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Home Internationales

Sei Umuts Stimme

7. Jänner 2022
in Internationales
Sei Umuts Stimme

Der Fall von Umut Gündüz, einem neunzehnjährigen Radfahrer, der von einem betrunkenen Autofahrer tödlich erfasst wurde, erfährt keine Gerechtigkeit. Seine Eltern kämpfen nun schon seit eineinhalb Jahren gegen die Mühlen der türkischen Justiz.

Ankara. Am 15. Juli 2020 fährt Umut Gündüz wie so oft durch die Straßen Ankaras. Er ist jung, voller Energie und begabt. Aus seinen Begabungen sticht gerade das Radfahren hervor, er liebt den Radsport und dieser liebt ihn. Er gehört zu den besten – er ist gerade einmal 19 Jahre alt und schon lizensierter Radsportler. In seiner Freizeit übt er seinen Lieblingssport und lernt fleißig, denn er bereitet sich, wie so viele Jugendliche in seinem Alter, auf die Universität vor.

Von seiner Familie, seinen Genossinnen und Genossen wird er als stur, engagiert und als hart für seine Ziele arbeitend beschrieben. Neben seinen sportlichen und schulischen Aktivitäten ist er noch zusätzlich politisch aktiv: Er ist nämlich Kommunist, und das in seinem bisherigen kurzen Leben schon sehr lang. Sehr früh wird er politisiert, sehr früh begleitet er seine älteren Genossinnen und Genossen auf politische Veranstaltungen, sein junges Leben ist mit der Arbeiterbewegung eng verwoben – sein Kampf bildet eine Einheit mit den Sehnsüchten vieler junger Menschen in der Türkei, gemeinsam kämpfen sie für die Zukunft ihres Landes selbst. Mit 19 Jahren ist er bereits Mitglied in der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP). Sein Leben ist von Emsigkeit, hervorsprudelnder Energie und Tatendrang gekennzeichnet, sein Leben ist Kampf, denn er kämpft für seine Aufnahme an der Universität, er kämpft gegen sich selbst, um über alle Grenzen hinaus in seinem selbsterwählten Sport immer besser zu werden, er kämpft mit seinen Genossinnen und Genossen für eine bessere Welt.

Umut Gündüz ist das Leben selbst. Er fährt mit seinem Fahrrad und blickt zuversichtlich in die Zukunft. Er hat noch sein ganzes Leben vor sich, lang und ebenmäßig wie die Straße, auf der er fährt. Das Lenkrad hat er fest im Griff, es gehört zu ihm wie ein weiteres, angewachsenes Körperglied. Verschnaufpausen gibt es keine – in der Jugend sind alle körperlichen Gebrechen unbekannt. Es gibt nur einen Gang: Vorwärts. Die Pedale an den Füßen fühlen sich wie Flügel an, stets bereit, sich zum Flug zu erheben, um den Stress des Alltags hinter sich zu lassen und nicht mehr zurückzublicken.

Am 15. Juli 2020 befand sich Çağdaş Şenyüz auf derselben Straße mit seinem Auto. Was durch seinen Kopf ging, als er einen jungen Radfahrer einfach von hinten überfuhr, ist nicht bekannt. Auch nicht, was er sich danach dachte, als er einfach Fahrerflucht beging. Çağdaş Şenyüz war sturzbesoffen und fuhr mit seinem Auto. Umut hatte sich an alle Sicherheitsvorkehrungen gehalten und einen Helm getragen, trotzdem war er auf der Stelle tot. Umut, der auf der Straße allein mit seinem Fahrrad gewappnet das Leben suchte, fand stattdessen den Tod, weil sich ein Mensch betrunken ins Auto gesetzt, die Autoschlüssel einmal herumgedreht und seinen Fuß vom Gaspedal nicht mehr herunterbekommen hat.

Der Mörder ist gefasst

Çağdaş Şenyüz wurde Stunden später von der Polizei eingeholt und für einige Stunden in eine Arrestzelle gesteckt. Selbst nach mehreren Stunden wurde ein extrem hoher Alkoholpegel festgestellt.

Für Umuts Familie brach die Welt zusammen. Durch den Fehler eines besoffenen Autofahrers änderte sich schlagartig ihr ganzes Leben, nichts war mehr so, wie es einmal war. Ihrem Zutun ist es zu verdanken, dass sofort legale Schritte eingeleitet wurden und der Mörder schnell gefasst war.

„Der Rechtsmechanismus funktioniert, diese Person wird die Strafe bekommen, die sie verdient. Es wurde ein Verbrechen begangen, und infolgedessen wurde das Leben eines neunzehnjährigen Jugendlichen, der Träume und Hoffnungen hatte, gegen seinen Willen genommen. Angesichts dessen wird diese Person die Strafe erhalten, die sie verdient.“ 

Es ist die Stimme des Vaters, Menderes Gündüz, die nach dem Unfall spricht. Die Familie war zu jener Zeit zuversichtlich, dass etwas gemacht werden würde. Es geht immerhin um Mord und Fahrerflucht. Der Mörder ist bekannt. Er wurde für einige Stunden in der Polizeistation festgehalten.

Vier Monate für ein Menschenleben

Der Wunsch von Umuts Vater ging nicht in Erfüllung. Bis heute läuft Çağdaş Şenyüz in der Türkei frei herum, geradeso, als wäre nichts geschehen und als hätte er nicht ein Menschenleben auf dem Gewissen. Er kam durch. Gerade einmal vier lächerliche Monate saß er im Gefängnis und durch viel Anwaltsjargon kam er mit der Begründung einer „zu langen Arrestzeit“ vorzeitig aus dem Gefängnis. Während viele Menschen unbegründet, ohne legaler Grundlage in der Türkei Haftstrafen abbüßen müssen, für die sie überhaupt nichts können, wurde ein Mörder nach vier Monaten freigelassen.

Sei Umuts Stimme

Umuts Eltern, Asuman und Menderes, kämpften nach seinem Tod und nach der absurden Freilassung des Mörders ihres Sohnes mutig und ohne Unterlass um Gerechtigkeit. Allein in den vergangenen zwei Jahren starben beinahe 300 Radfahrerinnen und ‑fahrer unter ähnlichen Umständen in der Türkei. Umuts Familie versuchte also, ein Netzwerk aufzubauen und die Familienangehörigen anderer unter solchen Umständen Verstorbener zu erreichen, um aus vielen leisen Stimmen eine laute zu machen, den Kampf gemeinsam zu führen und Licht in das Schicksal vieler zu früh genommener Leben zu werfen. Sie zogen durch das ganze Land und kontaktierten Menschen in ähnlichen Situationen, denen nach der privaten Tragödie nur noch mehr Ungerechtigkeit widerfuhr. Sie versuchten, einen gemeinsamen Kampf zu führen. Und es fanden sich ihrer viele, denn zu oft hatte eine Gerichtsverhandlung nichts ergeben, zu oft war ein Mörder auf freien Fuß gesetzt worden, ohne auch nur eine annähernd angemessene Strafe zu bekommen. Umuts Familie ist nicht allein, sie hat auch die Kommunistische Partei der Türkei auf ihrer Seite, die ihre Forderungen unterstützt. Jedoch ist der türkische Staat ihr Gegner. Die Familie wurde darüber informiert, dass Çağdaş Şenyüz selbst bei einer Verurteilung nicht mehr ins Gefängnis müsste, die Gesetzeslage gebe nicht mehr her. Tatsächlich müsste sich nach türkischem Recht, selbst wenn es sich um einen Mord aus Fahrlässigkeit handeln würde, der Mörder mindestens sechs Jahre im Gefängnis sitzen. Natürlich geht es auch darum, dass Umut Gündüz Kommunist war, und für einen Kommunisten mahlen die Räder der Justiz nicht, sie mahlen nur dann äußerst effizient, wenn man einen Kommunisten als Täter hinstellen kann.

Deshalb kämpfen Asuman und Menderes, gemeinsam mit Familienangehörigen anderer Verstorbener, für eine Gesetzesänderung. Sie tun dies unter dem Slogan „UmutaSesOl“, d.h. „Sei Umuts Stimme“, stellvertretend für all diejenigen, die ihre Stimme durch brutale äußere Umstände nicht mehr erheben können. Dieser Ruf erschallt seitdem auf den Straßen, in den Plätzen, in den Gerichtssälen und vor der Großen Nationalversammlung der Türkei, dem türkischen Parlament. Für diese Gesetzesänderung werden Kundgebungen auf die Beine gestellt, wo die schreiende Ungerechtigkeit beim Namen genannt wird.

Das Publikmachen von Diskriminierung und Ungerechtigkeit im kapitalistischen System zieht jedoch weitere Ungerechtigkeiten nach sich, es wird alles unternommen, damit Information unterdrückt wird. Immer dann, wenn Umuts Verwandte versuchten, vor dem türkischen Justizministerium zu protestieren und auf Kundgebungen ihre Reden zu halten, wurden die Ordnungs- und Polizeikräfte handgreiflich. Als sie versuchten, Parlamentsabgeordnete über den Fall aufzuklären, wurden sie von der vor dem Parlamentsgebäude wartenden Polizei zusammengeschlagen und bedroht, sie würden auch noch härter zuschlagen.

Protest zeigt Wirkung

Die Familien geben aber nicht auf und es wurden auch kleine Siege errungen. In Ankara wurde eine Fahrradstraße nach Umut benannt, es wurden außerdem mehrere Sportveranstaltungen in seinem Namen abgehalten. Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle haben Solidaritätsbekundungen in seinem Namen ausgesprochen. Viele Fahrradclubs haben die Gefährlichkeit des türkischen Strafsystems erkannt und zeigten sich ebenfalls solidarisch. 

Am 27. Dezember 2021 fand die letzte Anhörung vor dem Gericht in Ankara statt, es schien, als hätte die viel zu lange psychische und physische Tortur von Umuts Familie damit ein Ende gehabt. Tatsächlich wurde Çağdaş Şenyüz nur zu vier Jahren, fünf Monaten und zehn Tagen verurteilt, als Grund wurde gute Führung genannt, was eine vorzeitige Entlassung mit sich bringt. Aber um entlassen zu werden, muss man erst ins Gefängnis überführt werden. Gegen Çağdaş Şenyüz wurde indessen kein Haftbefehl erlassen. Eine sonderbare rechtliche Situation in der Türkei. Mord wird in der Regel geahndet, doch bei Totschlag hat sich Fahrerflucht als valide Möglichkeit erwiesen, um straffrei durchzukommen. Selbst wenn der Mörder schnell gefasst wird, wird er nicht lange inhaftiert. Irgendwo schleicht sich immer ein Formfehler ein und diesen gilt es aus Sicht des Täters auszunutzen. Gewissen ist ein anderes Thema, es ist relativ, von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen sich Täter selbst bei der Polizei stellen. Richterinnen und Richter sind nicht unparteiisch – der Geldbeutel zählt, die Stellung in der Gesellschaft zählt, es zählt, ob jemand betrunken ins Auto steigt oder aber als Kommunist stirbt. Je nach dem, kann Opferschutz schnell in Täterschutz umschwenken, unabhängig davon, ob man sich gerade in der Türkei oder in der EU befindet.

Quelle: Haber Sol/Haber Sol/Seçil Öznur Yakan

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Bildquelle: TKP
Schlagworte: AlkoholAlkolenkerFahrradunfallTKPTürkei

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