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Auschwitz und die österreichische Gegenwart

Gastkommentar: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Der dem Jesuitenorden angehörende Befreiungstheologe Jon Sobrino SJ hat mit seinem Glauben an Jesus Christus und mit seinem Wissen von der Realität der Opfer auf die Frage, wie nach Auschwitz überhaupt Theologie zu betreiben ist, diese Antwort gegeben: „Wir Menschen sind in der Lage zu vergessen und wir sind fähig, alles zu verderben. Wir sind in der Lage, die Erinnerung an Auschwitz so zu nutzen, also ob es eine vergangene Angelegenheit sei, schrecklich zwar, aber vergangen – und damit können wir dann erklären, warum wir es nicht für notwendig halten, dass das aktuelle, das gegenwärtige, also unser Auschwitz im neuen Paradigma eine zentrale Bedeutung hat. Auschwitz war die Schande der Menschheit seit dem Mittelalter. Zentralamerika, Bosnien, Osttimor, die Region um die großen Seen in Afrika, der Hungertod und jetzt die Ausgrenzung von mehreren zehn Millionen Menschen sind die Schande der Menschheit in unseren Tagen.“ [1]

Anfang Oktober d. J. war die Staatsspitze unserer Republik in Begleitung des Präsidenten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde im faschistischen Konzentrationslager und Vernichtungszentrum in Auschwitz-Birkenau und hat dort eine österreichischen Länderausstellung eröffnet. Eine Verjährung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann es nicht geben. Vor allem ist notwendig, an Opfer und Täter zu erinnern, auf dass das Österreich der Gegenwart seine Lehren aus der Geschichte ziehe. Tut es das?

Bundespräsident Van der Bellen sagte aus Anlass seines Besuches: „Dem Andenken der Opfer des Holocaust werden wir nur gerecht, wenn wir dafür sorgen, dass Menschenverachtung, Sündenbockdenken und Gewalt niemals wieder als politisches Instrument eingesetzt werden. ‚Niemals wieder‘ bedeutet, dass wir uns jeglichem Versuch der Zerstörung des Rechtsstaates und der liberalen Demokratie entschieden entgegenstellen und die Grund- und Freiheitsrechte verteidigen. ‚Niemals wieder‘ bedeutet, sich den Versuchen nationalistischer Selbstüberhöhung entgegenzustellen und für ein gleichberechtigtes Miteinander einzutreten. ‚Niemals wieder‘ bedeutet aber vor allem: keine Toleranz gegenüber Rassismus, keine Toleranz gegenüber Antisemitismus. Denn: ‚Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren!‘“ [2]

Präsidiale Gedenkreden am „offenen Grab“ unterscheiden sich nur zu oft von der Praxis des politischen Alltages. In Österreich wird in der Gegenwart jede legitime Kritik an dem 1948 proklamierten Staat Israel als antisemitisch qualifiziert. Als Anschluss Österreichs an den zionistischen Staat Israel kann das Hissen der Fahne Israels am 14. Mai d. J. auf dem Bundeskanzleramt interpretiert werden. Der nach dem Aggressionskrieg Israels gegen die VAR, Syrien und Jordanien (1967) eroberte Gazastreifen ist nach Einschätzung des US-amerikanischen Intellektuellen Noam Chomksy „das größte Freiluftgefängnis der Welt“. [3]

Die Befreiungsbewegung der Palästinenser wird in Österreich ohne jeden Diskurs von der „freien“ Presse als Terrorbewegung kriminalisiert, so wie das die deutschen und österreichischen Faschisten mit mörderischen Konsequenzen gegenüber der deutschen und österreichischen Widerstandsbewegung praktiziert haben. Die israelische Geheimpolizei nimmt Palästinenser in „Administrativhaft“. Das erinnert an die am 1. März 1934 in Deutschland eingeführte Sprachregelung „Die Verhängung der Schutzhaft wird der Geheimen Staatspolizei vorbehalten“. „Schutzhäftlinge“ wurden in Konzentrationslager wie eben Auschwitz-Birkenau eingeliefert.

Seit einigen Tagen sind sechs Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen des Schreckens als „Administrativhäftlinge“ inhaftiert sind, in Hungerstreik getreten. Ihre Namen sind: Kayed Al-Fasoos, Miqdard Al-Quawasmeh, Ala’a Al-Araj, Hisham Abu Hawash, Rayeq Bisharat und Shadi Abu Aker. Diesen Häftlingen wird so wie dem am 5. Juli 2021 ohne Gerichtsverfahren in indischer Haft verstorbenen Jesuitenpater Stan Swamy SJ, der sich für die Befreiung der Unterdrückten eingesetzt hat, Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Diese Namen stehen für die ungezählten namenlosen Opfer der Herrschaft im Gazastreifen, wo seit 1967 etwa eine Millionen Palästinenser, darunter Frauen und Minderjährige, inhaftiert worden sind. [4]

Papst Franziskus hat auf einer internationalen Tagung der Internationalen Strafrechtsgesellschaft (15. November 2020) mit großer Sorge auf die gehäufte Anwendung der Schutzhaft (Administrativhaft) aufmerksam gemacht. Diese verletze das Prinzip, nach dem jeder Angeklagte als unschuldig gelten muss, bis eine endgültige Verurteilung über seine Schuldhaftigkeit entscheidet. Der Nationalstaat des jüdischen Volkes verletzt ganz offenkundig die Normen eines Rechtsstaates, weil er die Menschenrechte für die nichtjüdischen Menschen aussetzt. Österreich sollte sein historisches Zeremoniell überdenken.


[1] Jon Sobrino: Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Knut Wenzel. Übersetzt von Ludger Weckel. Matthias Grünewald Verlag Ostfildern 2008, S. 33, 

[2] „Es ist unser Wille und unsere Verpflichtung, die Erinnerung an die Opfer zu bewahren“: Bundespräsident (bundespraesident​.at) [6. Oktober 2021]

[3] Noam Chomsky: „Weil wir es so sagen“ – Texte gegen die amerikanische Weltherrschaft im 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Gregor Kneussel. Promedia Verlag 2015, S. 69–77.

[4] Presseaussendung der Vertretung des Staates Palästina und ständigen Vertretung bei den Internationalen Organisationen in Wien vom 5. Oktober 2021.

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