Ein Kurzkommentar zur gegenwärtigen politischen Situation
Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Der österreichische Politiker Carl Vaugoin (1873–1949) ist wahrscheinlich nur mehr Spezialisten der Geschichte der I. Republik bekannt. Und doch ist er eine charakteristische Figur für deren Weg in den Abgrund. Während des Ersten Weltkrieges fern der Front in Scheibbs beim Train beschäftigt, machte Vaugoin nach Kriegsende Karriere als christlichsozialer Politiker – im Wiener Stadtrat, im Parlament, als mehrmaliger Verteidigungsminister und Ende 1930 als Bundeskanzler. Querelen innert der Christlichsozialen Partei beendeten diese typisch österreichische Parlamentarierlaufbahn. Haben die Sozialdemokratie, die ihre revolutionären Ambitionen schon längst begraben hatte, und die Kommunistische Partei solche Leute wie Vaugoin ernst genommen?
Der österreichische Kommunist jüdischer Herkunft Bruno Frei (1897–1988) analysiert im ersten Oktoberheft 1930 (!) der Wochenschrift „Die Weltbühne“ unter dem Titel „Carl Vaugoin“ die gesellschaftspolitische Situation Österreichs um 1930, die der unseren mit ihren Herren Kurz, Nehammer oder Kogler doch sehr, sehr ähnlich ist. Bruno Frei schreibt also über Carl Vaugoin:
„Nichts wäre aber falscher, als diesen Mann nur von der spaßhaften Seite zu nehmen. Lange genug hat man sich an der politischen Wirklichkeit versündigt, indem man die Diktatoren und Diktaturskandidaten lächerlich machte. Es ist schwer, über Vaugoin oder Hitler nicht zu lachen, aber entscheidend ist nicht, was sie als Person sind, sondern welche Rolle ihnen von den anonymen Kräften der Geschichte gestellt wird. Der Augenblick ist gekennzeichnet durch die Verzweiflung des Bürgertums an der Demokratie. Das Bürgertum flüchtet in hellen Scharen zum Faschismus. Wo es keinen Diktator gibt, muss einer gefunden werden. Und es scheint sich, dass sich niemand dazu besser eignet als grade der wildgewordene Spießer. Der Kleinbürger als Repräsentant der großbürgerlichen Diktatur. […] Da die Christlich-soziale Partei allein keine Mehrheit hat, und sie bei Neuwahlen auch kaum erzielen wird, gibt es für die österreichischen Krise grundsätzlich nur zwei Lösungen: weiterwurschteln oder Kurs auf Diktatur. […] Es riecht verflucht nach Faschismus in Europa. Und warum soll Österreich immer ultima in orbe bleiben?“