Die Art und Weise des Ausscheidens der italienischen Nationalmannschaft bei der diesjährigen Fußball-EM hat eine breite Debatte über die Ursachen ausgelöst, wobei Trainerentscheidungen und der Mangel an talentierten Stürmern kritisiert wurden. Als wesentlicher Faktor erweist sich schlussendlich die hohe finanzielle Belastung für den Nachwuchsfußball, die viele Familien abschreckt und den Zugang zum Sport erschwert, wodurch neue Talente gar nicht erst entdeckt werden können.
Rom. Das sehr frühe Ausscheiden der italienischen Nationalmannschaft bei der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft hat viele Fußballfans verwundert. In Italien selbst wurde der Auftritt der elf (zu) oft wechselnden Azzurri als die schlechteste Performance aller Zeiten wahrgenommen. In die Niederlagenanalyse wurde viel Druckpapier verschwendet, die Meinungen gehen weit auseinander und reichen bis zum Generationenkonflikt. Eine triftige Antwort, die der Vernunft Rechnung trägt, fand die Federazione Italiana Giuoco Calcio (FIGC) nun sogar selbst (vielleicht auch, um von den eigenen Fehlern abzulenken).
Spalletti im Fokus der Kritik
Fans, Expertinnen und Experten und auch selbsternannte Experten fanden viele Kritikpunkte, die sich für sie als maßgeblich für die italienische Niederlage erwiesen haben. Viele Fehlentscheidungen des Trainers Luciano Spalletti, der bis vor kurzem über ein hohes Ansehen verfügen konnte, namentlich durch den gewonnenen Scudetto von 2022/2023 mit der Mannschaft SSC Napoli – dem ersten Scudetto seit mehr als 30 Jahren und im Prinzip seit Maradona, sollen ausschlaggebend gewesen sein: Er hätte zu einem großen Teil die falschen Spieler für diese EM einberufen, er hätte sich nicht an den Inter-Block (aktueller Scudetto-Gewinner) halten sollen ohne die Taktik an deren Spielweise anzupassen, häufige Spielerwechsel und der fehlende Gruppenzusammenhalt gingen zu einem großen Teil auch auf sein Konto.
Spalletti selbst nahm indes auch die Schuld für das frühe Ausscheiden auf seine Kappe, wiederholte dabei aber oft, dass er nur zehn Spiele mit dieser Mannschaft zur Verfügung hatte, um daraus zu lernen und Schlüsse zu ziehen, während andere Trainer bereits zwischen 20 und 30 Spiele mit ihren Mannschaften absolviert hätten. Einmütigkeit herrscht in der Kritik der Person Spalletti jedoch keineswegs, denn ein großer Teil der Expertinnen und Experten (nicht unbedingt der normalen Fans) halten weiterhin an ihm fest und wollen ihn als Trainer der italienischen Nationalmannschaft sehen, etwa auch, um die begangenen Fehler auszubügeln oder aber um nicht noch einmal alles von neuem mit einem anderen Trainer beginnen zu lassen. Der Trainer, der Italien zuletzt siegreich durch die EM geführt hat, Roberto Mancini, wechselte abrupt im August 2023 (!) wegen beträchtlich besserer Bezahlung nach Saudi Arabien.
Spieler sind schuld
Abgesehen vom Torhüter Donnarumma (und gelegentlich Verteidiger Riccardo Calafiori) gelangten auch die einzelnen eingesetzten Spieler ins Fadenkreuz aufgebrachter und enttäuschter Fans sowie offizieller Sportzeitschriften, die sich anschickten, ähnliche Nicht-genügend-Bewertungen der jeweiligen Performances abzugeben. Insgesamt aber, und hier herrscht Einigkeit, sei konstatierbar, dass es dem italienischen Fußball an wirklich hervorragenden Stürmern, wie man sie etwa aus früheren und sogar rezenten Zeiten noch kennt, mangelt – schnelles Namedropping von vor gar nicht allzu langer Zeit: Del Piero, Totti, Vieri, R. Baggio, Toni usw. werden ins Feld geführt, um an den früheren Ruhm anzuknüpfen und das Fehlen solcher Spieler zu verdeutlichen, selbst dem nicht besonders hoch angesehenen Mario Balotelli wird inzwischen ab und zu nachgetrauert. Scamacca, Zaccagni, El Shaarawy und nicht zuletzt F. Chiesa konnten mit den früheren Legenden nicht ansatzweise mithalten. Den Spielern, so im Auge der meisten Betrachterinnen und Betrachter, fehlte es (vielleicht auch nur vermeintlich) am nötigen Talent, viel mehr aber noch am Gefühl des Gruppenzusammenhalts und an der nötigen Motivation. Nicht erst im Spiel gegen die Schweiz schienen sie ausgelaugt, demotiviert, fehl am Platz oder, wie es Trapattoni einmal ausgedrückt hat, „wie eine Flasche leer“.
Dass der italienische Fußball schon seit längerem in einer Krise steckt und sich das Augenmerk neuer Fußballfans und v.a. der Investoren weg von der glorreichen Serie‑A und hin zu Premier League und spanische Liga verschoben hat, zeigen auch die Ergebnisse der Champions League, wo die verbliebenen italienischen Clubs SSC Napoli, Inter und Lazio zuletzt schon im Achtelfinale ausgeschieden sind (wobei anzumerken ist, dass der UEFA-Cup immerhin von Atalanta gewonnen wurde). Juventus war indes wegen eines nachträglichen Punkteabzugs nicht Teil der Champions League und konnte somit auch nicht das Niveau der italienischen Mannschaften insgesamt heben.
Andere Völker, andere Sitten?
Dies und andere Argumente führen zur Frage, wie es zum Niedergang des italienischen Fußballs gekommen sei. Sehr oft wird die Frage zu einem Generationenproblem vereinfacht: Früher sei Fußball eben auch der Nationalsport Italiens gewesen. Die Konzepte von Italien als Fanvolk und Italien als Spielervolk seien dabei strikt zu trennen, denn italienische Fußballfans gibt es ja noch genug. In südamerikanischen Favelas, Slums und allgemein vernachlässigten Vierteln sei es demgegenüber auch heutzutage noch gang und gebe, dass man Kinder zu jeder Tageszeit auf den Straßen beim Fußballspielen beobachten könne, mit allem, was ihnen irgendwie als Ball dienen kann, so wie Maradona ja auch mit Tennisbällen oder Orangen sein Ballgefühl bis zum Maximum einüben und perfektionieren konnte bzw. in Ermangelung eines Fußballs auch musste.
Die italienischen Kinder dagegen seien schon längst zu Handyopfern geworden, mit wenig Sinn für gemeinsame sportliche Aktivität oder eben nur mehr von der Scheinselbständigkeit ihrer neuen Instagram‑, Twitch- und Youtube-Idolen träumend. Und in der Tat ist eine solche Abkehr in den Gewohnheiten der Kinder und Jugendlichen hochindustrialisierter Länder nicht ganz abzustreiten – der Stellenwert des gemeinsamen Fußballspiels hat auch abgenommen zugunsten von Konsolen- und PC-Spielen, anders ausgedrückt: Lieber gemeinsam FIFA auf der Playstation zocken als hinaus aufs Feld. Doch dann stellt sich die Frage, warum Österreich bei den beiden letzten Europameisterschaften so gut gespielt hat und warum die BRD regelmäßig nicht übel abschneidet. Und gibt es denn wirklich so große Unterschiede in der Erziehung bzw. beim Aufwachsen von italienischen Kindern im Vergleich zu spanischen?
Gerade im Hinblick auf die diesjährige EM-Enttäuschung wurde eigentlich oft auf die letzten Siege der Under-17 bis ‑21-Mannschaften als Lichtblicke für den italienischen Fußball hingewiesen mit dem sechzehnjährigen Stürmer Francesco Camarda (Milan) als am häufigsten hervorgehobenes Wunderkind. Die italienische U17-Mannschaft hat sich dementsprechend auch den EM-Titel gesichert, indem sie sich im Endspiel des Turniers auf Zypern mit 3:0 gegen Portugal durchsetzte. Was ist also das Problem?
Fußball-Ausbildung ist nicht leistbar
FIGC-Präsident Gabriele Gravina, der in dieser Periode ebenso wie Spalletti für seine Fehlentscheidungen im Fokus der Kritik stand, hat nun deutliche Worte für die italienischen Missstände gefunden. Er möchte mehr auf Inklusion setzen: „Wir müssen die Basis derer, die einberufen werden können, verbreitern“, erklärte die Nummer eins des Federcalcio. Die Idee ist klar: Den Pool so weit wie möglich zu erweitern, in der Hoffnung, neue Talente auch tatsächlich zu finden.
Um dies zu erreichen, müsse die Zahl der Kinder, die sich dem Sport nähern, wieder erhöht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, reiche es nicht aus, die Zahl der Fußballschulen zu erhöhen, sondern sie müssten auch besser zugänglich gemacht werden, d.h. vor allem: leistbar. Ein Konzept, das im März auch von Beppe Marotta (Präsident von Inter) geäußert wurde:
„Wenn mein Vertrag mit dem Verein ausläuft, werde ich mich nur noch mit Jugendlichen beschäftigen“, hatte er damals gesagt, und weiters: „Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es falsch ist, Jugendliche für den Sport bezahlen zu lassen: Er sollte kostenlos sein, denn das würde auch die armen Familien mit einbeziehen, in denen sich die Champions verstecken, wie es früher der Fall war.“
Die Zahl der bei der FIGC registrierten Spieler ist in den letzten zwölf Jahren zurückgegangen. Doch die neuen Spieler, die versuchen, den Sport zu erlernen, stoßen sofort auf ein Hindernis ökonomischer Natur. Es kostet ziemlich viel Geld, sich in einer Fußballschule einzuschreiben. Schon allein ein Paar Fußballschuhe kann zwischen 50 und 279 Euro kosten. Dann erst kommt der schwierigste Teil, nämlich sich im Labyrinth der Fußballschulen zurechtzufinden. Die billigste Wahl ist nach wie vor das Oratorium, wo man für ein paar hundert Euro einen Kurs für ein Semester oder mehr ergattern kann. Hier hat die sportliche Betätigung allerdings oft nur Amateurcharakter. Und in einer Welt, in der der Wettbewerb überhandnimmt, werden die Fußballschulen immer attraktiver.
Rom teuerste Stadt
Rom ist eine der teuersten Städte für angehende Fußballspieler. Im Viertel zwischen der Piazza Bologna und dem Bahnhof Tiburtina kostet die Einschreibung eines Kindes in einem historischen Verein, der zur „Eliteschule“ des Figc geworden ist, 790 Euro pro Jahr (Versicherung, Anmeldung und Sportausrüstung sind im Preis inbegriffen). Im Stadtteil San Giovanni hingegen ist aus einem glorreichen römischen Verein eine Inter-Filiale geworden. Ganz nach dem Motto: „Die Fußballschule des italienischen Meisters“. Es handelt sich um ein „exklusives Projekt auf nationaler Ebene“, bei dem die Inter-Trainingszentren „allen Jungen und Mädchen einen Kurs für motorische Aktivitäten anbieten, bei dem die Teilnehmer von qualifizierten Ausbildern und Doktoren der Motorik betreut werden“. Darüber hinaus „führen die technischen Leiter von Inter Inspektionen und Demonstrationstrainings durch, überwachen die Tätigkeit der Ausbilder und führen Auffrischungs- und Schulungskurse durch“.
Eine wichtige Möglichkeit, auch wenn die Kosten für Kinder, die zwischen 2017 und 2018 geboren wurden, recht hoch sind. Ein Jahr in „Italiens erfolgreichstem Jugendbereich“ kostet nämlich 770 Euro. Zwischen Castel Fusano und Cristoforo Colombo liegt dagegen die Fußballschule einer Legende wie Francesco Totti. Für eine Saison in der Captain’s Soccer School werden allerdings 990 Euro fällig. Noch tiefer in die Materie eintauchen kann man in der AS Roma Scuola Calcio, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die nächste Generation von AS Roma-Spielern auszubilden“. Allerdings sind die Preise nicht unerheblich: für eine Saison werden gut 1250 Euro verlangt.
Mailand weniger kostenintensiv
Mailand ist überraschenderweise billiger als die Hauptstadt. Die Preise für den Zugang zur offiziellen Fußballschule von Inter sind zum Beispiel sehr unterschiedlich. Sie reichen von 830 Euro für die Einrichtung in der Via Cilea bis zu 900 Euro für die in der Via Cazzaniga. Außerhalb der Stadt sind die Gebühren völlig unterschiedlich: Für die Fußballschule der Nerazzurri in Solero (25 Kilometer von Mailand entfernt) werden 700 Euro verlangt, für die in Bonate Sotto (in der Provinz Bergamo) reichen 500 Euro, während in Pavia 630 Euro fällig werden. Eine kleine Kuriosität: Die gleiche Inter-Fußballschule in Reggio Calabria kostet 850 Euro. In Largo Balestra hingegen kostet ein Jahr in einem Verein, der zum Universum der Mailänder Akademie gehört, für die zwischen 2016 und 2019 Geborenen 430 Euro, zu denen allerdings noch die Kosten für das technische Material und die Trikots der Marke Puma hinzukommen. Die Einschreibung in die Fußballschule der Atalanta-Akademie kostet 700 Euro. Ein Sonderfall ist Brera, wo eine nicht wettbewerbsorientierte Fußballschule organisiert wird, bei der man nach Kursbesuch bezahlt, wobei die Preise von 600 Euro für einen einwöchigen Kurs bis zu 1100 Euro für einen dreiwöchigen Kurs reichen.
Neapel hingegen liegt irgendwo dazwischen. Ein Jahr an einer Fußballschule im Vomero-Gebiet kostet 670 Euro (einschließlich Ausrüstung), genau so viel wie in einem historischen Verein in San Giorgio a Cremano. Eine Woche im Aosta-Tal (mit Unterkunft) mit dem Milan Junior Camp kostet 895 Euro. Es geht aufwärts. Das Unternehmen Experience Summer Camp hat ein weiteres Format entwickelt: den Campus, der zeitgleich mit dem Trainingslager der Mannschaft stattfindet und die Möglichkeit bietet, mit den Lieblingsspielern in Kontakt zu treten. Eine Woche in Vigo di Fassa mit Genua kostet 890 Euro. Fünf Tage in Dimaro oder Castel Di Sangro mit Napoli kosten 640 Euro. Sieben Tage mit Monza kosten 670 Euro. Fünf Tage mit der Fiorentina kosten 490 Euro.
Eine Frage der Investition, aber auch des gesellschaftlichen Systems
Schulen bieten jungen Fußballtalenten, deren Eltern es sich auch leisten können, eine Chance, ihre wahren und vermeintlichen Talente auf die Probe zu stellen. Daneben gibt es ebenso kostspielige, aber kurzweiligere Sommercamps, die oft mehr mit Marketing zu tun haben als mit der eigentlichen Lehre des Fußballs. Diese Zustände machen deutlich, warum Marottas Projekt unter kapitalistischen Umständen eine wunderbare Utopie bleiben wird. Denn in einer auf Profit ausgerichteten Gesellschaft, in der Investoren mehr zu sagen haben als die Spieler selbst und in der die Lebenshaltungskosten kaum leistbar sind, geschweige denn eine teure sportliche Ausbildung, lässt sich unschwer erkennen, warum sich viele Eltern doch am Ende für den Einmalkauf einer Konsole entscheiden, wo Fußballträume in 3D verwirklicht werden können, statt eines langandauernden kostspieligen Trainings mit ungewisser Aussicht auf späteren Erfolg. So bleibt die sportliche Karriere eine Frage des Geldbeutels und der sich an einem Tiefpunkt befindliche italienische Fußball eine drohende Mahnung, die weniger mit der Beschaffenheit der Generation und ihren Gewohnheiten zu tun hat und somit nicht auf Italien beschränkt bleiben muss.
Quelle: IlFattoQuotidiano