Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Gerechtigkeit und Menschenwürde ist der Inhalt der chilenischen Volksfrontpolitik. Faschistische Kräfte schießen diese revolutionäre Bewegung unter Präsident Salvador Allende nieder.
Das von Spanien blutig kolonisierte, sich über 4000 Kilometer entlang der Westküste erstreckende Chile mit seiner im 16. Jahrhundert gegründeten und hauptsächlich von „Weißen“ bewohnten Hauptstadt Santiago de Chile hat heute etwa 19 Millionen Einwohner.[1] „In den Salpeterwüsten, in den unterseeischen Kohlebergwerken, auf den schrecklichen Höhen, wo das Kupfer liegt, das die Hände meines Volkes in unmenschlicher Arbeit fördern, entstand“, so der chilenische Poet Pablo Neruda (1904–1973), „eine Befreiungsbewegung von grandiosem Ausmaß“.[2] Diese Befreiungsbewegung mit dem Namen Unidad Popular (UP) war ein Wahlbündnis von linken chilenischen Parteien und Gruppierungen und ist am 17. Dezember 1969 gegründet worden. Ihr Präsidentschaftskandidat war der Mitbegründer der sozialistischen Partei (1933) Salvador Allende Gossens (1908–1973).[3] Dieser war bürgerlicher Herkunft, hat das Medizinstudium absolviert und war praktizierender Arzt. Mit marxistischen Anschauungen ist Allende nicht aufgewachsen, er hat sich seine Parteinahme für die Armen und Ausgebeuteten als humanistisch denkender Intellektueller in seinem Werdegang angeeignet. Seine Persönlichkeit erinnert an Jean Paul Marat (1743–1793), der als angesehener Mediziner das Widerstandsrecht der Unterdrückten mit der Losung „Erhebe dich, Souverän Volk“ gefordert hat.[4] Stefan Zweig (1881–1942) hat seinem Freund Romain Rolland (1866–1944) geschrieben, mehr als Maximilien de Robespierre (1858–1794) sei ihm Marat „der klarste Kopf der Revolution“ und ein „wahrer Revolutionär“.[5]
Unabweisbar ist die Tatsache, dass die kapitalistische Wirtschaft, deren Fundament das Privateigentum an den Produktionsmitteln mit seiner Gier nach Profit ist, seit jeher die Völker unterdrückt und ausbeutet. Die Unidad Popular in Chile wollte als Volksfront dieses mörderische sozioökonomische System radikal verändern. Am Ende dieses revolutionären Prozesses sollte ein ethisch neu fundierter Mensch sein. In der marxistischen und christlichen Literatur wird immer wieder darüber diskutiert, wie das gelingen soll.[6] In der notwendigerweise heterogenen Volksfront konnten nicht alle daran beteiligten Parteien und Gruppierungen einer Meinung sein. Die MAPU (Movimiento de Acción Popular Unitaria) und die MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) hatten andere Perspektiven als zur Kooperation bereiten Teile der Democracia Cristiana. Die Kommunistische Avantgarde übte in der Unidad Popular keinen entscheidenden Einfluss aus, festigte aber mit ihrer Koalitionspolitik jene demokratisch parlamentarischen Illusionen, die der faschistischen Katastrophe vom 11. September 1973 vorausgegangen sind. Leo Trotzki (1879–1940) hat 1936 die Befürchtung geäußert, dass die Koalitionspolitik linker Parteien mit der Bourgeoisie für das Proletariat mit Jahrzehnten faschistischen Terrors bezahlt werden muss.[7] Josef Stalin (1878–1953) hat es dagegen in einem Brief an den spanischen Sozialisten Francisco Largo Caballero (1869–1946) für durchaus möglich gehalten, „dass sich der parlamentarische Weg als das für Spanien wirksamere Mittel für eine revolutionäre Entwicklung erweisen wird als seinerzeit in Russland“.[8] Die Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 mit dem Streit um das Machbare wie in Katalonien zwischen Republikaner und Anarchisten wiederholten sich im Chile von Salvador Allende.
Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) haben die von Papst Franziskus (*1936) am Beginn seines Pontifikats in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ eingeforderte geschwisterliche Perspektive der Menschheit[9] in ihrem „Manifest der Kommunistischen Partei“ vor 175 Jahren für die Menschheit vorweggenommen und als möglich erachtet.[10] Die Pariser Kommune (18. März bis 28. Mai 1871) zeigte bei allen auftretenden und zur Tragödie führenden Inkonsequenzen, dass die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch eine Volksfront möglich sein kann und gehört deshalb zu den Sternstunden der Menschheitsgeschichte. Die erste authentische Geschichte der Kommune hat der aktive Kommunarde Hippolyte-Prosper-Olivier Lissagaray (1838–1901 geschrieben, ein „Meisterwerk der Geschichtsschreibung“, wie der Wiener Georg Knepler (1906–2003) zurecht feststellt.[11] Das Lehrstück von Bertolt Brecht (1898–1956) über „Die Tage der Commune“ ist die Aufforderung an die Arbeiterklasse, die einmal errungene Macht nicht aus den Händen zu geben. Er lässt die Kommunarden singen: „Keine oder alle. Alles oder nichts. / Einer kann sich da nicht retten. / Gewehre oder Ketten. / Keiner oder alle. Alles oder nichts.“[12]
Bei den Parlamentswahlen am 4. September 1970 erhielt die Unidad Popular mit 36,3 Prozent der Stimmen die einfache Mehrheit. In seiner Rede am 5. September 1970 vor der Bevölkerung von Santiago de Chile aus Anlass des Wahlsieges bedankte sich Allende bei den Radikalen, den Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, bei den Menschen der MAPU (Movimiento de Acción Popular Unitaria) und der API (Acción Popular Independiente) und Tausenden von Unabhängigen. „Wir werden“, so Allende, „unsere historische Verpflichtung, das Programm der Unidad Popular zu verwirklichen, erfüllen“.[13] Das Parlament bestätigte am 24. Oktober 1970 mit 153 von 200 Stimmen Allende als Präsidenten. Er war damit Nachfolger des strikt antikommunistischen Eduardo Frei Montalva (1911–1982), der mit seinem widersprüchlichen Reformprogramm Senator und Vorsitzender der Christdemokraten blieb. Am 3. November 1970 übernahm Allende das Amt mit Sitz im Moneda-Palast in Santiago de Chile und begann, wie er in seiner ersten Rede am 5. November 1970 ausführte, mit der Unidad Popular den in der Ferne liegenden Weg, Chile „in demokratischem Pluralismus, Freiheit und Gleichheit“ umzugestalten. Der Botschafter der USA in Chile Edward M. Korry (1922–2003) schreibt an das Kabinett von Präsident Richard Nixon (1913–1994), es sei eine betrübliche Tatsache, dass Chile den „Weg zum Kommunismus“ angetreten habe.[14] Henry A. Kissinger (*1923) bewertete als Sicherheitsberater von Präsident Nixon die Übernahme der Regierungsgewalt durch Allende als eklatanten Verstoß „gegen die fundamentalen nationalen Interessen der Vereinigten Staaten“.[15] In den USA wurde deshalb ein Kreuzzug gegen Chile vorbereitet und der Direktor des Central Intelligence Agency (CIA) Richard Helms (1913–2002) beauftragt, den Sturz von Salvador Allende voranzutreiben. Kissinger hat die gleichermaßen mörderische wie heimtückische US-Außenpolitik zu verantworteten.[16] Er konnte seine Brutalität und Grausamkeit bis hin zum unverhohlenen Aufruf zum Völkermord hinter seiner von den westlichen Wertepredigern hofierten intellektuellen Maske gut verbergen. Noam Chomsky (*1928) hat das wiederholt festgestellt.[17]
Die Unidad Popular hat innerhalb der respektierten bürgerlichen Gesellschaft einen revolutionären Weg eingeschlagen.[18] Dabei wurde sie viele Monate von den Mittelschichten des Bürgertums unterstützt, zumal die revolutionäre antikapitalistische Zielsetzung von Salvador Allende noch nicht im Vordergrund gestanden ist. Signale waren die Dekrete über die kostenlose Ausgabe von täglich einem halben Liter Milch an alle Kinder unter 15 Jahren ab November 1970 und ab Dezember 1970 die kostenlose Verteilung von 5 Millionen Schulbüchern. Die Unidad Popular begann mit der politischen Kontrolle des Bankensystems und gibt im Dezember 1970 der Chilenischen Zentralbank den Auftrag zur absoluten Devisenkontrolle. Den Vermögensabflüssen der reichen Eliten wie der Latifundisten wurde dadurch ein Riegel vorgeschoben. Außenpolitisch wurden diplomatische Beziehungen zu Kuba (12. November 1970), zu China und den sozialistischen Staaten aufgenommen. Von dort erhoffte sich die Unidad Popular Anregungen für ihre sozialistischen Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten. Ende 1970 wurden die Voraussetzungen für die Verstaatlichung der Großunternehmen der Kupferindustrie geschaffen. Das Jahr 1971 brachte für das chilenische Volk die Verstaatlichung aller Banken, also auch der Privatbanken. Verstaatlicht wurden die Kohlengruben, die Bodenreform enteignete die Latifundien und in staatlichen und halbstaatlichen Betrieben kam es zur Bildung von Produktionskomitees. Bis Ende 1971 wurden 1300 Latifundien mit 2,4 Millionen Hektar, 70 Monopole und 90 Prozent der Bankkonzerne von der Unidad Popular unter staatliche Kontrolle gebracht. Die von der UP angestrebte planmäßige und straffe Wirtschaftspolitik verlief nicht gradlinig, die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Kooperation mit den sozialistischen Ländern stieß notwendigerweise auf Grenzen. Das ambitionierte Bildungsprogramm konnte die mit der Zurückdrängung des ausbeuterischen Wirtschaftssystems entstehenden Probleme im Konsum- und Produktionsbereich, die von den aus den USA unterstützten reaktionären Kräften und von den beharrenden Organen im Staatsapparat nachhaltig geschürt wurden, nur in fortschrittlichen Teilen der Jugend verständlich machen. Die Reaktion verschärfte ihre Wirtschaftssabotagen. Fuhrunternehmer richteten mit ihrem am 12. Oktober 1972 beginnenden Transport- und Versorgungsstreik einen riesigen Schaden an, in Santiago de Chile und einigen Provinzen musste der Ausnahmezustand ausgerufen werden.
Bei den Parlamentswahlen am 4. März 1973 erhielt die UP 43,4 Prozent der Stimmen, Allende blieb vom Volk mehrheitlich gewählt im Amt. Das bisher mehrheitlich loyale Militär war keine kubanische Volksarmee, es bildeten sich in ihm konterrevolutionäre Gruppierungen. Am 27. März 1973 begannen die von der Reaktion und der CIA aufgewiegelten Teile des ingenieurtechnischen Personals der staatlichen Kupfermine El Teniente einen Streik, die Bundesrepublik Deutschland sperrte am 4. April 1973 einen zugesagten 45-Millionen-DM-Kredit. Allende hat nicht nur amerikanisches Eigentum verstaatlicht, „er hatte sich“, so Kissinger, „dem totalitären Marxismus-Leninismus verpflichtet“.[19] Prioritäres Ziel der Politik der USA war der Sturz von Salvador Allende und seiner Unidad Popular.[20] Mit einem konsolidierten sozialistischen Chile und mit dem revolutionären Kuba unter Führung von Fidel Castro (1926–2016), der am 10. November 1971 zum Staatsbesuch nach Chile gereist ist, konnte sich die Revolution wie ein Virus auf ganz Lateinamerika ausdehnen. Das galt es zu verhindern. Im Ergebnis dieser vom globalen Imperialismus unterstützten teuflischen US-Politik putschte am 11. September 1973 das chilenische Militär unter Führung des Heereschefs General Augusto Pinochet (1915–2006), der neunzehn Tage zuvor von Präsident Allende an Stelle von Carlos Prats González (1915- 1974) ernannt worden ist. Pinochet und seine Junta leisteten dem von Präsident John F. Kennedy (1917–1963) an die lateinamerikanischen Streitkräfte ausgegebenen US-Befehl Folge, sich um die „innere Sicherheit“ in ihren Ländern zu kümmern.[21] Im Einklang mit den USA und der Großbourgeoisie begann die Militärjunta systematisch zu morden, zu foltern und zu deportieren. Eine einheitliche Statistik darüber gibt es nicht. Amnesty International hat 1974 von 15.000 Toten durch den Putsch des 11. September 1973 und die nachfolgenden politischen Morde gesprochen. Dazu kommen bis 1981 rund 2.200 Verschwundene, 155.000 politische Gefangene in sechzehn Lagern und mehrere hunderttausende Flüchtlinge.[22]
Herkunft und Umfeld des österreichischen Spitzendiplomaten in Santiago de Chile (1972–1974)
Österreichs Bundeskanzler war seit 1970 (bis 1983) Bruno Kreisky (1911–1990), der in der Nachfolge von Leopold Figl (1902–1965) vom Sommer 1959 bis 1966 als Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten über die Merkmale dieser vom österreichischen Alltag abgehobenen Corporate Identity erhalten. Von 1970 bis 1974 amtierte als Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger (1915–2000), der von 1967 bis 1970 Österreichs Botschafter in Prag war. Leiter der Politischen Sektion im Außenministerium war von 1972 bis 1979 der Innsbrucker Ludwig Steiner (1922–2015), der das gesamte Ressort als Staatssekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten (1961 bis 1964) kennengelernt hat. Steiner war strikt antisowjetisch und meinte im Kontext mit dem Militärputsch in Griechenland (1967), es sei den Sowjets nur recht, wenn der Westen damit Schwierigkeiten habe.[23] Das Bundeskanzleramt mit Bruno Kreisky und das Außenministerium mit Rudolf Kirchschläger nahmen die für das offizielle politische Verhalten der Republik Österreich gegenüber dem Chile der Unidad Popular notwendigen Informationen des von ihnen dorthin delegierten Botschafters Adolf Heinrich Hobel (1910–1995) offenkundig ohne Widerspruch, also amtlich zustimmend zur Kenntnis.[24] Nach Walter Wodak (1908–1974) sind die von der Öffentlichkeit mit viel Achtung angesehenen Diplomaten gar „die Sinnesorgane der für die Formulierung der Außenpolitik verantwortlichen Politiker“.[25] Wodak war 1970 bis 1974 als Generalsekretär im Außenministerium tätig und hat die dem Außenministerium aus der Botschaft in Santiago de Chile gelieferte tückische Melange von ideologischen Unterstellungen und Zuweisungen gekannt. Außenminister Kirchschläger hat Botschafter Adolf Hobel für die Verleihung des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreichs eingereicht, welche am 31. Jänner 1973 erfolgt ist. Dessen politische Einstellung wird in einem vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und von der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien herausgegebenen Buch über Österreichs Spitzendiplomaten „nach 1945 als politisch neutral“ angegeben.[26]
Manche Formulierungen von Botschafter Adolf Hobel deuten darauf hin, dass die österreichische Botschaft dem internen Austausch von jenen Chilenen diente, die im Ergebnis an der Vorbereitung des Putsches vom 11. September 1973 interessiert waren. In unserem Artikel sind auch die privat persönlichen Insinuationen über Salvador Allende wiedergegeben, weil diese das vornehme Getue österreichischer Spitzendiplomatie besonders beispielhaft entlarven. Für Isabel Allende (*1942) blieb Salvador Allende mit seinen durchaus bourgeoisen Gewohnheiten als Verkörperung „eines ehrlichen und offenen Mannes“ in Erinnerung.[27] Der marxistisch eigenwillig denkende Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), der sich oft in Lateinamerika aufgehalten hat, lernte Salvador Allende über dessen Frau Hortensia Bussi Allende (1914–2009) bei einem Essen in deren Haus in Santiago als „mutigen und ehrenhaften“ Mann kennen. 1971 ist Hobsbawm, der sich trotz seiner Affinität zu Lateinamerika zum Unterschied von Österreichs Botschafter Hobel nie als Lateinamerikaexperte gesehen hat, nach Chile gereist, um über die von ihm mit viel Sympathien beobachtete sozialistische Regierung authentisch berichten zu können. Er hat deren Chancen aufgrund „aller Zeichen“ gegen sie auf eins gegen zwei eingeschätzt.[28]
Wie in der Gegenwart üblich steht in Österreichs Spitzendiplomatie, wenn es für die Manipulation der öffentlichen Meinung passend erscheint, das Argumentum ad hominem im Vordergrund. Beispiele dafür gibt in der Geschichte viele, nicht zuletzt aus der Geschichte der habsburgischen Räuberdynastie.[29]
Adolf Hobel war römisch-katholischer Religionszugehörigkeit und hat am humanistischen Gymnasium im 16. Wiener Gemeindebezirk 1928 maturiert. Nach seinem rechtswissenschaftlichen Studium mit seinen drei Staatsprüfungen und drei Rigorosen an der Wiener Universität wurde er am 3. Februar 1933 zum Dr. iuris utriusque im Festsaal der Universität promoviert. Am Tag zuvor hat dort im Beisein ihres Rektors Othenio Abel (1875–1946) eine Anschluss-Kundgebung der nationalsozialistischen Studentenschaft als Adolf Hitler (1889–1945) – Siegesfeier stattgefunden.[30] Ab 15. März 1933 hat in Österreich mit Engelbert Dollfuß (1891–1934) de facto die austrofaschistische Diktatur begonnen. Ab Juli 1933 wird Adolf Hobel, der nicht vergessen hat, sich der „Vaterländischen Front“ einzureihen, nach kurzer Gerichtspraxis Vertragsbediensteter in der Wiener Finanzlandesdirektion. Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März 1938 bedeutete für die Karriereoptionen von Adolf Hobel kein Hemmnis. Ab 13. März 1938 wird er im Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten in der Abteilung 8 für Gesundheitswesen tätig. Den Mantel nach dem Wind hängend organisierte er sich im September 1938 in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, im Reichsbund der Deutschen Beamten und im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund. In der Deutschen Wehrmacht diente Adolf Hobel vom 13. März 1940 bis 29. April 1945 im Dienstgrad „Oberjäger“, vom 30. April bis 13. September 1945 war er in Kriegsgefangenschaft. Nähere Angaben dazu sind derzeit nicht zu erheben.[31] In der deutschen Wehrmacht, zuletzt als Hauptmann und Taktiklehrer in der Offiziersschule Wiener Neustadt, glaubte auch Rudolf Kirchschläger seine Pflicht zu erfüllen. Er befehligte ein letztes Aufgebot von etwa 1200 Fahnenjunkern am 31. März 1945 gegen die nach Wien einrückenden sowjetischen Befreiungstruppen. Diesen völlig sinnlosen Einsatz, der für hunderte junge Männer den Tod bedeutet hat, erklärte Kirchschläger mit seinem Eid auf den Führer Adolf Hitler.[32] Eine andere Auffassung von Pflichterfüllung hatte eine aus der Arbeiterjugend sich bildende Gruppe „Soldatenrat“, die für die Wiederherstellung Österreichs eingetreten ist und im Oktober 1941 ein hektographiertes Flugblatt „Hitler hat den Krieg schon verloren!“ in der deutschen Wehrmacht verbreitet hat.[33] Am 9. November 1945 trat Adolf Hobel wieder in den österreichischen Staatsdienst ein und wechselte 1948 (25. November) in den Auswärtigen Dienst, in dem er mit dem Vertrauen der jeweiligen Regierung ausgestattet wichtige Positionen einnahm. 1949 bis 1952 war der ambitionierte Adolf Hobel, inzwischen Mitglied des Bundes sozialistischer Akademiker (BSA), bei der politischen Vertretung Österreichs in Moskau, wo der von den Nationalsozialisten Norbert Bischoff (1894–1960) als politischer Vertreter Österreichs viel Verständnis für die Sowjetunion zeigte und bei den Vorbereitungen zum Staatsvertrag gute Hilfe leisten konnte. Der BSA war bemüht, ehemalige Parteigänger des deutschen Faschismus für die Sozialistische Partei zu gewinnen. Bruno Kreisky hat vier ehemalige Parteimitglieder der NSDSP 1970 in sein erstes Kabinett berufen, darunter mit Otto Rösch (1917–1995) ausgerechnet auch den Innenminister.[34] Ende 1952 kam Adolf Hobel in die Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt, wurde am 30. Juni 1959 zum außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigen Minister ernannt, kam als außerordentlicher (ao.) und bevollmächtigter (bev.) Botschafter 1960 nach Helsinki und 1964 in derselben Eigenschaft nach Kapstadt. Von 1968 bis 1972 war er wieder in Wien im Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten tätig und wurde am 26. Februar 1972 zum ao. u. bev. Botschafter in Santiago de Chile ernannt, wo Adolf Hobel bis zum 8. Mai 1974 residierte. Hernach, ab Juli 1974, war Adolf Hobel bis zu seiner Pensionierung (31. Dezember 1975) wieder im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten tätig. Am 14. Jänner 1976 wurde Adolf Hobel der Titel eines ao. u. bev. Botschafters verliehen. Nach seiner Pensionierung hat Hobel an seiner Heimatuniversität das Geschichtestudium aufgenommen und mit seiner Anfang 1982 eingereichten, 1006 (!) Seiten umfassenden Dissertation „Die k. u. k. Gesandtschaft (Botschaft) in St. Petersburg und die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in der Zeit zwischen dem Vorfrieden von Nikolsburg und dem Ende des Berliner Kongresses (1866–1878)“ abgeschlossen. Erstbegutachter war Franz Gall (1926–1982), der trotz einiger Vorbehalte meinte, dass diese Arbeit „von allen Bearbeitern österreichisch-russischer Themen der Zeit herangezogen werden müsse“. Für den Zweitbegutachter Adam Wandruszka (1914–1997) war diese Dissertation eine „überaus fleißige und materialreiche“ und beurteilte diese wie Gall mit „gut“.[35]
Österreichs Botschafter Adolf Hobel in Santiago de Chile berichtet über die letzten Monate der Präsidentschaft von Salvador Allende. Als Träger des Großen Silbernen Ehrenzeichens der Republik Österreich bejubelt er den faschistischen Militärputsch vom 11. September 1973
Die Aufgaben der diplomatischen Mission in einem fremden Staat sind vielfältig und durch das „Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen“ (18. April 1961) geregelt.[36] Es gilt die Interessen des eigenen Staates und seiner Angehörigen im fremden Staat wahrzunehmen und, wie Artikel 3 dieses Übereinkommens wörtlich festlegt, die „freundschaftliche Beziehungen zwischen Entsendestaat und Empfangsstaat zu fördern und ihre wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen auszubauen“. Die von den Botschaften gesammelten Informationen und Beobachtungen über die Entwicklung der Verhältnisse im fremden Staat, die der Regierung im eigenen Land vermittelt werden, sind eine prioritäre Aufgabe und beeinflussen notwendigerweise die Außenpolitik des eigenen Landes. Bruno Kreisky hat die Rigorosität von Kissinger am Rande der Helsinki-Konferenz (1975) und seine Abwertung der Sozialdemokratie von ihm selbst erfahren.[37] Das hinderte Kreisky nicht, aus den Nachwuchskadern seiner Sozialdemokratischen Partei einen Heinz Fischer (*1938) zur postgraduellen Ausbildung im Interesse der herrschenden Klasse zu Kissinger zu schicken. Er hätte solche Nachwuchssozialisten zur Erweiterung ihrer Erfahrungen auch in das Chile eines Salvador Allende entsenden können, so aber hofierten die zu Lakaien der Macht erzogenen Fischers zeitlebens die Politik der Kissingers.[38] Bruno Kreisky hat in seiner Außenpolitik vor allem Hans Thalberg (1916–2003) vertraut, den er in Salzburg den von Kissinger begleiteten Nixon als „almost American“ vorgestellt hat.[39] In den Berichten aus der österreichischen Botschaft in Santiago de Chile aus dem Jahre 1973 spiegelt sich das gesamte reaktionär bürgerliche Denken der politischen Eliten Österreichs wider. Dem selbständigen nationalen Weg von Chile, das sich mit Präsident Salvador Allende nicht an die Spielregeln der imperialistischen Kräfte halten wollte und Revolution und Demokratie zu vereinen suchte, wird mit offener Feindschaft begegnet. Dass die österreichische Sozialdemokratie diesen offenen Widerspruch zum völkerrechtlich verbindlichen Wiener Übereinkommen ohne weiteres zur Kenntnis genommen hat, unterstreicht ihre Rolle an der Seite der imperialistischen Kräfte. Es kann hier nur eine kleine Auswahl von Passagen aus den an den Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten adressierten Botschafterberichten aus Santiago, die im Archiv der Republik überliefert sind, gegeben werden.[40] Die maschinengeschriebenen Texte sind von Botschafter Hobel eigenhändig unterschrieben. Der Betreff gibt die Einordnung seiner Berichte im Außenministerium vor. Beigelegte „Kurzauszüge“ sollten bei mehrseitigen Berichten den vielbeschäftigten Beamten, Außenminister und Bundeskanzler einen raschen Überblick des Inhalts erleichtern.
III.1. Über Chile als „Rechtsstaat“
Im österreichischen Juristenmilieu wird viel vom „Rechtsstaat“ und, wenn sich ein Jurist oder Staatspräsident besonders feinsinnig zelebrieren will, von der „Schönheit“ der von Hans Kelsen (1881–1973) niedergeschriebenen Verfassung des Rechtsstaates gesprochen.[41] Dass die Interessen der politischen Macht Normen, Formalitäten und Verfahren des Rechtsstaates und das Wissen darüber letztendlich beherrschen, wird Kelsen selbst gewusst haben. Das System der Gesetzlichkeit auf Grundlage der Verfassung gibt der herrschenden Klasse eine konkrete Handhabe im Klassenkampf. Karl Marx hat festgestellt, dass es „immer im Interesse des herrschenden Teils der Gesellschaft ist, das Bestehende als Gesetz zu heiligen“.[42] Universitäten liefern dazu das Deckmäntelchen, was auch im Chile der Unidad Popular der Fall war. In allen seinen Berichten charakterisiert Botschafter Hobel Präsident Salvador Allende als verbrecherischen Klassenkämpfer.
Dokumente zu III.1.:
9. Jänner 1973. Zl. 1‑Pol/73. Verstrickung des Militärs in die Politik.
[…] Vor allem ist die Zielsetzung der derzeitigen Regierung eine ganz andere. Sie will den Staat grundlegend in marxistischem Sinne umgestalten unter einem Präsidenten, der schon in zahlreichen Fällen dokumentiert hat, dass er sich entgegen seinem Eid und den Wahlkapitulationen über Verfassung und Gesetze über die Beschlüsse der freigewählten Volksvertretung, die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, die Gutachten der Contraloría General de la República und die Meinung der Volksmehrheit geflissentlich hinwegsetzt. Im Hinblick auf das bisherige Ansehen des Militärs als Garant der Konstitutionalität und Legitimität war zu erwarten, dass der alte Parlamentarier Allende alles daransetzen werde, um die drei Wehrmachtsteile mit der Politik seiner Regierung zu verstricken. Er hat hiebei wahrlich mit Butterbrot und Peitsche gearbeitet. Verschiedene Militärs, die ihm hinderlich erschienen, wurden mit Letzterer behandelt. Ansonst wurde weder beim einzelnen General oder sonstigen Offizier noch bei der Institution als solcher ersterem gespart. […] Jetzt muss auch Oberbefehlshaber Prats sich langsam dessen bewusst werden, dass er sich nicht nur persönlich in eine zweifelhafte Lage bringt, sondern auch, dass er als Oberbefehlshaber das Prestige der „Uniform“ zerstört. Die Zeiten, wo das Militär respektiert wurde, dürften bald auch in Chile der Vergangenheit angehören. […]
28. Februar 1973. Zl. 4.Pol/73: Ist Chile noch ein Rechtsstaat?
[…] Vor allem hält sich der Staatschef selbst in vieler Hinsicht weder an die von ihm beschworene Verfassung noch an die Gesetze. Das gleiche gilt für verschiedene andere Mitglieder der Regierung. […] Der Präsident verletzt wiederholt insbesondere auch dadurch die Verfassung, dass er sich über die Gutachten der Obersten Kontrollbehörde der Contraloría General de la República, hinwegsetzt und von dieser Institution als rechtswidrig festgesetzte Massnahmen dennoch durchführt. Auch ansonsten werden >dictámenes< dieser Obersten Kontrollbehörden von den staatlichen Behörden ignoriert. […] Auch Beschlüsse und Urteile des Obersten Gerichtshofes werden mit Duldung oder über ausgesprochene Anordnung der Regierung unvollzogen gelassen. Dies gilt beispielsweise für die vom Obersten Gerichtshof erlassenen zahlreichen Urteile über die Rückstellung widerrechtlich entzogener Fundos oder Betriebe. Die Regierung liess auch die gewaltsame Besetzung von vielen tausenden Fundos und Betrieben, zum Teil durch anarchistische Horden zu und befahl den Carabineros, in Verletzung der Gesetze, nicht einzuschreiten. Ja die Opfer dieser Gewaltakte wurde sogar vielfach in Haft genommen, während die Täter ungeschoren im Besitze der geraubten Fundos blieben. Bei diesen Auseinandersetzungen waren schon wiederholt Todesopfer und zahlreiche Verletzte zu beklagen, ohne dass die Carabineros gegen die Gewalttäter einschreiten durften. Weitere Beispiele für Gesetze, die mit Duldung oder über ausdrückliche Anordnung der Regierung laufend in tausenden Fällen verletzt werden, sind folgende: Ein Gesetz sieht vor, dass gerechte Preise den Unternehmen genehmigt werden müssen, wenn die Kosten wesentlich steigen, beispielsweise oft 100% Lohnerhöhungen gewährt werden mussten. Die staatliche Preisbehörde hingegen zwingt zahlreiche dieser Firmen zum Preisstopp geradezu in der Absicht, die Betriebe zu ruinieren, um sie dann ihren Besitzern entschädigungslos entziehen zu können. Eine diesbezügliche Vorgangsweise wurde auch gegenüber einem der grössten und wichtigsten Unternehmen des Landes der Papelera, da sie die unabhängige Presse mit Papier versorgt, eingeschlagen. Sie war auch einer der Gründe für den grossen Streik der Unternehmer im Oktober des Vorjahres. Laufende Gesetzesverletzungen in tausenden Fällen erfolgen auch im Zusammenhang mit der Bestellung öffentlicher Verwalter. Nach dem einschlägigen Gesetz dürfte ein solcher >Interventor< nur mit einer Funktionsdauer von höchstens 30 Tagen bestellt werden und sich ausschließlich mit der Schlichtung eines anhängigen Arbeitskonfliktes befassen. In Verletzung von Gesetzen und Gerichtsbeschlüssen wurden jedoch in tausenden Fällen öffentliche Verwalter, ähnlich den in der nationalsozialistischen Zeit, eingesetzt, die sich nicht auf die vorbezeichnete Aufgabe beschränkten, sondern nach Aussperrung des Besitzers für dauernd die volle Geschäftsleitung usurpierten, mangels Sachkunde blühende Unternehmen in kurzer Zeit zugrundegerichtet und überschuldet haben. […] Die Liste der Rechtsbrüche des Präsidenten und der Regierung und der von ihr abhängigen Behörden könnte noch weiter fortgesetzt werden, aber auch die angeführten Beispiele dürften wohl in ausreichender Weise dartun, dass Chile jetzt vielfach nicht mehr als Rechtsstaat bezeichnet werden kann. Es ist überaus bedauerlich, dass dieser einstige südamerikanische Musterstaat in nicht viel mehr als 2 Jahren auf diesen Stand erniedrig wurde. […]“.
27. März 1973. Zl. 16-Pol/73: Schwere Konflikte zwischen Regierung und Parlament.
[…] Bekanntlich ist der Präsident in dauerndem Kampf mit den Obersten Organen des Staates, insbesondere mit der Contraloría, dem Obersten Gerichtshof und dem Parlament. Es bleibt abzuwarten, ob sich ein solcher Kampf auch mit dem Verfassungsgericht entspinnen wird. Denn sollte der Präsident unrecht erhalten, würde er sicher, so wie die Beschlüsse des Parlaments, die Dictamina der Contraloría und die Urteile des Obersten Gerichtshofes, auch den Beschluss des Verfassungsgerichtes ignorieren. […] Der Präsident sucht auch immer juristische Mäntelchen, um seine Missachtung der Obersten Organe des Staates zu begründen. […]
15. Mai 1973. Zl. 28-Pol / 73: Ist Chile noch ein Rechtsstaat?
[…] Gerade die chilenische Entwicklung zeigt mit Deutlichkeit, in welcher Weise die auf dem Prinzip der Präsidentschaftsrepublik basierenden amerikanischen Verfassungen die Gefahr heraufbeschwören, dass ein Präsident die Volksvertretung im allgemeinen und auch die Ergebnisse von Zwischenwahlen missachten und wie ein Diktator schwerwiegende Folgen für das Land heraufbeschwören kann, ohne dass ihm eine demokratisch gewählte Volksvertretung wirksam in den Arm fallen kann. Gerade durch dieses System wird die Gefahr von Staatsstreichen und Revolutionen geradezu heraufbeschworen. Dass Revolutionen aber die schlechteste aller Lösungen sind, hat kein Geringerer als [Juan] Perón [(1895–1974)] bereits vor 20 Jahren anlässlich seines Besuches in Chile auf der Universität Santiago erklärt. Er fügte bei, Revolutionen bringen nur Unfähige an die Macht, deshalb sei jeder andere Weg besser. […] Eine weitere Untergrabung des Rechtsstaates ist die Entwicklung einer Parallelgewalt – genannt >Poder Popular< – wie JAP [d. i Junta de Abastecimiento y Control de Precios], Cordones Industriales, Comandos Comunales, Consejos Campesinos und Consejos de Educación, also Ansätze für ein richtiges Rätesystem. […]
25. Mai 1973. Zl. 31-Pol/73: Parlamentseröffnung
[…] An dem historischen 21. Mai [1879], Tag der Schlacht von Iquique, wurde traditionsgemäß die neue Parlamentssession eröffnet. Schon äusserlich wich der Rahmen von den früheren Zeiten ab. Nicht nur, dass statt des einst vorgeschriebenen Fracks Strassenkleidung getreten ist, gab es sogar einzelne Parlamentsmitglieder, die nicht nur keine Kravatte trugen, sondern mit offener Hemdbrust zu diesem Staatsakt erschienen waren. Die Senatsmitglieder und Abgeordneten der National Partei fehlten aus Protest ausnahmlos, von der Democracia Cristiana war nur ein kleiner Teil erschienen. Der künftige Senatspräsident, das ist der frühere Staatspräsident Frei, war nicht erschienen. Infolgedessen wurde die Session von seinem Vertreter eröffnet. Staatspräsident Allende verlas die Regierungserklärung, das ist die dritte der Unidad Popular – die weit über zwei Stunden dauerte. Nur ein einziges Mal während der Rede erhielt er Beifall, nämlich als er sich von einem Bürgerkrieg distanzierte. Auch dieser Beifall kam ausschliesslich aus den Reihen der UP und der Regierungsmitglieder. Wer sich erwartete, dass Allende einen Bericht über den politischen, wirtschaftlichen und administrativen Stand des Landes, wie dies bei seinen Vorgängern der Fall war, geben werde, wurde enttäuscht. Seine Rede war eine politische Brandrede gegen Imperialisten, Kapitalisten, multinationalen Unternehmen, die alte Oberschicht, Ausbeuter, die im Parlament über die Mehrheit verfügende Opposition usw.
8. Juni 1973. Zl. 34-Pol/73: Weitere Verschärfung des Kampfes der drei Gewalten in Chile
[…] Bedauerlicherweise verschärft sich der Kampf zwischen den drei Gewalten in Chile von Tag zu Tag. Die Hauptursachen sind die dauernde Verletzung der Verfassung, der Gesetze und auch der bei der Wahl unterschriebenen Wahlkapitulationen durch den Präsidenten sowie ständige Überschreitung der ihm zustehenden Befugnisse und die Missachtung der verfassungsmässigen Prärogativen sowohl der Justiz als auch des Parlaments. Das gleiche gilt für seine Minister und die nachgeordneten politischen Funktionäre, besonders die Intendenten. Das Gerede vom demokratischen Wege zum Sozialismus ist eine der vielen Unwahrheiten Allendes. Der von ihm beschrittene Weg ist weder demokratisch noch verfassungs- und gesetzmässig, ja nicht einmal gewaltlos, wie man bedauerlicherweise Tag für Tag feststellen muss. […] Es muss wohl zu denken geben, dass immer wieder gerade die Arbeiter gegen den Präsidenten, der ein Präsident der Arbeiter zu sein vorgibt, und die Regierung, die eine Arbeiterregierung sein will, sich auflehnen und gerade über Auftrag des Präsidenten und der Regierung niedergeschlagen werden, wobei schwere Opfer unter den Arbeitern zu beklagen sind. […]
28. Juni 1973. Zl. 38-Pol/73: Verfassungsverletzungen Allendes
[…] Kurzauszug: Dieser Tage hat die Fakultät für Juristische- und Sozialwissenschaften der staatlichen Universität von Chile in einer juristisch wohl fundierten Argumentation den Staatspräsidenten des Verfassungsbetruges (Fraude a la Constitución) beschuldigt. Gründe: 1. Laufende Eingriffe in die Gerichtsverfahren. 2. Blosse Teilveröffentlichung der vom Kongress beschlossenen Verfassungsreform betreffend die drei Areas de la Economía und die Beteiligung der Arbeiter. Der Konflikt zwischen Oberstem Gerichtshof und Staatspräsident Allende zieht sich bereits lange Zeit hin. Zwischen dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes und Staatspräsident Allende wurden wiederholt scharfe Briefe gewechselt. Der letzte Brief des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes vom 25. 6. d. J. in Beantwortung eines Schreibens des Staatspräsidenten stellt nicht nur eine blendend argumentierte juridische Anklage gegen den Staatspräsidenten dar, sondern ist auch voll persönlicher schärfster Angriffe. Allende wird Rechtsverdrehung, übertriebene Ausweitung des administrativen Sektors und die Herabwürdigung der judiziellen Funktionen vorgeworfen. Dauernde Behinderung der Vollstreckung von Urteilen, Behinderung der Verfolgung von Verbrechern, schleunige Amnestierung von verurteilten Terroristen. Seitens des Parlaments wurde ostentativ den Ausführungen des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes beigepflichtet. Allende hat den Brief als unannehmbar rückmitteln lassen.
[1] Stefan Rinke: Kleine Geschichte Chiles. C. H. Beck München 2. A. 2022.
[2] Pablo Neruda: Ich bekenne ich habe gelebt. Memoiren. Deutsch und mit einem Nachwort von Curt Meyer-Clason. Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1974, S. 460.
[3] Chile – Volkskampf gegen Reaktion und Imperialismus. Aus Reden des Präsidenten der Republik Chile Salvador Allende Gossens. Staatsverlag der DDR, Berlin 1973; Salvador Allende. Das Ende einer Ära. Herausgeber: Fernando Diego García und Oscar Rola. Essay: Alejandra Rojas. Gestaltung: Sebastián García und Daniela Rossi. Vorwort von Isabel Allende. Aus dem chilenischen Spanisch übertragen von Angelika Bussas. Aufbau Verlag Berlin 1998; Günther Wessel: Die Allendes. Mit brennender Geduld für eine bessere Welt. Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2002; Luis Corvalan / Klaus Huhn: Der andere 11. September. Der Mord an Salvador Allende und tausenden Chilenen vor dreißig Jahren. Spotless Verlag Berlin 2003-
[4] Walter Markov / Albert Soboul: 1789. Die Große Revolution der Franzosen. 3., unveränderte A. Akademie Verlag Berlin 1977, S. 63 und öfters.
[5] Stefan Zweig an Romain Rolland aus Salzburg am 25. September 1926. In: Romain Rolland / Stefan Zweig. Briefwechsel 1910–1940. Zweiter Band 1924–1940. Rütten & Loening, Berlin 1987, S. 183–185, hier S. 184.
[6] Vgl. z. B. Helga E. Hörz & Herbert Hörz: Frieden. Geschenk oder Aufgabe. Erfahrungen, Analysen, Aktionen. trafo Wissenschaftsverlag Berlin 2020.
[7] Leo Trotzki: Die Volksfront im Bürgerkrieg. Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–1939. Neuer ISP Verlag Köln / Karlsruhe 2016, S. 259; zitiert auch von David North: 30 Jahre Krieg. Amerikas Griff nach der Weltherrschaft 1990–2020. Mehring Verlag Essen 2020, S. 643.
[8] Zitiert von Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union. Mit einem Nachwort von Oskar Lafontaine. Aus dem Italienischen von Rita Seuß. PapyRossa Verlag Köln 2021, S. 236.
[9] Papst Franziskus: Fratelli tutti. Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Mit Themenschlüssel. Einführung von Jürgen Erbacher. Patmos Verlag 2020.
[10] MEW 4 (1972), S. 459–493.
[11] Prosper Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871. Neu herausgegeben von Traute Feigl. Rütten & Loening Berlin 1956; Georg Knepler: Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit. Herausgegeben von Stefan Hutz. Kai Homilius Verlag 2004, S. 44; vgl. auch Jean Villain: Die grossen 72 Tage. Ein Report über die Pariser Kommunarden. Verlag Volk und Welt, Berlin 3. A. 1981.
[12] Hier zitiert nach Bertolt Brecht: Die Stücke von Bertold Brecht in einem Band. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1. A. 1978, „Die Tage der Commune“ S. 839–874, S. 869 f.
[13] Chile – Volkskampf gegen Reaktion und Imperialismus. Aus Reden des Präsidenten der Republik Chile Salvador Allende Gossens. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1973, S. 11–15.
[14] Henry A. Kissinger: Memoiren. 1968–1973. Bertelsmann Verlag GmbH, Güterslohn 1979, 694 f.
[15] Ebenda.
[16] Christopher Hitchens: Die Akte Kissinger. Aus dem Englischen von Peter Torberg und Jürgen Bürger. Stuttgart Deutsche Verlags-Anstalt 2001 (Der Autor hat seinem Buch die Widmung vorangestellt: „Für die Opfer von Henry Kissinger, deren Beispiel ihn und seinen Ruf mühelos überleben wird“).
[17] Noam Chomsky: Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik. Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr, Norbert Juraschitz und Hainer Kober. Ullstein Verlag Berlin 2016, hier S. 94.
[18] Julius Mader: Instruction 37/57. Tatsachen und Hintergründe des Putsches in Chile 1973. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin 1974, S. 117 f. (Tabellarische Übersicht über die Errungenschaften der UP); Konterrevolution in Chile. Analysen und Dokumente zum Terror. Herausgegeben vom Komitee „Solidarität mit Chile“. Rowohlt Taschenbuch Reinbek bei Hamburg 1973, S. 191–203: Chile 1970–1973. Drei Jahre Kampf um politische und wirtschaftliche Macht. Eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse.
[19] Kissinger, Memoiren 1968–1973, S. 698.
[20] Noam Chomsky / Marv Waterstone: Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann. Westend Verlag Frankfurt a. M. 2022, S. 104 f.; dort Zitate nach Peter Kornbluh: The Pinochet File. A Declassified Dossier on Atrocity and Accountability. The New Press New York 2013.
[21] Chomsky, Wer beherrscht die Welt?, S. 32.
[22] Diese Zahlen nennt Herbert Berger: Chile: Lernen aus der Geschichte? Parteiendemokratie und Basisbewegungen. In: Herbert Berger & Leo Gabriel (Hg), Lateinamerika im Aufbruch. Soziale Bewegungen machen Politik. Mandelbaum Verlag 2007, S. 23–79, hier S. 53 f.; Winfried Hansch: Über 1 Million Tote des Terrors in Lateinamerika. Staatsstreiche und Militärinterventionen nach 1945. Aktualisierte Fassung eines Vortrages aus Heft 181 der Pankower Vorträge. Guatemala – Chile – Argentinien. Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Nr. 297, 24.Jh., Heft 11 / 2014, S. 14–20.
[23] Ludwig Steiner: Der Botschafter. Ein Leben für Österreich. Textbearbeitung Hartmann Gallmetzer. Verlagsanstalt Athesia Bozen 2005.
[24] Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner: Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Herausgeber: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Österreichische Gesellschaft für historische Quellenstudien. Wien 2009.
[25] Walter Wodak: Diplomatie zwischen Ost und West. Verlag Styria Graz / Wien / Köln 1976, S. 20 f.
[26] Ebenda, S. 250.
[27] Isabel Allende: Erinnerungen an Salvador Allende. In: Salvador Allende 1998, S. 5–8, hier S. 6.
[28] Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Carl Hanser Verlag München 2002, S. 430.
[29] Z. B. Heinrich Ritter von Sbrik: Wallensteins Ende. Ursachen, Verlauf und Folgen der Katastrophe. Otto Müller Verlag Salzburg. 2., vermehrte und verbesserte Auflage 1952.
[31] Agstner / Enderle-Burcel/ Follner, S. 248–250 (Adolf Hobel).
[32] Gerhard Oberkofler und Eduard Rabofsky: Pflichterfüllung für oder gegen Österreich. Historische Betrachtungen zum März 1938. Globus Verlag Wien 1988, S. 42 f.
[33] Eduard Rabofsky: Über das Wesen der „Gruppe Soldatenrat“. Erinnerungen und Einschätzungen. In: Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewusstsein. Wien / München / Zürich 1983, S. 213–224; Gerhard Oberkofler: Zum Gedenken an die Gruppe Soldatenrat. nVs 3 /04, S. 7–9.
[34] Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten. Hg. vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA). Czernin Verlag 2005.
[35] Universitätsarchiv Wien. Frau Ulrike Denk besten Dank für freundliche Hilfe!
[36] Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1966, Ausgegeben am 27. Mai 1966.
[37] Bruno Kreisky: Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil. Kremayr & Scheriau 1988, S. 244.
[38] Henry Kissinger traf Heinz Fischer – oesterreich.ORF.at
[39] Hans J. Thalberg: Von der Kunst, Österreicher zu sein. Erinnerungen und Tagebuchnotizen. Hermann Böhlaus Nachf. Wien / Köln / Graz 1984, S. 441.
[40] Für unkomplizierte Vorlage danke ich Herrn Amtsdirektor Dieter Lautner sehr herzlich!
[41] Über „Grundsätzliches zum Rechtsstaat“ und über Hans Kelsen hat wiederholt Hermann Klenner publiziert. Am Anfang steht die Publikation: Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit als einer Methode in der Führung des Klassenkampfes. VEB Deutscher Zentralverlag Berlin 1953. Klenners Arbeiten sind, obschon nicht mehr zitiert, wegbahnend.
[42] MEW 25 (1973), S. 801; Hermann Klenner hat zuletzt auf diese Sentenz aufmerksam gemacht in: Erinnerung an Karl Marx. Mitteilungen der Kommunistischen Plattform Die Linke. Heft 3 / 2023, S. 4–9, hier s. 8.