Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)
Hans Peter Doskozils Hauptargument, der beste SPÖ-Vorsitzende und Kanzlerkandidat zu sein, erschöpft sich im Wesentlichen in der Behauptung, nur er könne Wahlen gewinnen. Dies weiß man im Burgenland auch mit eigenen Umfragen zu belegen. Doskozil, so die mediale Dauerschleife, könne auch bisherige FPÖ- und ÖVP-Wähler erreichen, während Pamela Rendi-Wagner nur bei der sozialdemokratischen Stammwählerschaft gut ankäme. Und Andreas Babler ist so sehr ein echter Sozialdemokrat, dass er bestenfalls ein paar Stimmen aus dem Reservoir der Grünen oder der KPÖ hinzugewinnen könnte. Will also die SPÖ bei der nächsten Nationalratswahl bloße Stimmenmaximierung betreiben, so müsse man mit Doskozil in diese ziehen. Statisch betrachtet ist das vermutlich sogar zutreffend. Aber soll es wirklich (nur) darum gehen?
Ironischer Weise gehört die ausschließliche Wahlorientierung zu jenen historischen Facetten der Sozialdemokratie, die ihren politisch-ideologischen Niedergang begleiteten. Das hat an seiner Wurzel irgendwo mit Eduard Bernstein zu tun, markiert aber auch die konsequente Fortführung des „Austromarxismus“ der Zwischenkriegszeit. Dieser schrieb dem bürgerlich-demokratischen Staat einen neutralen Charakter zu, womit man in Bezug auf Marx und Engels eine schwere revisionistische Verfehlung beging. Im Linzer Programm der SDAP von 1926 heißt es: „Die Geschichte der demokratischen Republik ist die Geschichte der Klassenkämpfe zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse um die Herrschaft in der Republik.“ Diese Vergewaltigung des „Kommunistischen Manifests“ und des historischen Materialismus führt zur dummdreisten Strategie: Die Sozialdemokratie „erobert durch die Entscheidung des allgemeinen Wahlrechts die Staatsmacht. So werden in der demokratischen Republik die Klassenkämpfe zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse im Ringen der beiden Klassen um die Seele der Volksmehrheit entschieden.“
Nachdem die Sozialdemokratie von der Regierungsverantwortung und ihrer Rolle als nützlicher Idiot bei der gegenrevolutionären Rettung des Kapitalismus 1918–1920 entbunden wurde, landete sie unversehens in der Opposition. Das Kapital, vornehmlich vertreten durch den ÖVP-Vorläufer CSP, ging wieder in die Offensive und entdeckte den Faschismus für sich. Demgegenüber bliebt die SDAP bei ihrer Orientierung auf Stimmenmaximierung, um wieder an die Regierung zu kommen. Und um den revolutionär gesinnten Teil der Arbeiterschaft bei der Stange zu halten, versprach man sogar: 50 Prozent und eine Stimme, dann führt die Sozialdemokratie (mit bürgerlich-parlamentarischen Mitteln) den Sozialismus ein. Das war natürlich damals schon Unsinn, hat aber bezüglich der Nationalratswahloptimierung geklappt: Von 1920 bis 1930 steigerte sich die SDAP von 35,9 Prozent der Stimmen auf 41,1 Prozent.
Als Kampfpartei der Arbeiterklasse hatte sich die SDAP jedoch gleichzeitig entwaffnet. Während Renner, Seitz und Bauer bis zuletzt mit Dollfuß verhandeln wollten, wurde der Parteiführung der heroische antifaschistische Aufstandsversuch vom Februar 1934 von Teilen der revolutionären Basis aufgezwungen. Nach der Niederlage und der vollständigen Etablierung des Austrofaschismus kapitulierte die SDAP, während im Untergrund die Revolutionären Sozialisten und v.a. die KPÖ aktiv waren – letztere auch von 1938 bis 1945 als Hauptsäule des Widerstandes. Die 1945 „neu“ gegründete SPÖ hat aus alledem keine Lehren gezogen – zumindest nicht die richtigen.
Während in anderen Ländern Sozialisten und Kommunisten gemeinsam die Überwindung des Kapitalismus betrieben, verbündete sich die SPÖ mit der ÖVP gegen den Sozialismus (und gegen die KPÖ). Noch einmal rettete die österreichische Sozialdemokratie das Kapital, im Gegenzug bekam sie quasi paritätische Macht im Staat, gemeinsam mit der ÖVP, wobei zunächst letztere als Regierungspartei dominierte. Die Wende kam 1967 mit der Wahl Bruno Kreiskys zum SPÖ-Vorsitzenden, was für die Partei einen weiteren ideologischen Rechtsruck bedeutete. Kreisky kam mit Hilfe und unter Beteiligung von (ehemaligen) Nazis an die Regierung und begann ein soziales und gesellschaftliches Reformprogramm, das bis heute von „Linken“ in der SPÖ missverstanden wird: Keynesianismus zielt nicht vorrangig darauf ab, die Arbeiterklasse zu fördern, sondern darauf, den Kapitalismus zu stabilisieren. Auf diese Weise war die SPÖ die tragende soziale Säule der kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, die „Sozialpartnerschaft“ ersetzte endgültig den Klassenkampf, die Illusion einer „sozialen Demokratie“ den Sozialismus. Ab spätestens 1986 gab es unter SPÖ-Kanzlerschaft neoliberale Konterreformen, Privatisierungen und den Abbau des Sozialsystems.
Vor diesem Hintergrund waren und sind es Nuancen, ob die SPÖ oder die ÖVP den Bundeskanzler stellt – beide sind bürgerliche Parteien der Kapitalismusverwaltung. Die Idee des Zwei-Parteien-Systems nach US-amerikanischem Vorbild wurde schließlich durch die FPÖ durchkreuzt: Sie kassierte die früheren SPÖ-Wähler aus der Arbeiterschaft und der Unterprivilegierten ab, die von der Sozialdemokratie verraten und im Stich gelassen wurden. Seither stellt sich die Frage, wie wieder eine Mehrheit für die SPÖ oder zumindest ein besserer Stimmenanteil erreicht werden kann. Und dies ist der Punkt, an dem wir immer noch und gegenwärtig akut stehen.
Doskozil verspricht die Stimmenmaximierung, indem er bewusst und gezielt im FPÖ-Reservoir fischt. Gleichzeitig bedeutet das unweigerlich, dass man sich in wichtigen Fragen inhaltlich der FPÖ annähert, denn die Behauptung lautet: In Österreich können Wahlen nur rechts der Mitte gewonnen werden, weswegen die SPÖ sich dorthin bewegen muss. SPD-Ikone Willy Brandt wird das Zitat zugeschrieben: „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Ob dieser Ausspruch Doskozil bekannt ist, bleibt offen, jedenfalls ist es ihm egal. Er will mit „rechten“ Stimmen an die Macht, um dann ein z.T. halbwegs keynesianistisches Programm durchzuziehen, das jedoch mehr auf Almosen als sozialen Rechten beruht.
Doch es ist eben falsch, dass Wahlen nur rechts der Mitte gewonnen werden können. Stand heute mag dies stimmen, doch die Verhältnisse kann man ändern, wenn man es darauf anlegt. Das tut Doskozil nicht, und Rendi-Wagner übrigens auch nicht. Früher wusste man in der Sozialdemokratie noch, dass es um die Aufklärung (und Mobilisierung wie Organisierung) der Massen geht, nicht um deren Abholung an einem unverrückbaren Standort und um deren Instrumentalisierung für Machtinteressen. Von linker Seite müsste man sich dem Kampf um die dynamische kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft stellen, um eben nicht das Herz am rechten Fleck, sondern die Köpfe der Menschen zu gewinnen. Natürlich gibt es in Österreich eine potenzielle Mehrheit für eine „linke Politik“, denn die große Mehrheit der Bevölkerung stellen lohnabhängige Arbeiterinnen und Arbeiter sowie unterprivilegierte Volksschichten. Das hat Babler noch am ehesten verstanden. Auch die Tatsache, dass dies kein Sprint, sondern ein Marathon ist, womit einzukalkulieren wäre, dass die nächste Nationalratswahl vermutlich noch nicht gewonnen wird. Eine Sozialdemokratie, die wenigstens dies versucht, wäre zumindest nicht gänzlich nutzlos für die Arbeiterklasse. Das spricht theoretisch für Babler – aber eben nicht für die SPÖ.
Aber der Zug ist ohnedies längst abgefahren. Der SPÖ-Machtapparat und seine Eliten – auch wenn sie momentan im Clinch liegen – sind sich einig in der teilhabenden Einzementierung der Partei im staatsmonopolistischen Herrschafts- und Ausbeutungssystem, in der „Sozialpartnerschaft“ zugunsten des Kapitals und zuungunsten der Arbeiterklasse, in der Demokratie- und Partizipationsillusion des bürgerlichen Scheinparlamentarismus mit Regierungsgesetzgebung. Daher werden die SPÖ-Eliten jemanden wie Babler, der ein ehrlicher und traditioneller Sozialdemokrat sein möchte, mit allen Mitteln verhindern. Und wenn sie ihn nicht verhindern können, weil sie ihre eigene Parteibasis nicht mehr unter Kontrolle haben, dann werden sie Babler boykottieren und sabotieren. Er wird sich anpassen müssen – oder scheitern. Der (Rück-)Weg zu einer auch nur einigermaßen ernsthaft sozialreformistischen SPÖ ist schon seit Jahrzehnten verstellt. Wer das nicht versteht, hängt Illusionen an.
Das, wo Babler oder zumindest einige seiner Unterstützer hinwollen, gibt es bereits in Österreich, nämlich in Form der KPÖ Graz – und die hat gezeigt, dass sie Wahlen gewinnen kann. Unter einer KPÖ-Bürgermeisterin gibt es trotz des (auch von der SPÖ) dekretierten Antikommunismus in der steirischen Landeshauptstadt, die schon ganz andere Mehrheiten erlebt hat, nun eine Mehrheit, die vielleicht nicht links der Mitte, aber irgendwie mitte-links ist. Die KPÖ hat den Kampf um die kulturelle Hegemonie in Graz für sich entschieden. Trotzdem ist das weniger sensationell, als es auf den ersten Blick wirkt, denn mit dem Gespenst des Marxismus-Leninismus und der proletarischen Revolution haben die Grazer „Kommunisten“ natürlich nichts am Steirerhut. In einer Farce zur historischen Tragödie der Sozialdemokratie haben auch große Teile der kommunistischen Bewegung einen ideologischen Niedergang erlebt. Ausgehend vom „Eurokommunismus“ haben sich viele kommunistische Parteien sozialdemokratisiert, die KPÖ ebenfalls, wenngleich erst später. Die KPÖ (Steiermark) ist heute „die bessere Sozialdemokratie“ – es wird sich zeigen, ob sie auch auf Bundesebene bei Wahlen zur Ersatzsozialdemokratie aufsteigen kann. Das ist bis zu einem gewissen Grad vorübergehend denkbar, aber auch die KPÖ wird früher oder später von der Realpolitik der Kapitalismusverwaltung eingeholt werden. Das gilt auch für Graz, wo man der bedingungslosen Wahlorientierung alles untergeordnet hat. Am Beispiel der SPÖ sieht man, wohin dies führt.
Aber das nur Rande. Der Kampf um Mehrheiten ist wichtig, aber nicht dafür, dass Rendi-Wagner, Doskozil oder womöglich gar Babler ins Bundeskanzleramt einziehen. Es braucht eine fortgeschrittene Mehrheit in der Arbeiterklasse, die mit sozialistischem Bewusstsein ausgestattet ist, um mit ihr den Klassenkampf für den Sozialismus zu führen. Das ist nicht die Sache der SPÖ (und auch nicht der KPÖ), denn beide wollen die Massen nicht aufklären, mobilisieren und organisieren, damit sie selbst für ihre Interessen kämpfen. Sie wollen nur ihre Stimmen, um an die Macht zu kommen (SPÖ) und bestenfalls Stellvertreterpolitik (KPÖ) zu betreiben. Ein Blick ins marxistische Hainfelder Programm genügt, um zu wissen, dass das nicht nur nicht genügt, sondern in dieser Form sogar kontraproduktiv ist. Man kann Rendi-Wagner und Doskozil nachsehen, dass sie das nicht wissen. Babler weiß es vermutlich noch, aber es wird ihm auch nichts nützen.
In der bürgerlichen Demokratie müssen Wahlkämpfe Teil des ideologischen Klassenkampfes für den Sozialismus sein, und etwaige Mandate in Vertretungskörpern müssen Tribünen dieses Kampfes sein. Prinzipienlose Stimmenmaximierung als Selbstzweck dient hingegen unweigerlich der Absicherung der herrschenden Verhältnisse – ebenso wie Illusionen in eine soziale Kapitalismusverwaltung von „links“.