Der polnische Verfassungsgerichtshof hat ein faktisches Abtreibungsverbot durchgesetzt. Unterdessen finden – teils unter großen gesundheitlichen Gefahren für die betroffenen Frauen – 200.000 illegale Abtreibungen pro Jahr statt.
Warschau. Im Polen des Jahres 2020 regiert die finsterste Reaktion, gespeist aus einem Gemisch von frömmelnden Politikern und rechtskatholischen Stoßtrupps. In dieselbe Logik wie das angestrebte Verbot kommunistischer Betätigung fällt auch der Versuch, die Frauen zu Objekten zu degradieren, denen keine Entscheidung über den eigenen Körper zusteht.
Die Wut der Frauen entlud sich in der Nacht auf Freitag vor dem Wohnsitz des Vizepremiers Jaroslaw Kaczynski. Es flogen Steine und Eier. Die Polizei setzte Tränengas ein und nahm mehrere Personen fest. Auch vor dem Parteisitz der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und dem Verfassungsgericht kam es zu Protesten.
Denn dieses Gericht in Polen hatte am Donnerstag das bisherige Gesetz, das eine Abtreibung bei einer schweren Fehlbildung erlaubt, als verfassungswidrig eingestuft. Lediglich bei Vergewaltigung, Inzest oder Lebensgefahr für die schwangere Frau dürfen noch legale Abtreibungen vorgenommen werden.
Faktisches Abtreibungsverbot
„Damit ist es faktisch ein totales Abtreibungsverbot. Bei einer Vergewaltigung traut sich kaum eine Frau, dies zu melden“ so Anna Karaszewska, Vorsitzende des Interessenverbands „Kongress der Frauen“ auf Anfrage der Netzzeitung „telepolis“. Karaszewska sieht die grundlegenden Rechte in Polen gefährdet. „Frauen werden nicht wie Menschen behandelt.“
Die Verschärfung des Abtreibungsrechts war ein Wahlversprechen, dass die PiS unter ihrem Chef Jaroslaw Kaczynski dem rechten Flügel seiner Wählerschaft, rechtskatholischen Laienvereinigungen sowie dem Klerus selbst machte. Dieser gab darauf 2015 eindeutige Wahlempfehlungen von der Kanzel. Doch der erste Anlauf scheiterte.
Im Sommer 2016 forderte eine Initiative der internationalen Stiftung „Pro Life“ ein Totalverbot, das auch den Abbruch nach einer Vergewaltigung und Gefährdung der Mutter unter Strafe stellen lassen wollte. Darauf demonstrierten an einem „schwarzen Dienstag“ im Oktober knapp 100.000 Personen landesweit.
Der einflussreiche Jaroslaw Kaczynski, der den Druck der Straße generell fürchtete, ließ gegen die Novelle abstimmen. Er selbst befürwortet ein Abtreibungsverbot auch bei Fehlbildung, jedoch nicht bei Vergewaltigung (!). Daraufhin wurde ein Abtreibungsverbot bei Fehlentwicklung des Fötus entworfen, aber auch hier ließen Proteste im Frühjahr 2018 die PiS zögern, darüber abzustimmen.
Somit wurde die Entscheidung dem Verfassungsgericht zugeschoben, das zu einem großen Teil aus regierungsnahen Richtern besteht. Die treibende Kraft in Sachen Verbot war und ist „Ordo Iuris“, eine rechtskatholische Laienorganisation, welche sich auch dem Kampf gegen sexuelle Minderheiten verschrieben hat. Die regierungskritische Zeitung Gazeta Wyborcza glaubt, dass diese Vereinigung weiter Druck machen wird, bis die noch bestehenden Ausnahmefälle, die eine Abtreibung erlauben, ebenfalls aufgehoben werden.
Da die Corona-Fallzahlen in Polen durch die Decke gehen, in dem Land mit vierzig Millionen Einwohnern wurden am Freitag über 13.000 Neuinfizierten gemeldet, soll das Urteil von den Schwierigkeiten der Regierung ablenken, die Epidemie einzudämmen, glauben Kritiker. Auch ist nun das Demonstrationsrecht eingeschränkt, das Land steht vor einem Lockdown.
Jährlich 200.000 illegale Abtreibungen
Umfrageergebnisse widersprechen sich zumeist deutlich nach Auftraggeber, jedoch scheint die größte Gruppe diejenige zu sein, die das Abtreibungsrecht beibehalten will, das 1993 als Kompromiss verabschiedet wurde. Für die kommenden Tage sind weitere Proteste in Warschau geplant, so erneut vor Kaczynskis Wohnhaus und der PiS-Zentrale aber auch in vielen weiteren Städten.
Langfristig will der „Kongress der Frauen“, die größte Frauenorganisation Polens, für mehr staatsbürgerliches Bewusstsein sorgen, damit die „fundamentalistische Regierung abgewählt wird“, wie sich deren Vorsitzende Anna Karaszewska ausdrückt.
In Polen werden nach Angaben von Frauenorganisationen jährlich 200.000 illegale Abtreibungen vorgenommen, mittellose Frauen nutzen dazu Kleiderbügel aus Draht, die bei Demonstrationen gegen das Abtreibungsverbot als Protest in die Höhe gehoben werden. Wohlhabendere Polinnen fahren ins säkulär geprägte Tschechien, wo ein liberales Abtreibungsrecht herrscht.
Quelle: heise.de/telepolis