Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)
Die schwarztürkis-grüne Bundesregierung und ihre Parlamentsmehrheit wollen mit dem übernächsten Schuljahr den verpflichtenden Ethikunterricht einführen – und zwar für all jene Schülerinnen und Schüler, die, aus welchen Gründen immer, keinen Religionsunterricht besuchen. Natürlich wäre es richtiger, die Religion als Privatsache ein für alle Mal von den österreichischen Schulen zu verbannen und dieses „Unterrichtsfach“, egal an welcher Konfession ausgerichtet, schlichtweg ersatzlos zu streichen. In einem ernsthaften öffentlichen Bildungssystem braucht es keine Märchenstunden über mythologische Gottheiten, Engel und Teufel, über himmlische Erlösung oder Bestrafung in der Hölle. Jedoch bedarf es ebenso wenig einer alternativen oder ersetzenden Unterrichtung in Ethik.
Zeiten und Sitten
Ethik als Teilbereich der Philosophie untersucht das moralische, sittliche Handeln des Menschen. Doch nicht nur das: Dieses wird auch bewertet, legitimiert oder delegitimiert, in „Gut“ und „Böse“ unterschieden. Letztlich geht es um die Festlegung und Rechtfertigung eines gesellschaftlichen Wertesystems. Als solches findet es üblicherweise natürlich auch seinen Niederschlag in bestehenden Gesetzen eines Staatswesens bzw. in der Änderung bisheriger Gesetzeslagen. Die Ethik gehört somit zum Überbau einer gegebenen Gesellschaft, mit entsprechender dialektischer Rückwirkung auf die und Interaktion mit der materiellen Basis derselben. Gerne wird unterstellt, es gäbe eine universelle Ethik von allgemeiner Gültigkeit. In der Menschheitsgeschichte wurde eine solche üblicherweise über einen bestimmten religiösen Glauben vermittelt: Die Zehn Gebote bildeten eine entsprechende Grundlage für das Judentum und abrahamitische Trittbrettfahrer, das Christentum fügte Versatzstücke aus der Bergpredigt hinzu, und auch der Heilige Koran schlägt in dieselbe Kerbe. Ihnen ist gemeinsam, dass sie tatsächlich absoluten, umfassenden und ewigen Anspruch haben, denn sie sind ja das überlieferte Wort Gottes. Doch sind Religionen und bestimmte Konfessionen nun mal nicht unumstritten und bleiben in ihrer jeweiligen Vorherrschaft vergänglich. In einer „aufgeklärten“ Gesellschaft bezieht man seine Ethik nicht mehr direkt von Gott, sondern aus anderen Quellen: Dies mag eine mutmaßliche menschliche Natur sein, die praktische oder reine Vernunft, es mag der Kategorische Imperativ Kants ins Treffen geführt werden oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In der Moralphilosophie (und in angrenzenden Disziplinen) lässt sich über Inhalte und Legitimationen streiten, schlussendlich tritt die gerade vorherrschende Ethik wiederum in den passiven und aktiven Normen einer Legislative und Jurisdiktion zutage, auf Grundlage der jeweiligen Gesetzeslage, womit eine bestimmte Ethik auch immer staatlich konstituiert ist. Ein Verstoß dagegen ist eine Gesetzesübertretung oder ein Gesetzesbruch, gilt aber auch als unmoralisch oder sogar amoralisch, jedenfalls unethisch.
Moralapostel in schwarz, grün und rosarot
Es ist auf den ersten Blick nicht frei von Ironie, dass die ÖVP und die meisten in Österreich anerkannten Religionsgemeinschaften nun also zu der Ansicht und neuen Schulgesetzeslage kommen, dass Religion und Ethik gegenüberzustellen seien, denn die Schülerinnen und Schüler besuchen ja einen Religionsunterricht – oder eben den Ethikunterricht. Womit einmal konstatiert wäre, dass Religion und Ethik nicht das Gleiche sind. So viel Humor muss man haben. Allerdings wird damit freilich auch behauptet – und das ist wichtiger –, dass Religions- und Ethikunterricht gleichwertig seien und dass den konfessionslosen, gar atheistischen Schülerinnen und Schülern, die bisher Freistunden hatten, etwas fehlen würde, nämlich eben ein allgemeiner ethischer Werte- und Handlungskompass oder dergleichen. Man kann nur hoffen, dass der praktische Ethikunterricht nicht zur Religionskunde mit Schlagseite wird. Natürlich sind Religion und Ethik kein Gegensatzpaar – der Gegensatz zur Religion heißt Wissenschaft, als Voraussetzung jeglicher wirklichen Bildung und jedes seriösen Schulwesens. Doch die Erkenntnis über die tatsächliche Welt bleibt in der Religion (und der ÖVP-Bildungspolitik nach deren Ebenbild) nach wie vor ein Sündenfall. Den politischen Sündenfall in diesem Kontext liefern freilich schon wieder die Grünen: Von ihnen hätte man gerne Besseres erwarten wollen. Aber dort dominiert – neben der Unterwürfigkeit aus Regierungsraison – inzwischen offenbar weniger das religionskritische Erbe der 68er-Generation als eine zur Religion kongruente Polit-Esoterik, die sich mitunter gegenüber der Wissenschaft agnostizistisch bis antiautoritär versteht. Die SPÖ ist jedoch genauso am Holzweg. Sie fordert Ethikunterricht für alle. In ihrer eigenen tragischen Entwicklungsgeschichte gefangen, ist das nur konsequent und das logische Ergebnis selbstverschriebener Beschränktheit. Sie suggeriert, ein Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler wäre der liberale, laizistische Gegenpol zum reaktionären Katholizismus (und, ja, zum Islam bzw. Islamismus). Das könnte zwar bezüglich der einen oder anderen Facette passieren, ist aber in seinem Vulgärsäkularismus viel zu kurz gedacht. Die Sozialdemokratie übersieht geflissentlich die materielle Stellung und gesellschaftliche Funktion der Römisch-Katholischen Kirche in Österreich und setzt somit zwangsläufig auf die entwaffnete Kritik ideeller Windmühlen. Dieser Automatismus entspringt der falschen Vorstellung eines neutralen Staates und des zivilgesellschaftlichen Primats über die Hartnäckigkeit des Faktischen sowie natürlich dem Wunsch, Siege ohne Kämpfe zu erzielen – verbunden mit dem Irrglauben an einen überparteilichen, überkonfessionellen und v.a. klassenharmonischen Humanismus. Irgendwo in der weiten Ebene zwischen politischer Naivität, moralistischer Selbstgefälligkeit und angepasster Kapitulation ist der Sozialdemokratie – und der mit ihr verknüpften Gewerkschaftsaristokratie – der eigene Kompass verloren gegangen. Die blassrote Fahne weht nur noch in den Winden bürgerlicher Flatulenzen. Die sozialdemokratische Politikinszenierung ist Heroin fürs Volk.
Die Unsittlichkeit der Bourgeoisie
Die vorherrschende Ethik ist immer die Ethik der Herrschenden. Es kann gar nicht anders sein in einer gegebenen Klassengesellschaft. Ihr Absolutheitsanspruch und ihre Gültigkeit entspringen gerade der Klassenherrschaft und deren zweckmäßiger Aus- und Umformung. Die Klassengesellschaft stellt – historisch mit freundlicher Unterstützung verschiedener Varianten des Christentums – einen variablen Moralkodex auf, der v.a. einen Sinn hat: Die Perpetuierung der Produktions‑, Klassen- und Herrschaftsverhältnisse. In diesem Rahmen ist vieles möglich: antike und modernere Sklaverei, feudale Leibeigenschaft und schließlich kapitalistische Lohnsklaverei sowie allerlei Übergangsformen. Überkommenes wird prozessual durch Neues abgelöst, doch bleibt der Kern von Herrschaft und Ausbeutung, von Eigentum und Warencharakter bestimmend. Wer nichts hat, dem gibt man etwas – nämlich eine Rechtfertigung, warum das so ist, so sein muss und so bleiben wird. Und deshalb ist auch das Privateigentum heilig und unantastbar und bildet die eigentliche „ethische“ Grundlage des Kapitalismus. In dessen Klassenteilung gibt es gewissermaßen zwei Ethiken, eine für die Herrschenden, eine andere für die Beherrschten: Für die Kapitalistenklasse bedeutet dies insbesondere das Recht auf Privateigentum und Profitmacherei, aber auch alles Andere, was der angebliche „gesunde Menschenverstand“ garantieren möge: das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung, Gleichheit und Freiheit. Für die Arbeiterklasse hat der Kapitalismus eine andere Ethik parat: Gehorsam bis zur Unterwürfigkeit, Opferbereitschaft für die Sache des Kapitals, Genügsamkeit und Akzeptanz bestehender Verhältnisse. Auf subtilere Weise fördert sie Vereinzelung, Unsicherheit, Egoismus und Brutalisierung innerhalb der Klasse sowie nach nichtklassenmäßigen Kriterien. Auch dadurch – und es handelt sich um nichts als die reale Amoral der Bourgeoisie – wird die bürgerliche Herrschaft reproduziert.
Die Ethik der Revolution
Die revolutionäre Ethik der Arbeiterklasse ist demgegenüber abermals eine andere. Möchte man eine proletarische Ethik definieren, so kann sie im Kern nur eine Zielsetzung haben: Die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Von diesem Prinzip ist alles abzuleiten. Will man eine solche Ethik befördern, so ginge es um Interessen des Klassenkollektivs, um Solidarität und Kooperation, um Gerechtigkeitssinn und Widerstandsgeist, um gemeinschaftliches Handeln zur Beendigung von Ausbeutung und Fremdbestimmung. Es geht um antikapitalistisches und sozialistisches Bewusstsein als Voraussetzung dieses Handelns. Und die Aufhebung jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sowie jeder Klassenherrschaft ist letztlich wahre – Menschlichkeit. Auf dieser proletarischen Ethik baut wiederum die sozialistische und kommunistische Ethik auf, die es den Menschen ermöglichen wird zur entwickelten Form des tatsächlichen Menschseins in einer klassenlosen Gesellschaft aufzusteigen. Trotzdem ist eines auch klar: Der Weg dorthin erfolgt nicht über humanistische Appelle an die Herrschenden, sondern über den unversöhnlichen Klassenkampf gegen sie. Dabei darf man sich nicht in die moralischen und moralistischen Korsette zwängen lassen, die sie für die Arbeiterklasse zurechtgeschnitten haben, die sie selbst jedoch niemals anlegen würden. Deshalb gehört es zu den unbedingten Erfordernissen des ideologischen Klassenkampfes, die eigenständige proletarische, revolutionäre Ethik der Arbeiterklasse zu entwickeln, zu verbreiten, zu festigen und anzuwenden. Die bürgerlich-kapitalistische Zwangsethik hingegen können sich die Herrschenden gepflegt in den Arsch schieben – genauso wie ihren so genannten „Ethikunterricht“ an den Schulen, und zwar in jeder Form.