an der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini, fand die offizielle Begräbniszeremonie in ihrer Heimatstadt Saqqez, der mehrheitlich kurdisch bewohnten Stadt in der Provinz Kurdistan statt. Trotz der Versuche des Regimes, den Zugang zur Stadt abzuriegeln und die Begräbniszeremonie zu untersagen, konnte die Zeremonie stattfinden. Im iranischen Kulturraum sowie unter schiitischen Muslimen wird am 40. Todestag einer Person das Grab besucht und eine Zeremonie gefeiert, was als „Chehelom“ bezeichnet wird. Trotz der wochenlangen Internetsperren konnten Videos vor Ort aufgenommen werden, die zeigten, wie Tausende Menschen auf den Autobahnen aus der Umgebung in Richtung Saqqez und dem Aychi-Friedhof marschierten, teilweise auf Autobahnen.
Mindestens 10.000 Menschen beteiligten sich an der Chehelom-Zeremonie für die 22-Jährige Mahsa Amini. Auch iranische Nachrichtenbehörden bestätigten, dass Tränengas und Bereitschaftspolizisten eingesetzt wurden, um eine kleine Gruppe gewaltbereiter Demonstranten unter Kontrolle zu bringen. Die regimetreue Nachrichtenagentur „Fars“ bestätigte, dass ca. 2000 Menschen in der Innenstadt von Saqqez Richtung Magistrat aufbrachen und regimekritische Parolen wie „Frau, Leben, Freiheit“ skandierten. Zudem kam es zu Streiks von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Ladenschließungen von kleinen Ladenbesitzern in den Basaren der nordwestlichen Städte Saqqez, Divandarreh, Marivan, Kamyaran und Sanandaj sowie in Ravanshar und Javanrud in der Provinz Kermanschah.
Volkskämpfe gehen landesweit trotz Spaltungsversuche weiter
Dennoch, wie auch die kommunistische Tudeh-Partei sowie Demonstrantinnen im Iran in Parolen, Erklärungen und Videobotschaften feststellen, sind die Volkskämpfe keineswegs auf die kurdisch geprägten Regionen beschränkt oder ein Ausdruck ethnischer Auseinandersetzungen. Das Regime versucht inmitten ihrer jahrelangen neoliberalen Reformen, der explodierenden Teuerungswelle und dem teilweisen Kollaps des Gesundheitssystems in der Pandemie, von den sozialen Ursachen sowie der Diskriminierung durch die frauenfeindliche, islamistische Sittengesetzgebung abzulenken. Doch weder konnten separatistische, US-hörige Gruppierungen, die es ohne jeden Zweifel gibt, noch andere subversive Kräfte in Allianz mit dem US-Imperialismus es schaffen, die Führung in den Kämpfen zu übernehmen. Die Protestparolen werden landesweit einheitlich und bemerkenswerterweise zum größten Teil auf Persisch skandiert, selbst im von Belutschen bewohnten „fernen Osten“ Irans liefern sich Demonstranten und Regimeeinheiten teils blutige Kämpfe.
Schülerinnen erleben massive Gewalt – und wehren sich
Die organisatorisch schlagfertigsten Epizentren der Volkskämpfe sind die Mädchenschulen ab der Sekundarstufe 2 – im Iran werden von da an Mädchen und Jungen streng in den Bildungseinrichtungen bis zur Hochschule getrennt. Gerade dort spitzen sich die Kämpfe zu. Landesweit wurden mehrere Mädchenschulen und Hochschulen geschlossen, um Streiks entgegenzuwirken. Die Schulen, die (wieder) geöffnet wurden, sind Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen mit den Repressionsorganen wie der Bereitschaftspolizei, den Revolutionsgarden sowie regimetreuen Schulleitern in größeren Städten wie Teheran, Isfahan und Schiras. In einer Mädchenschule im Teheraner Stadtviertel Mortazavi stürmten Polizeieinheiten die Schule und zwangen die Schülerinnen sich auszuziehen, angeblich wegen des verbotenen Besitzes von Handys im Schulgebäude. Laut Quellen vor Ort sollen mehrere Schülerinnen an Protesten beteiligt gewesen sein und von der Schule aus wurden nicht nur regimekritische Parolen gerufen, sondern auch Mullahs beleidigt. Als Reaktion darauf lieferten sich die Eltern der betroffenen Schülerinnen und Demonstranten heftige Kämpfe mit der Polizei. Das Bildungsministerium bestätigt den Polizeieinsatz, was in gewissem Widerspruch zu Aussagen der Teheraner Polizei steht, die den Einsatz an der Schule leugneten. Laut dem Bildungsministerium gäbe es keine Verletzten oder Verhafteten, sondern nur Fälle von Schülerinnen, die vor Aufregung in Ohnmacht gefallen seien.
Studenten besetzen Universitäten. Dialogversuche der Regierung scheitern.
Der Sprecher der Regierung Ebrahim Raisis, des aktuellen Präsidenten und notorischen Mittäters der Massaker 1981, als tausende Kommunisten, Sozialisten sowie andere politische Gefangenen ermordet wurden, Ali Bahador Jahromi, versuchte im Auftrag des Regimes an den Universitäten zu den Studenten zu sprechen. Am Montag musste sein Vortrag an der Khajeh Nasr Universität in Teheran wegen der Studentenproteste abgebrochen werden. Selbst in Qom, dem religiösen Zentrum des schiitischen Islams im Iran, erzwangen Studenten der hiesigen Universität den Abbruch des sogenannten „Dialogversuchs“. Jahromi bezeichnete daraufhin die Studierenden als „Diktatoren“, welche wiederum lautstark diesen als „Mörder“ beschimpften und ihn aufforderten „zu verschwinden“.
An der Elite-Universität Scharif, welche mehrfach schon von Regimekräften mit Repression überzogen wurde, sowie in der konservativen Stadt Maschad konfrontierten Studierende Sicherheitskräfte am Campus, weil sie die jahrzehntelange Geschlechtertrennung eigenmächtig aufgehoben haben: in Cafeterias bzw. in ausgebreiteten Tischtüchern am Campus organisierten Studenten und Studentinnen gemischtgeschlechtliche Mahlzeiten als Zeichen gegen die islamistischen Sittengesetze.
Regime kündigt hartes Vorgehen an
In vielen Berichten spiegelt sich eine gewisse Überforderung bis Zurückhaltung des Regimes wider, trotz der Folterungen, Prügeleien und des Gebrauchs von Schusswaffen bei Protesten von Seiten des Regimes. Der Teheraner Oberstaatsanwalt Ali Salehi kündigte am Montag an, dass 315 wegen ihrer Beteiligung an den Protesten sich vor Gericht wegen „Verschwörung gegen die nationale Sicherheit“ verantworten müssen. Vier Personen wird „Moharebeh“ vorgeworfen: ein islamischer Terminus, der so viel bedeutet wie „Krieg gegen den Glauben führen“. Nach iranischer Rechtsprechung ist hierfür die Todesstrafe anzuwenden.
Quellen: Al-Monitor / Tudeh / Al-Monitor / TheGuardian